Schässburg und die grosse Kokel von Martin Rill
auf Reisen,  in Leselaune,  in Rumänien

Schäßburg und die Große Kokel

Schäßburg und die Große Kokel


Auf fünf Bände ist inzwischen die monumentale Wort-Bild-Dokumentation von Historiker Martin Rill über das siebenbürgisch-sächsische Kulturerbe angewachsen. Ein Lebenswerk möchte man meinen angesichts der 119 Ortsbeschreibungen, mehreren 1000 Fotografien und dem unerschöpflichen Wissensfundus, den der Autor in den vergangenen 20 Jahren auf über 1500 Buchseiten zusammengetragen hat.

Nach Das Burzenland, Hermannstadt und das Alte Land, Das Repser und das Fogarascher Land sowie Einblicke in das Zwischenkokelgebiet geht es mit der neuesten Ausgabe Richtung Schäßburg und die Große Kokel.

Eine Region – unterschiedliche Strukturen

Schäßburg und das südliche Kokelland sind nach wie vor sehr landwirtschaftlich geprägt. Große Industrieansiedlungen sucht man in den langgezogenen Seitentälern der Târnava Mare vergeblich. Dennoch zeigt die strukturschwache Gegend ganz gegensätzliche Gesichter. Der Grund dafür liegt in der divergenten historischen Entwicklung, denn Siebenbürgen war bis ins 19. Jahrhundert hinein politisch gesehen kein einheitliches Gebilde.

Foto Kirchenburg Arkeden aus dem Buch Schässburg und die grosse Kokel

In den Siedlungen auf ungarischem Königsboden konnten sich die Menschen gesellschaftlich und wirtschaftlich frei entfalten. Allerdings mussten sie sich auch um ihren eigenen Schutz kümmern. So entstanden die markanten Kirchenburgen. Ganz anders stellte sich die Situation auf ungarischem Komitatsboden dar. Hier waren die Dorfbewohner Untertanen der ungarischen Adelsgeschlechter. Als Hörige besaßen sie weder Grund noch Rechte, dafür umso mehr Pflichten. Die meisten Einwohner lebten an der Armutsgrenze. Klassische Kirchenburgen mit einem Konglomerat aus Beringen, Bastionen, Wehrtürmen oder befestigten Kirchen sind hier deshalb seltener anzutreffen.

Trotz aller Unterschiede zogen sich drei Gemeinsamkeiten wie ein roter Faden durch die Orte auf Königs- als auch Komitatsboden. Da waren erstens die permanenten feindlichen Einfälle, zweitens die nie enden wollenden Hattertstreitigkeiten und zu guter Letzt die massive siebenbürgisch-sächsische Auswanderungswelle.

UNESCO-Welterbe Schäßburg

Mit der historischen Altstadt von Schäßburg sowie der Kirchenburg von Keisd bereichern gleich zwei UNESCO-Welterbestätten den Bildband. Gleichzeitig repräsentieren sie auch die einzigen Nicht-Diaspora Gemeinden unter den einstmals siebenbürgisch-sächsischen Ortschaften am Mittellauf der Großen Kokel (rum. Târnăva Mare). Der sächsische Exodus und die Landflucht haben in der Region tiefe Spuren hinterlassen. Die Zahl der evangelischen Gemeindeglieder ist in vielen Dörfern an einer Hand abzulesen.

Auch Schäßburg, im Mittelalter einflussreiches Verwaltungszentrum und später renommierte Schulstadt, stemmt sich seit drei Jahrzehnten dem Einwohnerschwund entgegen. Zwar profitiert die einzige Stadtgemeinde im vorliegenden Band von mittlerweile einer halben Million Touristen jährlich, doch bedauerlicherweise mangelt es an Expertise, Geschick und vor allem an einer geeigneten Infrastruktur, um dieses Potenzial regional auszuschöpfen.

Dabei besitzt Schäßburg, außer dem mittelalterlichen Wehrkomplex auf dem Burgberg, durchaus auch charmante Ecken in der Unterstadt. Hinzu kommt ein beeindruckender kunst- und kulturgeschichtlicher Reichtum in der Bergkirche, angefangen bei den Wandmalereien aus dem 14. Jahrhundert, über die gut erhaltenen Reliefgrabplatten bis hin zur Sammlung von Stollentruhen aus der Henndorfer Kirchenburg. Einmalig dürfte auch die Anzahl der ausgestellten Flügelaltäre sein. Nachdem die aufgelassenen Herkunftsgemeinden Meeburg, Reußdorf und Schaas nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren konnten, fanden sie in der gotischen Hallenkirche ein neues Zuhause.

Eine vollgepackte Tour durch die Dörfer an der Großen Kokel

Allerdings geizt auch das Schäßburger Umland nicht mit sehens- und erhaltenswerten Schmuckstücken. Doch zunächst wird der Leser auf einen daten-, zahlen- und faktenbasierten Kurztrip durch die jeweilige Gemeindehistorie entführt. Nach einem Abstecher in luftige Höhen, um dem eindimensionalen kartografischen Ortsbild ein zweidimensionales fotografisches gegenüberzustellen, findet die Buchreise ihre Fortsetzung mit der evangelischen Kirche(nburg). Eine ausführliche und großzügig mit Bild- und Textmaterial untermalte Führung durch das Kircheninventar runden den Sakralbesuch ab.

Von der Kirche führt der Weg direkt an gepflegten, vergessenen, grasüberwucherten oder aufgelassenen Friedhöfen vorbei. Anschließend heißt es, auf zur Ortsbegehung. Wir schlendern an geschlossenen Dorfgassen entlang, begegnen repräsentativen Pfarrhäusern, stoßen auf angeschlagene Schulgebäude oder erhaschen einen Außenblick auf orthodoxe Kirchen, bevor wir unseren Streifzug durch das südliche Kokeltal in der nächsten sächsischen Siedlung fortsetzen. Zum Abschluss der vollgepackten Tour durch Schäßburg und die Große Kokel erwartet uns noch ein willkommener geschichtlicher Überblick, der problemlos 800 Jahre auf vier Buchseiten komprimiert.

Im Buch unterwegs


19 Gemeinden hat Martin Rill dieses Mal kartografiert, fotografiert und dokumentiert.

Schäßburg und die Große Kokel

Die im Buch porträtierten Gemeinden sind auf der Karte mit roten Ortsnamen gekennzeichnet. Ein Klick ins Bild vergrößert die Kartenansicht.

Arkeden – Archita
Denndorf – Daia
Dunesdorf – Daneş
Felsendorf – Floreşti
Großlasseln – Laslea
Keisd – Saschiz
Klosdorf – Cloaşterf
Kreisch – Criş
Malmkrog – Mălâncrav
Neudorf – Noul Săsesc
Peschendorf – Stejărenii
Rauthal – Roandola
Schaas – Şaeş
Scharosch – Şaroş pe Târnave
Schäßburg – Sighişoara
Trappold – Apold
Waldhütten – Valchid
Weißkirch – Albeşti
Wolkendorf – Vulcan

Jede dieser Gemeinden besitzt ihre ganz persönliche Geschichte und einige dieser Geschichten innerhalb der Geschichte schauen wir uns nun ein wenig genauer an.

Von Fruchtkübeln, Trovanten und Kleiderverschwendung

Wir beginnen unsere Stippvisite im Buch bei A wie Arkeden. Bildlich perfekt in Szene gesetzt, begeistert uns die am weitesten im Osten gelegene Ansiedlung mit einem Vorzeigeexemplar einer siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburg. Ihre Wehrhaftigkeit erschließt sich allerdings erst aus der Luftbildaufnahme. Doch mindestens so aufschlussreich wie der Blick aus der Vogelperspektive auf Kirchenburg und Dorf ist derjenige in das Kassenbuch der evangelischen Kirchengemeinde. Für „1200 Gulden und 12 Kübel Frucht“ leisteten sich die Sachsen im Jahr 1824 eine neue Orgel, während der barocke Altar mit 414 Gulden auf der Ausgabenseite vermerkt wurde.

Unerwartetes zeigt und berichtet uns Martin Rill aus dem abgeschiedenen Denndorf. Nachdem der Erhalt der Kirchenburg lange Zeit auf Messers Schneide stand, scheint sich nun, dank einer privaten Initiative und Sponsorengeldern, ihr Schicksal zum Guten zu wenden. So darf man sich wohl noch eine ganze Weile an den bemalten Emporen und dem Chorgestühl erfreuen. Neben den farbigen Schlusssteinen aus dem 15. Jahrhundert sorgt der ungewöhnliche Anblick der sogenannten Trovanten (sonderbar geformte Grabstelen aus natürlich zementiertem Sandstein) für eine weitere Überraschung in der 500-Seelen-Gemeinde.

Im ehemaligen Hörigendorf Kreisch bezaubert uns dagegen das pittoreske Bildmaterial des schönsten Herrenhauses in Siebenbürgen. Das Renaissance-Schloss der Adelsfamilie Apafi wurde im 20. Jahrhundert durch kommunistische Zweckentfremdung arg gebeutelt. Inzwischen erhielten die rechtmäßigen Besitzer ihr Eigentum zurück, sodass dem Komplex aus Türmen, Privatkapelle, Loggia und Wehrmauern endlich die dringend notwendige Pflege und Fürsorge zuteil wird. Auch im Ort selbst ging es des öfters turbulent zu. Während es der Bischof bei einem Tadel angesichts der Kleiderverschwendung der Bewohner beließ, griff der Graf beim Alkoholexzess der Bruderschaft drakonisch durch und ließ die außer Rand und Band Geratenen auspeitschen.

Das permanente Damoklesschwert über den Kirchenburgen

Für abscheuliche Schlagzeilen sorgte die in einem Seitental der Kokel gelegene Ortschaft Schaas. Allerdings nicht wegen ihres Mini-Schlammvulkans am Schaaser Bach, liebevoll Schaukelmorast genannt. Vielmehr ging es um Zauberei, Hexerei und teuflischen Machenschaften, die die Todesstrafe nach sich zogen. Während sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts über ganz Europa das liberale, tolerante und fortschrittliche Gedankengut der Aufklärung ausgebreitet hatte, herrschte in der freien Gemeinde wohl noch in den 1790-er Jahren tiefstes Mittelalter.

Auffallend bei der Reise durch die siebenbürgisch-sächsische Kirchen(burgen)landschaft ist immer wieder der Stilmix innerhalb einer Anlage. Besonders kontrastreich präsentiert sich die Kirchenburg von Scharosch, wo wehrhafte Basteien und Ringmauern auf filigranes gotisches Maßwerk und einen pompösen Barockaltar treffen. Dagegen ist Trappold, ebenfalls eine Diaspora-Gemeinde am Schaaser Bach, ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein Querschnitt der unterschiedlichsten Kunstströmungen harmonisch zusammenfügt. Auf 200 Quadratmetern präsentiert sich uns ein Showcase aus romanischem Triumphbogen, gotischem Gewölbe, klassizistischem Säulenaltar und romantischen Holzmalereien auf den Emporen.

Cover-Rueckseite des Bildbands Schässburg und die grosse Kokel

All die Schönheit lässt jedoch mitunter vergessen, dass sich vielerorts das bauliche siebenbürgisch-sächsische Kulturgut in akuter Gefahr befindet, auch wenn in diesem Bildband die Verfallserscheinungen oder der Vandalismus nicht so offen zutage treten. Zahlreiche Sakralbauten in und um Schäßburg (Arkeden, Keisd, Klosdorf, Malmkrog, Trappold, Waldhütten) profitierten in den letzten Jahren von EU-finanzierten Restaurierungsmaßnahmen. Jedoch garantieren diese Rettungsmaßnahmen noch lange keinen dauerhaften Fortbestand, wie Dr. Fröhlich, Dechant des evangelischen Kirchenbezirkes A. B. Schäßburg, in seinem Vorwort kritisch anmerkt. Zwar können finanzielle Mittel bauliche Wunden heilen. Fehlen allerdings ortsansässige Menschen mit Bezug zum Kulturgut sowie eine langfristige Zweckbestimmung des Gebäudes, besitzt keines der Gotteshäuser eine langfristige Perspektive.

In Leselaune’s Schlussansichten


Wie bereits seine Vorgänger lässt sich auch Schäßburg und die Große Kokel keiner einschlägigen Buchkategorie zuordnen. Selbstredend ist der großformatige Bildband eine Zierde und Bereicherung für jedes Bücherregal. Gleichzeitig schenkt er unzähligen Siebenbürger Sachsen Generationen eine verlässliche Erinnerung. Auch Genießer, Nostalgiker und Kunstliebhaber kommen bei diesem Buch vollumfänglich auf ihre Kosten, werden sie doch mit über 800 professionellen, authentischen als auch abwechslungsreichen Farbfotografien verwöhnt.

Wer sich mehr für die geschichtlichen Aspekte der Region interessiert, wird ebenso wenig enttäuscht. Martin Rills akribische Recherchearbeit in den verschiedensten Quellen und Archiven fasziniert bei jedem Band aufs Neue. Sicherlich gehört es zu seinem Selbstanspruch als Historiker Daten und Fakten zu sammeln, doch zeigen beispielsweise die detailgenauen Beschreibungen der Altarkelche oder die geradezu minutiöse fotografische Erfassung der Fresken an der Gewölbedecke von Malmkrog wie viel Leidenschaft und Ausdauer in dieser Dokumentation steckt.

Aber Schäßburg und die Große Kokel kann noch mehr. Immer wieder stößt man im 312 Seiten umfassenden Panoptikum des sächsischen Lebens auf bizarre Geschehnisse. So musste ich über zwei Einträge in der Großlassler Chronik schmunzeln. Im Jahr 1503 nutzte ein gewiefter Schäßburger Dominikanermönch die Naivität einer trauernden Witwe schamlos aus, indem er als Gegenleistung für ihr Vermögen ein ewiges Gedenken versprach. 44 Jahre später entkam der Schulmeister mit dem bezeichnenden Namen Gallus Scholastikus nur knapp dem Galgen. Sein Einkommen war wohl so gering, dass er sich an fremdem Eigentum vergriffen hatte.
Einen herzlichen Dank an Martin Rill auch für den amüsanten Original-Briefauszug des Gräfen Heydrich von Alzen, in dem dieser den edlen und strengen ritter (den Grafen Apafi) auf anbiedernde Weise um die Zusendung von dem gute newe wein bittet, damit er diesen mit dem burgermeister trincke.

Schäßburg und die Große Kokel – ein motivierendes Buch mit Bildungsauftrag

Doch nicht nur zum Amüsement, sondern ebenfalls als Motivator ist Schäßburg und die Große Kokel bestens geeignet. Schon bei der ersten Durchsicht möchte man sich sofort aufmachen, um diese großartige Kulturlandschaft hautnah zu erkunden, weitere Momentaufnahmen zu schaffen, Eindrücke zu teilen, bis sie auf fruchtbaren Boden fallen und sich daraus neue Denkanstöße oder Initiativen zum Erhalt dieses außergewöhnlichen Kulturerbes ergeben.

Und zu guter Letzt erfüllt auch dieser Band von Martin Rill einen Bildungsauftrag. Wer weiß denn schon auf Anhieb, welche Gegenstände sich hinter einer Tornaz, einem Tarnautzken oder Stifken verstecken. Ganz zu schweigen von der Hutweide, dem Ausgeding oder der Pixis, einem Hostienbehälter to go. Nein, an dieser Steller wird nicht alles verraten. Den Rest müsst Ihr schon selbst herausfinden.

Doktor Google und Schlaumeier Wikipedia sind allerdings nicht immer die Lösung. Aus gutem Grund möchte ich deshalb dem Autor als Anregung für geplante Nachfolgewerke ein Glossar für Nicht-Siebenbürger, Nicht-Historiker und klerikal-kunstgeschichtliche Laien ans Herz legen. Und da nun schon das Stichwort Anregungen gefallen ist, bin ich so frei und reiche noch zwei weitere Empfehlungen hinterher. Zur einfachen Lokalisierung bzw. Zuordnung der Orte zum Königs- bzw. Komitatsboden hätte ich mir eine dementsprechende Übersichtskarte gewünscht. Dazu, für ein Nonplusultra an Komfort und Durchblick, wäre eine durchgehende Ortskennzeichnung die berühmte Kirsche auf dem Kuchen.
Ansonsten bleibt mir an dieser Stelle nur noch eines zu wünschen, nämlich ein wunderbares Lesevergnügen!


Cover des Buches Schaessburg und die Grosse Kokel von Martin Rill

Schäßburg und die Große Kokel

Kategorie: Bild- und Dokumentationsband; Nachschlagewerk
Autor(en):
Martin Rill (Herausgeber, Texte und Fotografie)
Georg Gerster (Luftfotografien)
Verlag: Buchversand Südost
Erscheinungsjahr: 2020; 1. Auflage
Ausgabe: Hardcover
Umfang: 312 Seiten
ISBN: 978-3-00-065486-2
Preis: 59,00 €

Das Cover und die Bilder sind allesamt Eigentum des Verlags, Herausgebers, Fotografen bzw. sonstigen Rechteinhabers. 
Die Buchvorstellung ist unbezahlt und unbeauftragt. Das Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Ein herzliches Dankeschön hierfür. Meine Rezension wurde davon nicht beeinflusst.

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