Binnenhafen Enkhuizen
Niederlande,  Unterwegs

Enkhuizen – Historischer Stadtrundgang – Teil I


Es regnet Bindfäden. Ein herzlicher Willkommensgruß sieht anders aus. Trotzdem freue ich mich auf die Begegnung mit der westfriesischen Stadt Enkhuizen. Ich war schon einmal hier, zumindest beinahe. Es fehlten nicht einmal einhundert Meter und jede Menge Zeit. Das war vor einem halben Jahr. Der Außenbereich des Zuiderzeemuseums hatte mich einen ganzen Tag in seinen Bann gezogen, dass ich es gerade noch mit der letzten Fähre zurück zum Empfangsgebäude schaffte. Dann hieß es auch schon wieder den Nachhauseweg antreten. Die Erkundung der historischen Stadt musste also warten. Bis heute.

Enkhuizen – Die einstige Heringshauptstadt der Niederlande

Die offizielle Geschichtsschreibung der Hafenstadt in der Provinz Nordholland beginnt 1356. „Aus zwei mach‘ eine“, entschied Graf Wilhelm V. von Holland, fusionierte das Enkhuizer Fischerdorf mit der benachbarten Bauernsiedlung Gommerkarspel und verlieh dem zwangsverheirateten Konglomerat die Stadtrechte. 200 Jahre später machte die Ortschaft international von sich reden. Als erste Stadt Hollands stellte sich Enkhuizen 1572 geschlossen hinter den protestantischen Prinzen Wilhelm I. von Oranje und unterstützte ihn im Befreiungskampf gegen die spanischen Unterdrücker. Zum Dank für dieses Zeugnis der Loyalität erhielt die Gemeinde das Steuerrecht für alle Schiffe auf der Zuiderzee.

Ein guter Startschuss für eine über 100 Jahre andauernde Blütezeit, der mit der endgültigen Vertreibung der Spanier aus den nördlichen Niederlanden durch Maurits von Oranje, dem Sohn Wilhelms, nichts mehr im Wege stand.

Immer mehr Fischer übersiedelten aus südholländischen Gewässern nach Norden. Hier fühlten sie sich vor den Freibeutern, die mit offiziellem Kaperschein des Habsburgerkönigs unterwegs waren, relativ sicher. Binnen kurzer Zeit entwickelte sich Enkhuizen zur Metropole der Heringsfischerei. Da Geld häufig Geld anzieht und die Lage an der Zuiderzee logistisch optimale Möglichkeiten bot, eröffnete die Vereinigte Ostindische Kompagnie (VOC) 1603 eine regionale Niederlassung am Wierdijk. Bald folgte die Westindische Handelsgesellschaft (WIC). Der ökonomische Aufschwung nahm weiter Fahrt auf. Waren aus Ostindien und Westafrika stapelten sich in den Lagerhäusern, Arbeitsplätze und Neubauten schossen wie Pilze aus dem Boden. Die fünf Stadthäfen platzten aus allen Nähten. 1622 vermeldete Enkhuizen über zwanzigtausend Einwohner.

Stadtplan Enkhuizen aus "Blaeu's Tooneel der Steden", 1652
Enkhuizen aus „Blaeu’s Tooneel der Steden“, 1652

Zuiderzee ade und neue Perspektiven

Die Wende kam Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts. Die Heringsfischerei stagnierte, die Fangmethoden erwiesen sich als veraltet und nicht mehr konkurrenzfähig. Zu allem Unglück ging auch noch die VOC pleite und ein Großteil der Einwohner wanderte nach Amsterdam ab. In weniger als einem Jahrhundert war Enkhuizen auf eine 5000-Seelen-Gemeinde geschrumpft. Man entschloss sich, 1600 leer stehende Häuser zurückzubauen, um stattdessen die Weideflächen aufzustocken. Ein weiterer Nackenschlag erfolgte 1932. Der Bau des Afsluitdijk zur Trennung der Zuider- von der Nordsee brachte den Menschen der Küstenregion zwar Schutz vor unberechenbaren Sturmfluten, beraubte sie aber zugleich ihrer wichtigsten Einkommensgrundlage. Die Seefischerei war passé.

Blick auf Segelboote im Compagnieshaven von Enkhuizen

Rundgang durch das historische Enkhuizen

Mittlerweile hat sich die Kleinstadt von den Tiefschlägen erholt. Die Tourismusbranche sowie der Saatgutanbau und -handel bieten zukunftssichere Arbeitsplätze. Enkhuizen ist zu einem idyllischen Schatzkästchen zwischen Marker- und Ijsselmeer geworden. Wer einmal seinem Charme erlegen ist, kommt wieder. Kein Wunder bei 366 nationalen Denkmälern. Höchste Zeit also, mit der Erkundung der historischen Stadt loszulegen. Und da es so viel in Enkhuizen zu schauen und staunen gibt, habe ich den Rundgang in zwei „fuß- und mental-verdauliche“ Abschnitte aufgeteilt.

Stadtplan Enkhuizen
Mit einem Klick auf die jeweilige Überschrift könnt Ihr zwischen der Übersichtskarte und dem Text hin und her springen.

1. Staverse Poortje – Wierdijk / Compagniestraat

Staverse Poortje mit Heringswappen in der Enkhuizer Seemauer

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts begannen die Enkhuizer den Deich auf der Ostseite des Stadtzentrums mit einer Seemauer zu verstärken. Sie sollte eine feindliche Einnahme verhindern als auch die ständige Hochwasserbedrohung minimieren. Allerdings benötigte es nun noch einen Zugang zu den Anlegestelle der Schaluppen, die den Transport der Waren von den auf Reede liegenden VOC-Schiffen zur Stadt übernahmen. Als einzigen Durchbruch der zeemuur entstand deshalb 1615 das Staverse Poortje. Beim heutigen Tor mit dem kunstvoll geschwungenen Giebel und Stadtwappen handelt es sich allerdings um eine gut 200 Jahre jüngere Nachbildung. Das Original musste mangels regelmäßiger Instandhaltung abgerissen werden.

Dem fischlastigen Wappenschild von Enkhuizen begegne ich noch öfters in der Stadt. Die drei Heringe unterstrichen die existenzielle  Bedeutung der Heringsfischerei für die Stadt an der einstigen Zuiderzee. Dabei konnte sich das Speisefischtrio lange Zeit nicht entscheiden, ob sie mit oder gegen die Strömung schwimmen sollten. So gab es das Wappen mal in der Kopf- links-Schwanz rechts-Variante oder umgekehrt. Im 14. Jahrhundert tänzelten die Heringe sogar senkrecht auf der Schwanzflosse durch die städtischen Archive.

2. Het Peperhuis – Wierdijk 12

Einmal um 180 Grad gedreht und ich fühle mich ins Goldene Zeitalter zurückversetzt. Das Haus mit dem Zwillingstreppengiebel liest sich wie ein offenes Buch von Wohlstand, ökonomischem Pragmatismus und Gottvertrauen.

VOC-Haus in Enkhuizen mit Zwillingstreppengiebel

1612 gab der erfolgreiche Kaufmann Pieter van Berensteyn den imposanten Bau als Wohn-, Lager- und Bürogebäude in Auftrag. In den Rundbögen über den Fenstern im Obergeschoss ließ er sich, seine Frau und seine vier Kinder als Reliefbüsten abbilden. Darunter verewigte er sein Berufsmotto „De kost gaet voor de baet uyt„, sprich die Kosten kommen vor dem Nutzen. Für Berensteyn bedeutete dies konkret in Boote, Ausrüstung, Lagerraum und Menschen zu investieren, um den größtmöglichen Ertrag aus der Heringsfischerei zu ziehen. Dabei galt es, sich von Rückschlägen nicht den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen. Ein starker Glaube half. Hatte nicht auch Jesus auf dem See Genezareth seine Jünger sicher durch den tobenden Sturm geführt? Der Giebelstein nach einem Stich von Cornelius Galle spricht Bände von tief verwurzelter Gläubigkeit, gepaart mit unerschütterlichem Selbstvertrauen.

Nach dem Tod Berensteyns erwarb die VOC-Kammer von Enkhuizen das sich vom Wierdijck bis zum Oosterhaven erstreckende Haus für 2600 Gulden. Fortan lagerten darin Tee, Textilien, Porzellan und natürlich Gewürze, allen voran die begehrten Pfefferkörner. Selbst nach dem Konkurs des Handelsunternehmens am 31. Dezember 1799 blieben sowohl der Name Peperhuis als auch das VOC-Monogramm an der Fassade am Oosthaven erhalten. Zunächst übernahm die Kriegsmarine die Räumlichkeiten, bevor sie als Käselager dienten und anschließend in den Besitz eines Saatguthändlers übergingen. Dieser vermachte 1947 das Pfefferhaus zu einem symbolischen Betrag von einem Gulden dem Zuiderzeemuseum.

Rückansicht des Pepperhuis in Enkhuizen

3. Stadsgevangenis – Hoogstraat 10

Gut getarnt durch ein Spalier himmelwärts getrimmter Bäume verbirgt sich hinter dem schmalen und leider eingerüsteten Backsteingebäude das ehemalige Stadtgefängnis. Die krasse Schieflage von über einem Meter bleibt trotzdem nicht unbemerkt. Bereits kurz nach Fertigstellung 1612 begann das dreistöckige Gebäude aufgrund des weichen Untergrunds abzusacken. Dennoch erwies sich die Platzierung hinter dem Rathaus mit dem kurzen Weg von der Verkündung bis zur Vollstreckung des Urteils als ideal.

Zwei Zellen auf jeder Etage reichten damals aus, um die Straftäter kurzzeitig zu beherbergen. Ein längerer Aufenthalt in den dunklen, muffigen und komplett mit Eichenholz ausgekleideten Zellen kam dem Stadtsäckel nämlich zu teuer. Insofern war das Stadtgefängnis nur eine Zwischenstation, bevor die Delinquenten verbannt, ausgepeitscht, gebrandmarkt, öffentlich gedemütigt oder gehängt wurden.

In den Sommermonaten öffnet die inzwischen funktionslose Haftanstalt nachmittags ihre Pforten, um hart gesottene Besucher auf eine authentische Zeitreise in das düstere Innenambiente einschließlich der original erhaltenen Folterwerkzeuge mitzunehmen.

4. Stadhuis – Breedstraat 58

Ganz offensichtlich mangelte es den Enkhuizer Stadtoberen nicht an gesundem Selbstverständnis, als sie 1686 den Bau des monumentalen Rathauses beschlossen. Die Planung und Ausführung legten sie in die Hände des Amsterdamer Architekten Steven Vennekool. Als Schüler Jacob van Campens, der sich mit dem Bau des Königlichen Palast am Dam, dem Mauritshaus und dem Palais Noordeinde in Den Haag einen Namen machte, hatte Vennekool vom Besten der Besten gelernt. Mit weniger wollte man sich in Enkhuizen nicht zufrieden geben, obwohl die Stadt in Sachen Wirtschaft und Wachstum den Zenit längst überschritten hatte. Folglich zog sich die Vollendung des spätklassizistischen Baus ganze zwei Jahre hin.

„Candide et Constante“ schrieben sich die Lenker der Geschicke der Stadt als Leitmotiv auf die Fahne bzw. für jedermann sichtbar auf das Giebelfeld über dem Balkongeschoss. Rechtschaffen und standhaft wollten sie handeln, mit der Weisheit einer Schlange, der Macht der Fasces und dem Schwert der Gerechtigkeit, wie uns die Abbildungen auf der Balkonbalustrade verraten. Die Legitimation für das gesprochene Recht und die erlassenen Vorschriften liefert das aufgeschlagene Gesetzbuch mit Hinweis auf die Verleihung der Stadtrechte am 4. April 1352 durch Wilhelm V. Graf von Holland.

Das Rote Pferd spricht – ein Gedicht über eine besondere Kanone

Fassadentafel am Enkhuizer Rathaus mit Gedicht von Joost van den Vondel

Doch damit nicht genug der allegorischen und geschichtsträchtigen Hinweise am Stadhuis. Eingebettet in einen mit Symbolen überbordenden Schmuckrahmen berichtet ein schwülstiges Lobpreisgedicht von einem wundersamen Ereignis, das sich am Jahre 1622 zugetragen hat. Im Mittelpunkt: die Kanone Het Roode Paert, die der Dichter Joost van den Vondel persönlich zu Wort kommen lässt. Dadurch erfahren wir aus erster Hand, wie sie ihr Schicksal selbst in die Hand nahm und sich mit lautem Donnerschlag und Pegasusflügeln auf die Seite der Guten schlug. Zu fantastisch, um wahr zu sein? Mitnichten. Die Kanone liegt mir direkt zu Füßen. Sprechen kann sie zwar nicht, dafür ist an ihrer Geschichte viel Wahres dran.

Anfang des 17. Jahrhunderts machten Freibeuter aus Dünkirchen mit Persilschein des spanischen Königs die holländischen Küsten unsicher. An die gut bewaffneten VOC-Handelsschiffe trauten sie sich selten heran, doch die Fischereiboote waren leichte Beute. Dabei hatten es die Kaperer nicht auf die mit Heringen vollgepackten Laderäume abgesehen. Vielmehr begaben sie sich auf Menschenfang. Mit jedem gekidnappten Fischer klingelte die Lösegeldkasse.

Kanone "rotes Pferd" mit Gravur Wappen und Motto Kaiser Karl V.

Immer wieder kam es deshalb zwischen den Piraten und der Marine der nordholländischen Republik der Generalstaaten zu heftigen Auseinandersetzungen. So auch 1622, als nach einem Feuergefecht besagte Freibeuterkanone aus heiterem Himmel auf dem Deck des Enkhuizer Kapitäns Volkaert Kanonijx (!) landete.

471 Jahre zählt „Het Roode Paert“ mittlerweile. Gegossen wurde es 1151 in der königlichen Kanonengießerei in Mechelen. Das Wappen Karl V. und sein Wahlspruch „Plus Oultre – immer weiter“ schmücken noch immer gut lesbar das Kanonenrohr.

Für den Namen soll übrigens ein rotes Pferd Pate gestanden haben, das die Kanone nach dem Sieg der Guten triumphierend in die Stadt zog. Oder steckt doch eine tiefere Symbolik dahinter? Auch durch die Apokalypse galoppierte ein Reiter auf einem feuerroten Pferd und säte Gewalt unter den Menschen. Reiner Zufall?

5. Bernardus Paludanus – Zuider Havendijk / Nieuwstraat

Eine Ecke weiter treffe ich auf einen seriösen Herrn mit Spitzbart, entschlossenem Blick und einem mächtig dicken Buch in der Hand. In Bronze gegossen, steht der Gelehrte, Wissenschaftler und Arzt seit 1984 an dieser Stelle, um an seine Verdienste für die Stadt zu erinnern. Geboren wurde er 1550 als Berent ten Broecke, Karriere machte er unter dem Namen Bernardus Paludanus, während ihn die Einwohner Enkhuizens stets liebevoll Ocellum urbis, Augapfel der Stadt, nannten.

Standfigur des Enkhuizer Stadtarztes Bernardus Paludanus

Zweifelsohne eilte Paludanus ein internationaler Leumund voraus. Er hatte sowohl in Deutschland als auch Italien studiert, in Padua promoviert und war ein belesener, weit gereister Mann. Mit Sicherheit mangelte es ihm nicht an attraktiven Jobangeboten. Dass er sich mit 36 Jahren bis zu seinem Lebensende 1633 entschloss, die Stelle als Stadtarzt von Enkhuizen einzunehmen, könnte durchaus an dem Charme der aufstrebenden Gemeinde gelegen haben. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass das Jahresgehalt von 150 Gulden den Ausschlag gegeben hatte. Ein paradiesisch großzügiges Angebot, wenn man bedenkt, dass sich sein Kollege Pieter van Foreest, ehemaliger Leibarzt des Prinzen Willem van Oranje und Stadtarzt von Delft, mit 40 Gulden zufriedengeben musste.

Seinen heutigen Bekanntheitsgrad verdankt Paludanus allerdings weniger seinen medizinischen Leistungen, über die wenig bis nichts überliefert blieb. Vielmehr war sein ausgefallenes Raritäten- und Naturalienkabinett über die Landesgrenzen hinaus in aller Munde. In jungen Jahren reiste der angehende Doktor durch halb Europa bis nach Malta, Palästina und Ägypten. Die Mitbringsel reichten von getrockneten Pflanzensamen über Insekten, Muscheln bis hin zu Münzen und Waffen. Dazu gesellten sich spätere Zukäufe exotischer Säuge- und seltener Meerestierpräparate, farbenfroher Vogelbälge sowie ethnografischer Objekte. Selbst eine ägyptische Mumie soll den Weg in die westfriesische Heringsstadt gefunden haben.

Seine letzte Ruhestätte fand der illustre Zeitgenosse in der Zuiderkerk, wo ihm an der Nordwand ein Epitaph gewidmet ist.

6. Stadswaag- Waagstraat 1 / Kaasmarkt 7

Das nächste Vorzeige-Eckgebäude wartet am Kaasmarkt auf mich. Ein Paradebeispiel nordholländischer Frührenaissance mit Volutengiebel und adretten, rot-weißen Fensterläden zu beiden Fassadenseiten. Auf der Traufe sorgen fünf Standfiguren dafür, dass Gerechtigkeit, Hoffnung, Glaube, Liebe und Stärke nicht zu kurz kommen. Dazu schmücken jeweils die Wappen des spanischen Königs Philipp II., eingerahmt vom holländischen Löwen und den Enkhuizer Heringen die Backsteinfronten.

Den primären Bestimmungszweck des Prachtbaus aus dem Jahr 1559 verrät erst der Blick um die Ecke in die Waagstraat. Die beiden hohen Tore ermöglichten den Zugang zur öffentlichen Stadtwaage. Nicht nur Käse, sondern auch Butter und andere Spezereien wurden hier einer verlässlichen Gewichtsprüfung unterzogen. Um den Ablauf und Wiegeprozess zu erleichtern, konnten die Balkenwaagen unter einem Vordach heraus- und nach Ende des Tages wieder in den Wägeraum zurückgeschoben werden. 

Gebaeude der Enkhuizer Stadtwaage aus dem 17. Jahrhundert

Während man im Erdgeschoss fleißig maß und Gewichte stemmte, richtet sich ab 1636 die Chirurgengilde im Obergeschoss einen Sitzungsraum und Hörsaal ein. Dies erklärt auch die Gedenktafel an Bernhardus Paludanus über dem Treppeneingang. Ein weiteres Mal treffen wir einige Ecken weiter in der Westerstraat 65 auf Spuren des beliebten Stadtarztes. Dort weist ein nachträglich angebrachter Schriftzug das schmucke Gebäude mit den aufwendigen Verzierungen als sein ehemaliges Wohnhaus aus.

7. Zuiderkerk – Zuiderkerksteeg 1

Das nächste „Muss-man-gesehen-haben-Ziel“ ist nicht zu verfehlen (wenn es sich nicht gerade hinter einem Baugerüst versteckt). 75 Meter hoch erhebt sich der Backsteinturm der Zuiderkerk mit dem achteckigen Holzaufbau über Enkhuizen. Einst diente er den Fischern auf der Zuidersee als Landmarke. Glücklicherweise habe ich von meinem Zuiderzeemuseumsbesuch im Mai noch eine Fernansicht gefunden. Heute bezaubert er mit seinem Glockenspiel vor allem bei den sommerlichen Abendkonzerten. 52 Glocken umfasst das Carillon, 20 davon stammen noch aus dem 17. Jahrhundert.

Der Bau der spätgotischen Hallenkirche wurde aus der Not heraus geboren. 1421 spülte die St. Elisabethflut die Pfarrkirche der Fischer, Schiffer und Seefahrer auf dem Außendeich weg. Also begann man zwei Jahre später mit dem Neubau des zweischiffigen Gebäudes, der sich über drei Jahrzehnte hinzog. Die Vollendung des Glockenturms dauerte sogar bis 1524. Aber die Mühen haben sich gelohnt. Das Innere des Kirchenbaus hält einige Überraschungen bereit.

Als Erstes begeistern mich die großflächigen Fragmente vorreformatorischer Wandmalereien. Im 15. Jahrhundert in Secco-Technik ausgeführt, zeigen sich die katholischen Standardheiligen Christopherus, Katharina und Georg im Kampf mit dem Drachen. Ungewöhnlich ist dagegen die Anwesenheit der Heiligen Brigida als Beschützerin von Vieh, Kindern und Wöchnerinnen sowie der Lokalheiligen und Märtyrerin Cunera, die es lohnt, bei Halsschmerzen oder Tierkrankheiten anzurufen.

Die Gewölbemalereien – ein 1300 Quadratmeter großes niederländisches Superlativ

Noch imposanter präsentiert sich das hölzerne Tonnengewölbe. 1486 visualisierte ein unbekannter Künstler 54 Szenen aus dem Alten und Neuen Testament auf einer Fläche von 1300 Quadratmetern. Somit befindet sich über meinem Kopf nicht nur die größte, sondern auch älteste bemalte Holzdecke der Niederlande.

Die Einführung des Protestantismus verlief in Enkhuizen deutlich moderater als in anderen Städten. Kurioserweise predigte der letzte katholische Pfarrer zugleich als erster evangelischer Pastor zu seinen reformierten Schäfchen. Auch der Bildersturm hielt sich in Grenzen. Dennoch begrub man 1609 die biblischen Darstellungen unter mehreren Farbschichten. Je nach Zeitgeschmack war mal ein gelber, hellblauer oder weißer Deckmantel angesagt. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts erinnerte man sich wieder an das einzigartige künstlerische Vermächtnis und begann mit der sukzessiven Freilegung.

Leider sind aus der Distanz die einzelnen Szenen aufgrund der verblassten Temperafarbe nurmehr schwer zu deuten. Deshalb gibt es inzwischen ein Patenschaftsprojekt zur Digitalisierung der Malereien mit dem Ziel die Originalfarben virtuell zu rekonstruieren. Bis es so weit ist, kann man auf der Website der sehr aktiven evangelischen Kirchengemeinde eine Übersicht aller Tafeln in ihrem aktuellen Zustand bestaunen.

Grabplatten als Curriculum Vitae

Zum Nachdenken regt der mit unzähligen Grabplatten bedeckte Kirchenboden an. Welche gesellschaftliche Bevölkerungsschicht definierte sich auf welche Art und Weise für die Ewigkeit? Einige beschränkten sich auf ein einfaches Kürzel, eine Art Hausmarke. Andere wiederum definierten sich über ihren Beruf. Ich entdecke einen Heringsfischer, einen Schuster, einen Räucherfisch-Händler sowie einen Metzger mit seinem Beil (es wird ja wohl kein Henker gewesen sein?). Und die adlige Oberschicht? Was wollten sie der Nachwelt hinterlassen? Selbstverständlich ein imposantes Wappen als Statussymbol, umgeben von posaunenden Engeln und mahnenden Symbolen der Kürze und Vergänglichkeit des Lebens.

Eine Mahnung für die Ewigkeit

Und dann wäre da noch die grotesk hässliche Frauengestalt auf dem abgenutzten Grabstein aus dem frühen 15. Jahrhundert. Auch sie gibt uns eine Botschaft mit auf den Weg. Zumindest wenn man der Legende Glauben schenkt, die darüber kursiert.

Grabstein mit Frauenskelett in der Zuiderkerk, Enkhuizen

Es war einmal eine schwerreiche, jedoch äußerst geizige Witwe. Als sie ihren Tod kommen sah, ließ die alte Dame das Dienstmädchen auf ihren letzten Willen schwören. Ihr gesamtes Vermögen sollte mit ihr begraben werden. Sicher war sicher. Wer wusste schon, was der Fährmann für die Überfahrt verlangte, oder ob ihre Verwandtschaft nicht das ganze Geld sinnlos verprasste. Das ergebene Dienstmädchen tat wie ihr geheißen. Die Dame starb, die Magd versteckte die Gold- und Silbermünzen im Sarg und schwieg. Nach der Trauerfeier erwarteten die Angehörigen mit Spannung die Verlesung des Testaments. Jeder hoffte auf ein beträchtliches Erbe. Doch der Testamentsvollstrecker stand mit leeren Händen da. Wo war nur das ganze Geld geblieben? Schnell geriet das Dienstmädchen unter Verdacht, sich unrechtmäßig bereichert zu haben. Diese Anschuldigung konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Massiv unter Druck gesetzt, gab sie schlussendlich das Geheimnis preis.

Eiligst brach die Trauergesellschaft auf, um das Grab wieder öffnen zu lassen. Doch welch Entsetzen spiegelte sich in den Gesichtern der Anwesenden wider, als der Totengräber den Sarg erneut ausgrub und den Deckel entfernte. Ein Übelkeit erregender Gestank stieg daraus auf, schweflige Dämpfe breiteten sich aus und über dem Leichnam wanden sich zischelnd und züngelnd unzählige Schlangen. Schnell wurden Sarg und Grab wieder verschlossen. Die Erben verzichteten freiwillig auf das Geld und stoben in alle vier Himmelsrichtungen davon. Schon kurze Zeit später ließ die Stadtverwaltung als dauerhafte Mahnung vor den Folgen von Geiz und Raffgier die abstoßende Grabplatte anfertigen.

8. Westerstraat – ein architektonischer Streifzug durch die Jahrhunderte

Gebaeude mit Treppengiebel und Fassadensteinen in der Westerstraat in Enkhuizen

Nach diesem gruseligen Exkurs geht es über den Zuiderkerksteg in die Westerstraat. Die Flaniermeile Enkhuizens durchzieht das historische Zentrum von Osten nach Westen. Dicht an dicht konkurrieren hier Jahrhunderte alte, denkmalgeschützte Häuser mit allen nur erdenklichen Giebelformen und Fassadensteinen um Aufmerksamkeit. Ich weiß gar nicht, wohin zuerst schauen. Dazu laden kleine Boutiquen, Geschenkläden oder unwiderstehlich nach Zimt duftende Bäckereien zum Stöbern, Genießen und Verweilen ein.  

Haus mit Treppengiebel in der Westerstraat in Enkhuizen

Hausnummer 76 (siehe Plan 8a) fasziniert mit einem gebänderten, spätgotischen Treppengiebel, der mit Ausnahme der womöglich schmiedeeisernen Ornamente auf den Fialen ein halbes Jahrtausend unbeschadet überstanden hat. Die schmale Frontseite kompensiert das spätgotische Herrenhaus mit sage und schreibe 18 Metern Tiefe. Von 1540 bis 1708 befand es sich im Besitz der Adelsfamilie Westphalen und wird derzeit als ältestes Steinhaus der Provinz Nordholland gehandelt.

Nur wenige Schritte weiter animiert Nr. 92 (siehe Plan 8b) zum erneuten „Löcher in die Fassade Starren“. Sind die drei Miniaturporträts über den Sprossenfenstern nicht reizend? Eine bleibende, wenngleich anonyme Erinnerung an die ursprünglichen Bewohner? Lediglich der Heckenrosenstrauch erzählt ein wenig mehr über die einstigen Vorbesitzer. Ganze 300 Jahre lang konnten sich die Enkhuizer von Anfang des 18. Jahrhunderts bis 2016 in der Apotheke mit allerlei Pülverchen, Salben und guten Ratschlägen gegen ihre Wehwehchen eindecken.

Freund und Feind vereint

Fassade in Enkhuizen mit Giebelstein Maurits von Oranje, Karl V. und Philipp II.

Ein Rätsel hält auch das Backsteingebäude 197 (siehe Plan 8c) bereit. Prominent sticht die Figur des Prinzen Maurits von Nassau aus dem zentralen Giebelfeld hervor. Die Verehrung für den Statthalter von Holland und Anführer der Land- und Seestreitkräfte war nach der Befreiung Frieslands von der spanischen Herrschaft in den 1590-er Jahren besonders groß. Ich frage mich nur, warum sich die beiden Erzfeinde der niederländischen Republik, König Philipp II. von Spanien (rechts) sowie sein Vater Karl V. (links) in seinem Glanze mitsonnen dürfen?

Fakt ist, dass die beiden spanischen Herrscher im 19. Jahrhundert von einem Haus in der Breedstraat hierhin versetzt wurden. Dabei deutet alles darauf hin, dass der ehemalige Auftraggeber der Habsburger Reliefs ein glühender Anhänger selbiger war. Immerhin scheute er keine Kosten, sie mit der Kette des Ordens vom Goldenen Vlies abzubilden und diese dann auch noch zu vergolden. Habe ich es folglich mit einer Provokation oder eher einer Lektion in Sachen Geschichte zu tun? Ich tippe auf Letzteres, denn die unterschiedlichen Größenverhältnisse der Protagonisten lassen keinen Zweifel an der korrekten Rollenverteilung von Sieger und Besiegten zu. Insofern ist eben nicht alles Gold, was glänzt.

9. Oude Armen Weeshuis – Westerstraat 111

Freie Wohlfahrtspflege wurde im Goldenen Zeitalter großgeschrieben. Wohlstand bedeutete gleichzeitig soziale Verpflichtung. In erster Linie um des eigenen Seelenheils willen. An Armen-, Waisen-, Altenhäusern mangelte es in den Niederlanden nicht.

Fassade des ehemaligen Waisenhauses, Oude Armen Weeshuis in Enkhuizen

Auch das 1551 errichtete Oude Armen Weeshuis (OAW) ging auf eine private Stiftung zurück. Zwei erhalten gebliebene Giebelsteine vermitteln noch authentische Eindrücke über das Leben im reformierten Waisenhaus. Die Kinder erhielten neben Kleidung und Nahrung auch eine solide Schulbildung. Lesen, Schreiben, einfaches Rechnen und selbstverständlich religiöse Unterweisung standen auf dem Stundenplan. Damals strikt geschlechterspezifisch getrennt.

Während die Kleineren sich die Freizeit noch mit Ringelreihen, Reifentrieben oder Bockspringen vertreiben durften, wurden die Älteren frühzeitig an das Berufsleben herangeführt. Die Jungs erhielten häufig eine Ausbildung zum Fischer oder Seemann für die VOC. Deren Personalbedarf für die Handelsschiffe war immens, zumal regelmäßig nur ein Drittel der Besatzungen ihre Heimat je wiedersahen. Die VOC war nicht nur als „Gelddruck“-, sondern auch Menschenfresser-Maschine verrufen. Selbst für die Mädchen hieß es schon mit 10 Jahren kochen, nähen, spinnen, weben und hauswirtschaften zu können, um in Anstellung zu gehen. Anderweitige Optionen gab es nicht.

1906 wurde der Waisenhauskomplex wegen Baufälligkeit abgerissen und durch einen Neubau mit einer Replik der Fassade aus dem Jahr 1616 ersetzt. Direkt neben dem kleinen Waisenhaus entstand ein neues Kinderheim, das bis Mitte des 20. Jahrhunderts seine Aufgaben wahrnahm. Das schöne schmiedeeiserne Tor mit dem verschnörkelten OAW-Monogramm und den beiden Waisenkindern erinnert noch immer an die ursprüngliche Bestimmung. Mittlerweile beherbergt das stattliche Gebäude das interaktive Erlebnis- und Museumsprojekt „Sow to Grow“, das sich der Wissensvermittlung rund um das Thema Pflanzenzucht widmet.

10. Hoerejacht und andere seltsame Straßennamen

Neben unzähligen Giebelsteinen schieben sich in der Westerstraat immer wieder schmale Seitengassen und unscheinbare Durchgänge mit besonders ausgefallenen Namen ins Blickfeld. Für gewöhnlich orientierte man sich bei der Vergabe an berühmten Persönlichkeiten, verdienstvollen Gemeindemitgliedern oder wichtigen Institutionen. Machte man sich beispielsweise früher auf den Weg in Richtung Het Kreupeltje, so wusste jeder, dass sich am Ende des Wegs ein Heim für Kranke und Bedürftige bzw. Lahme und Krüppel befand. Auch bestimmte Berufe oder markante Giebelsteine mit Wiedererkennungswert wie das rote Pferd einer ehemaligen Brauerei in der Roopaardsteiger (Rote Pferd Steg) waren als Taufpaten gang und gäbe.

Aber was hat es mit der Doornkroontje (Dornenkrone), der Karnemelksluis (Buttermilchschleuse) oder dem Affentheater Apenspel auf sich? Hier kann jeder seiner Fantasie freien Lauf lassen. Den Vogel schießt allerdings die Hoerejacht ab. Machte in der schmalen Gasse (siehe Plan 10a) früher ein gewisses Klientel tatsächlich Jagd auf Huren? Befand sich an dieser Stelle gar das Rotlichtviertel der Stadt? Der Name lässt sich bis in das Jahr 1651 zurückverfolgen, allerdings ohne erhellende Erkenntnisse. Dafür genießt die Hurenjagd dank ihres nachweislichen Alters „Artenschutz“. Eine Umfirmierung ist ausgeschlossen.

Zur selbsterklärenden Sorte von Straßennamen gehört die Vierbeentjes, benannt nach den vier Gassen, die an dieser Stelle aufeinandertrafen. So zumindest die offizielle Erklärung. Mir gefällt jedoch die Vorstellung eines Treffpunkts für Vierbeiner deutlich besser. Dazu passend würde sich auch das Giebelfeld an der Ecke Westerstraat 153 (siehe Plan 10b) mit den putzigen Maulwürfen einreihen. Ein niederländisches Wortspiel verrät das seltsame Tun der fast blinden Buddeltiere: anstatt Garn zu sägen, sähen die Maulwürfe gerne.

Ich sähe jetzt auch gerne und zwar, dass der Regen nachlässt. Vergeblich. Also beschließe ich, eine Koffeinpause samt Kaloriennachschub einzulegen. Danach heißt es, die übrigen Highlights von Enkhuizen erkunden. Und das sind nicht wenige, versprochen!


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