Freken aus der Wehrkirch von Dersch / Darjiu / Székelyderzs
Rumänien,  Unterwegs

Dersch / Dârjiu – UNESCO-Weltkulturerbe im Szeklerland


Nachdem sich meine Kirchenburgen-Rundreise mit den Besuchen von Wurmloch, Birthälm und Kelling bisher überwiegend im westlichen Landstrichs Siebenbürgens abgespielt hat, geht es heute Richtung Osten ins Szeklerland. In den Landkreis Harghita. Nach Dersch (ung. Székelyderzs), um genau zu sein. 

Szeklerland ist Neuland für mich. Ein unbeschriebenes Blatt, von dem ich nicht mehr weiß, als dass es im Osten Siebenbürgens liegt und sich hauptsächlich über die Kreise Harghita, Covasna sowie die Mitte des Mureş erstreckt.

Wo die Minderheit eine Mehrheit ist

Als ich mein Etappenziel unter der deutschsprachigen Ortsbezeichnung Dersch in das GPS eingebe, findet sich kein Eintrag. Ich bin ein wenig erstaunt, aber nicht beunruhigt. Also probiere ich es eben unter dem rumänischen Namen Dârjiu. Das klappt eigentlich immer, so auch in diesem Fall. Am Dorfeingang empfängt mich dann allerdings ein Ortsschild, auf dem zuoberst der Name Székelyderzs prangt. Jetzt weiß ich mit Sicherheit, ich bin in Harghita und damit im Land der Szekler angekommen.

Hier, am Rande der Ostkarpaten, bildet die ungarisch-sprachige Minderheit eine überwältigende Mehrheit. 85% der Bewohner dieses Landkreises bezeichnen sich als Ungarn bzw. székelyek (rum. secuii). Mancherorts kann man sich deshalb nur auf Ungarisch oder alternativ mit Händen und Füßen verständigen, denn der Székler-Dialekt weist vage türkische Spracheinflüsse auf. Die rumänische Sprache spielt in dieser Region nur die zweite Geige. Manchmal darf sie auch gar nicht im ungarischen Enklaven-Orchester mitspielen.

Doch wer oder was sind diese Szekler genau?

Ihr Name stammt vom ungarischen Wort szék (= Stuhl) ab. Die Szekler, waren, ebenso wie ihre Siebenbürger Nachbarn, die Sachsen, in sogenannten Stühlen als regionale Verwaltungseinheiten organisiert.
Ansonsten existieren über ihre Herkunft nur wenige gesicherte Dokumente. Historisch verbürgt ist, dass sie ab dem 10. Jahrhundert von den ungarischen Monarchen im Osten Siebenbürgens als Grenzwächter zum Schutz gegen die Dauer-Invasionen der Mongolen, Tataren, Türken und Kumanen eingesetzt wurden. Als Gegenleistung für ihre kriegerischen Dienste erhielten sie das Recht auf Selbstverwaltung und genossen absolute Steuerfreiheit.

Ferner kursieren annähernd so viele Hypothesen über ihre ethnische Herkunft, wie es Rezepte für den Kürtőskalács, die berühmte Süßspeise der Szekler, gibt. Von Wolgabulgaren, Kiptschaken, Baschkiren, Petschenegen, Awaren und Gepiden ist unter den Ethnologen die Rede. Die Szekler selbst vertreten allerdings eine ganz andere Auffassung.

Prinz Csaba ein Geschenk des Himmels

Prinz Csaba und die Ritter der Milchstrasse

Ki tudja merre, merre visz a végzet,
Göröngyös úton, sötét éjjelen,
Vezesd még egyszer győzelemre néped,
Csaba királyfi, csillagösvényen.

Wer weiß, wohin das Schicksal führt,
Auf holpriger Straße, in einer dunklen Nacht,
Führe dein Volk noch einmal zum Sieg,
Prinz Csaba auf dem Sternenweg.

Die Hymne der Szekler huldigt Prinz Csaba, dem jüngsten Sohn des Hunnenkönigs Attila. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 453, entbrannte zwischen Csaba und seinem Halbbruder Aladár ein Bruderzwist um die Vorherrschaft im Hunnenreich. Erbitterte Kämpfe wurden geführt, erbarmungslose Schlachten geschlagen. Am Ende gingen die übermächtigen Truppen Aladárs als Sieger hervor. Csaba floh nach Skythien in die Heimat seines Vaters, während er 3000 ihm treu ergebene Kämpfer auf dem Campo Csigla mit dem Versprechen zurückließ, eines Tages wiederzukommen und ihnen beizustehen. Seine Gefolgsleute ließen sich an Ort und Stelle nieder, gründeten Familien und nannten sich fortan Szekler.

Monate vergingen, Jahre zogen ins Land, doch Csaba wurde nicht mehr gesehen. Trotzdem war er nicht vergessen, zumal das östliche Siebenbürgen weiterhin zum beliebten Angriffsziel von Tataren und Türken zählte. Als die feindliche Übermacht zum letzten, vernichtenden Schlag ausholte, forderten die völlig verzweifelten Szekler das Versprechen ihres Prinzen ein. Und, siehe da, das Wunder geschah. Prinz Csaba zog mit seiner Streitmacht vom sternenbedeckten Himmelszelt hinab, um die Angreifer in die Flucht zu schlagen.

In den kommenden Jahrhunderten sollte sich dieses Ereignis noch dreimal wiederholen. Danach verschwand Csaba mit seinen tapferen Kriegern für immer in den unendlichen Weiten der Milchstraße. Geblieben sind allerdings die Szekler, ihr Wappen mit der goldenen Sonne sowie dem silbernen Mond am blauen Himmel und, nicht zu vergessen, der beliebte ungarische Name Csaba, „das Geschenk des Himmels“.

Riesenweiß

Doch zurück zu den Tatsachen. Aus dem multikulturellen Steppen- und Reitervolk entwickelte sich über die Jahrhunderte ein kulturell eigenständiger, ungarisch-sprachiger Volksstamm. Deshalb zählten die Szekler, neben den Sachsen und dem ungarischen Adel, im ausgehenden Mittelalter sogar zu den konstituierenden Ständen Siebenbürgens. Während in der Folgezeit das Szeklerterritorium, je nach politischen Rahmenbedingungen, zwischen Ungarn und Rumänien hin und her pendelte, werden seit mehreren Jahren die separatistischen Stimmen nach einer Autonomen Ungarischen Region innerhalb Rumäniens immer lauter.

Inzwischen habe ich die Ortsmitte und damit die Kirchenburg erreicht. Sie könnte einer Werbekampagne für weiße Farbe entsprungen sein. Weißer als der weiße Riese. Riesenweiß. Mauerring und Kirchturm strahlen mit den roten Dachschindeln um die Wette. Soviel Glanz bin ich von anderen Kirchenburgen, wenn ich zum Beispiel an Petersberg und Holzmengen denke, nicht gewohnt.
Ich frage mich, ob das Weiß nachts fluoresziert? Quasi als Orientierungshilfe für Prinz Casba. Nur für den Fall der Fälle, dass er im Kampf für die Sache der Szekler zu Hilfe gerufen werden muss?

Die Kirchenburg von Dersch / Darjiu / Székelyderzs

Vor der weißgetünchten Fassade verspricht mir die deutsche Übersetzung auf der Infotafel eine „Unitarische Burgkirche“. Während ich den Ausdruck Burgkirche als Übersetzungsfehler überlese, macht mich das Wort „unitarisch“ neugierig. Also muss, dank 4G-Netzabdeckung im Niemandsland, eine Dr. Google Blitzkonsultation meine Wissenslücke stopfen.

Es kann nur Einen geben

Mit diesem Motto könnte man das Credo der Unitarier auf den Punkt bringen. Die Glaubensrichtung, die sich während der Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts herausbildete, lehnt die These der Dreifaltigkeit kategorisch ab. Für sie existiert kein himmlisches Triumvirat. Weder Jesus Christus als sterblicher Prophet, noch der Heilige Geist als immaterielles Wesen werden als göttliche Geschöpfe anerkannt. Gott alleine, Gott ist EinerUnus est Deus, ist ihnen genug. Trotz dieses strikten Dogma sind die Unitarier ansonsten für ihre liberale Glaubenseinstellung bekannt. Nicht die religiösen Lehren bestimmen ihr Handeln, sondern das christliche Gewissen. Ein ethischer Ansatz, der unter der ungarisch-sprachigen Bevölkerung in Siebenbürgen immer noch zahlreiche Anhänger findet.

Nachdem ich mit den Szeklern als auch den Unitariern meine Allgemeinbildung aufpoliert habe , gibt es endlich praktischen Anschauungsunterricht in Sachen UNESCO-Weltkulturerbe.

Suedfassade der Wehrkirche von Dersch / Darjiu

Hinter dem schweren, mit Eisen beschlagenen Holztor setzt sich der tadellos restaurierte Außeneindruck nahtlos fort. Lediglich der Eingangsbereich, eine Open-Air-Theke mit weißer Papiertischdecke, Geldkassette und Empfangsdame dahinter, gleicht einer Spontan-Improvisation. Meine Nachfrage nach einer Informationsbroschüre oder einem Flyer wird kopfschüttelnd verneint. Schließlich sei das sehenswerte Inventar viersprachig beschriftet, bekomme ich mitgeteilt. Damit hat sich die Auskunftsfreudigkeit der Aufsicht führenden Dame erschöpft. Oder die Schnittmenge unserer Fremdsprachenkenntnisse. Schade.

Ein Streifzug durch die (Kirchen-) Geschichte von Dersch

Die gotische Saalkirche entstand im frühen 14. Jahrhundert auf einem romanischen Vorgängerbau. Unter dem Ortsnamen „De ers“ fand die katholische Gemeinde 1334 im Register des päpstlichen Zehnten erstmals Erwähnung. Geweiht wurde die Kirche dem Heiligen Ladislaus I., König von Ungarn, der sich erfolgreich für die Verbreitung des Christentums in seinem Machtbereich eingesetzt hatte. Im 15. Jahrhundert beschlossen die Szekler ihren seelischen Zufluchtsort wehrbar zu machen, um den anhaltenden Osmaneneinfällen nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Zu diesem Zweck wurde das Kirchenschiff um ein Wehrgeschoss mit Schlüsselschießscharten und Maschikulis aufgestockt. Den separat stehenden Glockenturm baute man zum Torturm um und integrierte ihn in die umlaufende Wehrmauer.

Nordfassade der Wehrkirche von Dersch / Darjiu
Grimassen schneidende Konsolenfigur in der Wehrkirche von Dersch / Darjiu

Die reiche, ortsansässige Familie Petky, deren Grabsteine übrigens im Arkadengang des Mauerrings ausgestellt sind, stellte die notwendigen finanziellen Mittel für eine Erweiterung des Chorraums bereit. Seither überspannt die polygonale Apsis im Osten ein Netzgewölbe, dessen Konsolen gar wunderliche Verzierungen aufweisen. Wem die beiden Grimassenschneider wohl die Zunge herausstrecken?

Grimassen schneidende Konsolenfigur in der Wehrkirche von Dersch / Darjiu

Zwischen 1565 und 1585 gab es die nächste Veränderung. Alles Katholische wurde entfernt und der unitarische Glaube im Gotteshaus etabliert. 

Während die Kirchenburg von Dersch den Türken standhielt, erwies sie sich dem Angriff der Söldnertruppe des gefürchteten Statthalters von Siebenbürgen, Giorgio Basta nicht gewachsen. 1605 legte der General bei seinem Durchmarsch durch Dersch große Teile der Wehranlagen und des Gotteshauses in Schutt und Asche. Kaum wieder instand gesetzt, gab der nächste Unhold, Pasha Mehmed Köprülü, der ein habgieriges Auge auf Transsilvanien geworfen hatte, sein zerstörerisches Stelldichein.

Hart im Nehmen, bauten die Szekler ihre Kirchenburg ein weiteres Mal auf. Dank guter Pflege und umfassenden Restaurierungs- und Schönheitsreparaturen in den letzten Jahrzehnten, konnte die Wehrkirche 1999 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen werden.

Ein Traum in Himmelblau

Das Kirchenmobiliar ist eine Komposition in Himmelblau. Von den Kirchenbänken, über die Orgelempore bis zum Chorgestühl und dem Schalldeckel der Kanzel, alles ist in einen babyblauen Zuckerguss gehüllt. Selbst der Teppich im Chorraum, sowie die großformatigen Stickereien, die die Wände und Bänke zieren, folgen dem farblichen Credo.

Innenansicht der Wehrkirche von Dersch / Darjiu

Perfekt passen sich die wertvollen gotischen Wandmalereien auf den beiden Längsseiten der einschiffigen Kirche dem Farbschema der Inneneinrichtung an. Erst 1887, im Zuge von Instandsetzungsarbeiten, entdeckte man die die zum Teil erstaunlich gut erhaltenen Fresken aus dem frühen 15. Jahrhundert. Während der Reformation hatten die Dorfbewohner sie dann unter Tonnen von weißer Farbe verschwinden lassen. Weder die evangelische Kirche hatte Verwendung für katholische Heilige aus vorreformatorischer Zeit, noch die Unitarier, die ausschließlich Gott huldig(t)en.

Zum Glück weiß man heutzutage den künstlerischen und kulturhistorischen Wert der gotischen Fresken, unabhängig von ihrer religiösen Herkunft oder Aussage, zu schätzen. So gut es ging, legte ein Expertenteam inzwischen große Teile davon frei. An manchen Stellen sind sie jedoch für immer verloren oder durch nachträgliche Einbauten, wie die Westempore im 18. Jahrhundert, unwiederbringlich zerstört.

Vom Saulus zum Paulus

Direkt neben dem Seiteneingang, sozusagen als thematisch passende Einführung zum Gottesdienst, lässt die erste Bildsequenz des großflächigen Bilderteppichs die Gläubigen hautnah die Bekehrung des Apostels Paulus miterleben.

Fresko die Bekehrung des Paulus in Kirchenburg Dersch

Der fanatische Christenverfolger Saulus erhält den Befehl sich nach Damaskus zu begeben, um dort nach verstreuten Anhängern Jesu zu fahnden und diese zu verhaften. Begleitet von einer berittenen Eskorte, wird er kurz vor der Stadt von einer himmlischen Erscheinung aufgehalten, die sich als der Auferstandene zu erkennen gibt. Daraufhin erblindet Saulus, wird aber wenige Tage später von Ananias, einem Jünger Jesu, wieder geheilt. Dieses Lichterlebnis bekehrt den reuigen Saulus. Er lässt sich taufen, und wird als Paulus von Tarsus zum weit gereisten Missionar und Völkerapostel.

Die von den Soldaten mitgeführte Standarte gibt Auskunft über den Meister und das Entstehungsdatum der Fresken:  Magister Paul, Sohn des István Ungi, 1419. Kunstkenner gehen sogar davon aus, dass sich der Künstler als berittener Soldat selbst porträtiert hat. Während alle anderen Personen sich ganz auf das wundersame Geschehen konzentrieren, sucht der mittlere Reitersmann den Blickkontakt zur Außenwelt.

Gewogen und für zu leicht befunden

Direkt neben dem bekehrten Musterapostel an der Südwand, waltet der Erzengel Michael seines Amtes.

Fresko des Erzengels Michaels mit Seelenwaage in Kirchenburg Dersch

Das Böse, alias, Satan, alias Drachenungeheuer liegt von der Glaubenslanze durchbohrt zu Füßen des Heiligen in reinweißer Rüstung. In der Hand hält der Heilige Michael die berüchtigte Seelenwaage, mit der er die guten Taten jedes Menschen wiegt. Werden diese als zu leicht befunden, führt der Weg in die Hölle.

In der linken, sich tief nach unten neigenden Waagschale sitzt eine halbnackte Frauenfigur. Die gute, christliche Seele ist dem Himmelreich bereits sehr nahe. Sie hat viel Ähnlichkeit mit der Frauenfigur, die in der Armbeugen des Heiligen Michael zum Dankesgebet die Hände gefaltet hat. 

Detail des Freskos des Erzengels Michael in Kirchenburg Dersch

Doch die Ausgestaltungen des Teufels sind nicht fern. Hässliche, haarige Dämonen mit Rattenschwänzen, spitzen Hakennasen und zu Berge stehenden Haaren haben sich die tumbe Menschengestalt mit den Eselsohren in der rechten Waagschale schon geschnappt.
Doch jetzt wollen sich die beiden satanischen Geschöpfe auch noch die gute Seele holen. Dazu müssen sie den Heiligen Michael bzw. die göttliche Gerechtigkeit austricksen. Um ihrem teuflischen Vorhaben ausreichend Gewicht zu verleihen, hat sich der rote Teufel sogar einen Mühlstein umgebunden. Dennoch gelingt es ihnen nicht, die Waagschale zu ihren Gunsten ausschlagen zu lassen.

Mühlsteine sind vielseitig einsetzbar

Detail des Freskos der Heilige Michael toetet den Drachen

Zwar keinen teuflischen, sondern vielmehr einen erzieherischen Verwendungszweck könnte ich mir persönlich für ausgediente Mühlsteine vorstellen.
Ganz speziell für alle Schmierfinken, die den Drang haben, sich hemmungslos auf wertvollen Kultur- oder Naturgütern zu verewigen. Offensichtlich war diese barbarische Unsitte schon lange vor unserer Zeit verbreitet, denn die Jahrhunderte alten Gravuren auf dem Fresko des Heiligen Michael beginnen mit dem lateinischen „hic fuit“ (hier war…). Pilger sollen es gewesen sein, die sich hier ein bleibendes Denkmal setzten.

Detail des Freskos des Erzengels Michael in Kirchenburg Dersch

Aber mal ehrlich, wen interessiert in unserem kurzen irdischen Dasein wer, wo, wann war? Geschweige denn in einhundert, eintausend oder einer Million Jahren, wenn die Erde vermutlich eh nur noch Sternenstaub ist? Was motiviert uns Menschen also dazu, Kunstwerke, Mammutbäume oder historische Stätten zu zerstören? Können wir nicht mehr im Stillen genießen? Geht es nur noch um Außendarstellung? Müssen wir unserem Sein einen Schein verleihen, um unsere Eitelkeit zu befriedigen?

So, jetzt habe ich meinem schon länger schwelenden Unmut Luft gemacht. Jetzt kann ich an der schattigen Nordwand des Kirchenschiffes mein erhitztes Gemüt weiter abkühlen.

Eine mittelalterliche Graphic Novel

König Ladislaus I. von Ungarn (1048 – 1095) ist der Protagonist des oberen, farbenfrohen Freskenbandes an der nördlichen Wand. Erzählt wird die populäre Legende der Errettung einer entführten Maid aus den Händen eines wilden Kumanen.

Im ersten sichtbaren Bildausschnitt (es gibt zwei weitere, die durch die unzugängliche Empore von neugierigen Blicken abgeschnitten sind) nimmt der Heilige Ladislaus auf einem himmelblauen Pferd mit nach vorne gerichteter Lanze die Verfolgung des Steppenreiters auf. Die Pfeile des Kumanen fliegen ihm um die Ohren, verfehlen jedoch ihr Ziel, da das Mädchen beherzt in den Bogen greift, um die Flugbahn der todbringenden Geschosse abzulenken. Der Entführer gibt seinem Pferd die Sporen und droht zu entkommen. Deshalb befiehlt der König dem Mädchen, das Pferd beim Zaum zu packen, um sich und den Barbaren abzuwerfen.

Detail des Freskos Heiliger Ladislaus und der Kumane Kirchenburg Dersch

Nächste Szene:
Das Gute – der Held in weißer Rüstung – und das Böse – der Feind in dunklem Gewand – stehen sich gegenüber. Der König packt das Böse bei der Gurgel, aus dessen Mund Höllenflammen züngeln. Die Maid im roten Gewand eilt ihrem Retter zu Hilfe, schleicht sich heimtückisch heimlich von hinten an den Kumanen heran und durchtrennt mit einer Hellebarde dessen Achillessehne. Das Blut spritzt in alle Richtungen.

Detail des Freskos Heiliger Ladislaus und der Kumane Kirchenburg Dersch

In der folgenden Momentaufnahme geht der Feind kampfunfähig zu Boden. König Ladislaus packt ihn an seinem langen, geflochten Haarschopf, so dass es dem Mädchen ein Leichtes ist, ohne mit der Wimper zu zucken, dem Bösewicht mit der Hellebarde den Kopf abzutrennen.
Zu guter Letzt erholt sich der König von den Strapazen des Gefechts. Er hat seine Krone abgelegt und sich ausgestreckt, um ein wenig Ruhe zu finden. Das Mädchen streicht ihrem Retter liebevoll über die Haare, während im Hintergrund der abgetrennte und auf eine Lanze aufgespießte Kopf des Kumanen auszumachen ist.

Noch mehr Blut

Unterhalb der Ladislaus-Legende müssen sich früher weitere barbarische Szenen abgespielt haben, doch ihre Freilegung bzw. Rekonstruktion steht noch in den Sternen. Aktuell ist nur ein verschwindend kleiner Teil zum Vorschein gebracht worden, sodass sich die dargestellten Themen nur mit viel Spekulation in einen religiösen Zusammenhang setzen lassen. Einzig das hinter der Westempore freigelegte Freskenfragment wurde relativ sicher der Legende der 10.000 Märtyrer zugeordnet. Eine Legende, die im Mittelalter durch die Kreuzzüge bereits weit gereist war, und im 15. Jahrhundert eine europaweite Renaissance erlebte.

Achatius von Armenien, ein getreuer Befehlshaber des römischen Kaisers Hadrian, wurde mit einem Heer von 9.000 Mann nach Armenien befohlen, um das Land zu befrieden. Allerdings hatte er gegen die Übermacht der Aufständischen keine Chance. Kurz bevor der Gegner zum vernichtenden Schlag ausholte, erschien Achatius‘ eine Schar von Engeln. Sie versprachen ihm den Sieg, wenn sich seine Soldaten geschlossen zum Christentum bekehren würden. So gewann Achatius zwar die Schlacht für seinen Kaiser, doch als dieser von der Konvertierung seiner Gefolgsleute erfuhr, geriet er außer sich vor Wut. Der Glaubenswechsel seiner Untertanen war für Hadrian schlimmer als eine verloren Schlacht.

Um den Dolchstoß zu rächen, schickte der römische Regent den neu getauften Christen ein Heer von skrupellosen Häschern hinterher. Auch von ihnen wechselten 1.000 Mann die Glaubensseite. Trotzdem hatten die nunmehr 10.000 Christen keine Chance gegen die Barbaren. Sie wurden allesamt gefangen genommen und dem Kaiser vorgeführt. Da trotz Folter keiner von ihnen gewillt war, dem christlichen Glauben abzuschwören, ließ Hadrian die 10.000 Mann umbringen.

Angesichts der plastischen Darstellung der gefesselten und von riesigen Dornen durchbohrten Menschen bin ich froh, dass bisher nur das letzte Martyrium freigelegt wurde, und mir die anderen grausamen Folterszenen erspart bleiben. Genug der blutigen Geschichten. Ich muss dringend an die frische Luft.

Die Speckfestung oder mittwochs, wenn die Glocken läuten

Ein fünf Meter hoher, rechteckiger Mauerring mit vier vorgelagerten Ecktürmen, sowie einer Bastion im Südwesten umgibt die solide Wehrkirche. Unter den tief gezogenen Pultdächern auf der Innenseite des Berings befanden sich die Zufluchtsräume der Szekler-Familien und ihr wertvollstes Gut, die monströsen Getreidekästen. Diese Familienerbstücke durften nie veräußert werden. Und so rieselt aus der ein oder anderen Kiste noch heute das Korn.

Speck in der Kirchenburg Darjiu / Székelyderzs

Gleiches galt für die in den vier Ecktürmen gehorteten „Schweinereien“. Der Proviant für Not- und Belagerungszeiten. Aufgrund der dicken Wände garantierten die Bastionen konstant ideale Temperaturen zur Aufbewahrung von Speck, Würsten oder Räucherfleisch. Jede Familie nannte mindestens einen Haken ihr eigen, der von einer Generation auf die nächste überging. Je mehr Haken eine Familie besaß, desto wohlhabender war sie. Speck als Szekler-Statussymbol.

Die Tradition hat sich bis heute gehalten. Immer mittwochs, nach dem ersten Hahnenschrei, werden die Glocken geläutet. Das Zeichen für die Dorfbewohner, dass unter Aufsicht die Tore der Speckfestung geöffnet werden. Dann kann sich jeder von seinem Haken die benötigte Wochenration abschneiden. Anschließend werden die Türen bis zum nächsten Mittwoch wieder fest verschlossen.

Hard stuff“ statt Lesestoff

Ich habe mir viel Zeit genommen für die Besichtigung der Wehrkirche, als auch der unzähligen musealen Erinnerungsstücke, die innerhalb des Mauerrings anschaulich in Szene gesetzt sind. Gerätschaften zur Feldbearbeitung, Werkzeuge, Haushalts- und Küchenutensilien geben ebenso einen umfassenden Einblick in den Alltag der Szekler Dorfgemeinschaft des vergangenen Jahrhunderts, wie die schwarz-weiß Fotografien aus diversen Familienalben.

Auch die Empfangsdame hat die verstrichene Zeit effizient genutzt.
Anstelle von Postkarten oder anderweitigen informativen Printmedien zum UNESCO-Weltkulturerbe stapeln sich inzwischen Hand- und Hausgemachtes sowie Hochprozentiges auf dem provisorischen Kassentisch. Anstandshalber schenke ich den angepriesenen Objekten einen oberflächlichen Blick, wobei mich, angesichts der Preise, eine mittelschwere Schwindelattacke erfasst. Mit einem entschuldigenden Blick auf meine Uhr verabschiede ich mich höflich. Weg bin ich.
Schade, dass die Kirchenburg von Dersch ihr Potential als UNESCO-Weltkulturerbe nicht besser nutzt, um ein wenig mehr Werbung in eigener Sache zu machen.


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