Buchcover Bestiarium von Christian Heck und Rémy Cordonnier
in Leselaune

Bestiarium – Das Tier in mittelalterlichen Handschriften

Und es gibt sie doch. Zufälle.
Ich war gerade eifrig damit beschäftigt, die Reiterkönige am Straßburger Münster einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, als mir auf der Nordseite des Turms zwischen Lothar I. und Ludwig dem Frommen ganz unbeabsichtigt ein tierischer Hochrelief-Fries vor die Kamera lief. Als ich dann zu Hause die zwölf Einzelsequenzen der Steinmetzarbeit genauer unter die Lupe nahm, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Abgesehen von drei, vier Szenen aus dem Alten Testament entpuppte sich der Fries als heimliche Versammlung wilder Tiere. Meine Neugier war geweckt. Welche Verbindung bestand zwischen dem Einhorn, dem Wildschwein oder dem stolz in die Sonne blickenden Adler und der Heilsgeschichte?

Im Laufe meiner Recherchen stieß ich zunächst auf den antiken Physiologus, quasi die erste schriftliche Symbiose aus Tierlexikon und christlicher Knigge. Doch je weiter ich mich mit der Ikonografie der Tiere beschäftigte, desto mehr geriet ich in den Sog der Bestiarien. Doch leider, sieht man vom digitalisierten Aberdeen Bestiary ab, genießen nur sehr wenige Menschen das Privileg, die beinahe eintausend Jahre alten mittelalterlichen Handschriften überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Das Gros der erhaltenen gebliebenen Manuskripte liegt nämlich gut verwahrt hinter dicken Mauern in den Archiven nationaler Bibliotheken oder Museen.

Deshalb gelang dem Verlag wbg Edition im Jahr 2020 mit der Veröffentlichung des ursprünglich in französischer Sprache publizierten und 2020 ins Deutsche übersetzten Bestiarium ein ganz großer Coup. Ein einzigartiges, 620 Seiten umfassendes Monumental-Druckwerk über das Tier in mittelalterlichen Handschriften. Endlich kann ich aufatmen. Nun laufe ich nicht mehr Gefahr, im Dschungel der zahmen, gefährlichen, dubiosen und kuriosen Bestien die Orientierung zu verlieren. Doch bevor mir die einhundert Monografien die erstaunliche Artenvielfalt der mittelalterlichen Tierwelt näherbringen, widme ich mich den fünf einleitenden Kapiteln über „Mensch und Tier: zwischen Realität und Imagination im Dienste der Weltordnung“.

Bestiarium – Das Tier in mittelalterlichen Handschriften


Alles begann mit der Bibel, der ersten Enzyklopädie der Tiere. Im 2. Jahrhundert n. Chr. kam dann der „Naturkundige“ ins Spiel. Der griechische Physiologus gilt bis heute als das Urbuch aller Bestiarien, der mit der Übersetzung in die lateinische Sprache seinen Siegeszug als Klassiker der Weltliteratur antrat. Ein halbes Jahrtausend später bemühte sich der Heilige Isidor von Sevilla in seiner Enzyklopädie „Etymologiae“ um eine umfassende Dokumentation der Tierwelt, wobei er sein Wissen überwiegend aus den antiken Schriften generierte. Erst weitere fünfhundert Jahre später hatten die Bestiarien ihren großen Auftritt. Sie bündelten die naturwissenschaftlichen Kenntnisse ihrer Vorgänger, setzten diese mit der Heilslehre in einen moralischen Kontext und illuminierten diese zu unermesslich wertvollen Kunstwerken.

Buchseite aus dem Bestiarium - das Tier in mittelalterlichen Handschriften
Marco Polo, Devisement du monde oder Livre des merveilles, Paris um 1410-1412,
Paris, Bibliothèque nationale de France; MS fr. 2810; Folio 55v: Die Schlangen der Provinz Caragian

Die Sichtweise auf die Tierwelt im Wandel

Im Laufe der Jahrhunderte veränderten sich die Sichtweise und die Beziehung des Menschen zur Tierwelt. Bereits in der Bibel trat der Wandel offen zutage. Zu Beginn der Schöpfungsgeschichte herrschte ein friedliches Nebeneinander aller Kreaturen. Dann kam der Mensch ins Spiel. Anstatt sich ewiglich an der immensen Vielfalt der göttlichen Schöpfung zu erfreuen, öffnete er die sündige Büchse der Pandora. Zur Strafe schickte Gott nicht nur die Sintflut, sondern auch die zehn ägyptischen Plagen, in denen Frösche, Stechmücken und Heuschrecken eine zentrale Rolle zukam.

Das Erscheinen Jesu im Neuen Testament sorgte für ein Umdenken. Die Unterscheidung in reine und unreine Kreaturen war passé. Der Löwe verlor seine biblische Vormachtstellung zugunsten des Lamm Gottes, das fortan in die Rolle als Symbol der Auferstehung Jesu Christi schlüpfte. Die Evangelisten nahmen tetramorphe Gestalten an, Prädatoren stellten sich an der Seite prominenter Heiliger in den Dienst der guten Sache. Die Tier-Mensch-Beziehung befand sich wieder im Lot. Dennoch kategorisierte man noch zur Blütezeit der Bestiarien im 12. und 13. Jahrhundert die Tiere auf einer Gut-Böse-Skala, wobei die Entfernung zum Himmel ausschlagend war. Kriechtiere, Schlangen, Würmer, also alle Kreaturen, die in ihrem Lebensraum der Hölle am nächsten kamen, galten demnach als Verkörperung des Teufels. 

Tiere als Spiegelbilder der menschlichen Gesellschaft

Seit dem vierten und fünften Schöpfungstag ist die Tierwelt aus dem göttlichen Weltgefüge nicht mehr wegzudenken. Zunächst dienten sie nur als Fortbewegungsmittel und Nahrungslieferant des Menschen. Später erfüllten sie klaglos ihre Aufgaben als Nutz- oder Lasttiere in Landwirtschaft und Viehzucht oder bei der Kriegsführung. Im Mittelalter erweiterte sich ihr Aufgabenspektrum. Gutsherren und Aristokratie bedienten sich ihrer als Jäger und Gejagte. Zugleich gehörte es an den Fürstenhöfen Europas zum guten Ton eine Menagerie mit wilden und exotischen Bestien zu unterhalten. Bald schmückten die symbolbeladene Fauna nicht nur ein Drittel aller Adelswappen, sondern auch Tapisserien, Tafelgeschirr oder die Fassaden klerikaler Gebäude.

Allerdings zeigten die Tiere nicht nur in der realen Welt ihre Omnipräsenz. Sie bestimmten auch die Ängste und Albträume der Menschen. Der Mangel an Bildung öffnete der Fantasiewelt Tür und Tor. Die Wissenschaften steckten teilweise noch in den Kinderschuhen, sodass viele unerklärlichen Phänomene der Natur als mirabilia (Kuriositäten) oder miracula (Wunder mit göttlichem Einfluss) eingestuft wurden.

Dieses Potpourri menschlich-tierischer Interaktionen floss in die mittelalterlichen Handschriften ein. Das facettenreiche Aussehen der Bestien, ihre multiplen physischen Fähigkeiten als auch die Ambivalenz ihrer Charakterzüge bot eine unerschöpfliche Fundgrube der Ikonografie. Gab es ein plastischeres Medium, um der mittelalterlichen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten?

Sanftmütige Spezies trafen auf gefährliche Raubtiere, loyale Gefährten auf hinterhältige Kreaturen. Lernfähige Geschöpfe standen instinktgetriebenen Wesen Auge in Auge gegenüber. Reale Tierwesen bevölkerten ebenso zahlreich die Buchseiten wie imaginäre Fabelwesen oder Hybride. Der Tummelplatz allegorischer Darstellungen von pittoresk bis grotesk war unermesslich.

Im Buch unterwegs


Zur heutigen Lesart der Bestiarien muss man sich die Geisteshaltung der damaligen Gesellschaft zu eigen machen. Ohne Verständnis für die mittelalterliche Weltordnung und Gefühlswelt lassen sich die Botschaften der Bestiarien nicht entschlüsseln. Doch wie ist mit den sehr häufig widersprüchlichen Verhaltensweisen der Tiere umzugehen? Hier heißt es Abschied nehmen von der Vorstellung der „Schwarz-Weiß-Malerei“. Kaum eines der illustren Geschöpfe vertrat nur die dunkle Seite der Laster oder bewegte sich ausschließlich im hellen Glanz der Tugenden. Wichtig ist deshalb immer, die Wort-Bild-Beschreibungen in ihrem Ursprungskontext zu betrachten.

Doch genug der Theorie. Immerhin warten im Bestiarium einhundert Tiere auf fünfhundert Seiten darauf, aus allen Augenwinkeln und unter allen erdenklichen christlichen, fabulösen, pseudowissenschaftlichen Gesichtspunkten erkundet zu werden. Dabei steht keine Bestie hinter der anderen zurück. Sei sie noch so klein wie eine Ameise, so unbedeutend wie ein Schmetterling oder so schändlichen Charakters wie die Fledermaus oder Hyäne.

Schlaflose Nächte und exotische Patchwork-Bestien

Selbstverständlich nehmen domestizierte Nutz-, Alltags-, Jagd- als auch jagdbare Tiere einen breiten Raum im Buch ein. Nur die Vögel erhalten ähnlich viel Aufmerksamkeit. Das Aushängeschild der Flugasse ist natürlich der Adler. Während er unangefochten die Krone des Königs der Lüfte trägt, schmückt sich das Blässhuhn mit dem Titel des weisesten aller Vögel. Die Taube als Verkörperung des Heiligen Geistes hält dagegen den Rekord für die meisten „Posts“ in den mittelalterlichen Aufzeichnungen. Rekordverdächtig tönt nachts auch der stimmgewaltige Gesang der Nachtigall durch die Wälder. Doch nicht um die Menschen oder Artgenossen zu erfreuen, sondern um nicht einzuschlafen. Einer speziellen Methode der Nachtwache bedient sich ebenfalls der Kranich. Nach Sonnenuntergang nimmt er einen Kieselstein in seiner angezogenen Klaue auf. Fällt dieser herab, werden die Artgenossen geweckt. Ganz schön anstrengend, zumal der Stelzenvogel tagsüber als Pygmäen-Reittier herhalten muss.

Löwe und Bär gehörten zum Standardinventar jeden Bestiariums. Da sie häufig in den Menagerien der Fürstenhöfe gehalten wurden, geschah ihre Wiedergabe ziemlich detailgenau. Ganz im Gegensatz zu manch anderem exotischen Wildtier. Tiger nahmen beispielsweise die Gestalt rot getüpfelter Wölfe an, die ganz vernarrt in ihr eigenes Spiegelbild waren. Der gottgefälligen Antilope eignete man zwei Hörner mit Zacken scharf wie Sägeblätter zu. Mit dem Alten und Neuen Testament auf dem Kopf verhedderten sich leider allzu oft im Buschwerk des Herecine-Strauchs, sodass die Jäger leichtes Spiel hatten.

Buchseite aus dem Bestiarium - das Tier in mittelalterlichen Handschriften

Lange Zeit prägte die um das Jahr 623 vom Heiligen Isidor von Sevilla in seiner Enzyklopädie über die Welt veröffentlichte Beschreibung das Bild des Camelopardus. Mit dem Kopf eines Kamels, den Hufen eines Ochsen, dem Hals eines Pferdes, dazu übersät mit weißen Flecken wie ein Leopard, reiste das Patchwork-Steppentier fast ein Jahrtausend lang durch die Buchseiten. Erst nachdem es als ausgefallenes Staatsgeschenk orientalischer Würdenträger den Weg nach Europa fand, erhielt die Giraffe realistischere Züge.

Mittelalterliche Delikatessen

Während ich um Kröten, Schlangen, Spinnen gerne einen großen Bogen mache, nahmen die Buchmaler des Mittelalters alle Arten von hässlichen, glitschigen, abstoßenden Reptilien, Weich- oder Wassertieren in ihr Repertoire auf. Darunter auch drei Delikatessen. Die Schnecke, verrufen als Feigheit in Person, die sich bei nahender Gefahr trotz Hörner in ihr Haus zurückzieht sowie der Aal und das Neunauge. Das Bestiarium verrät uns sogar, wie der Chefkoch des französischen Königs Charles V. die Lampreten zubereitet hat: „Man lasse sie durch den Mund ausbluten, indem man einen Spieß verwendet und die Zunge herauszieht. Das Blut bewahre man, denn es ist fettreich. Man bereite das Neunauge wie einen Aal und brate es am Spieß. Sodann gebe man Ingwer, Zimt, Paradieskörner, Muskat und etwas geröstetes Brot zusammen mit Essig in das Blut, lasse alles gut durchziehen und koche es gut auf. Dann gebe man das Neunauge im Ganzen hinzu.“ Bon appétit!

Buchseite aus dem Bestiarium - das Tier in mittelalterlichen Handschriften

Generell hatten sich die Flossentiere in den tierischen Handschriften mit der Rolle vernachlässigter Randexistenzen abzufinden. Zumeist traten sie lediglich als „Fische“ im Schwarm auf. Nur wenigen Arten wie der Forelle, der Meeräsche oder den Lippfischen war ein eigenes Kapitel vergönnt. Schade, dass außer der sagenhaften Säge mit ihrer gezähnten Rückenflosse und den Riesenflügeln nicht wenigstens der Schiffshalter, dessen Name Programm war, im Bestiarium Berücksichtigung fand.

Artensterben

Kommen wir zur Gattung der sonderbaren Bestien. Ob es sie in der beschriebenen Form je gegeben hat, darf man bezweifeln. Zumindest scheinen Alkyon, Caladrius, Zimtleser & Co. zusammen mit dem Spätmittelalter ausgestorben zu sein. Der Bonnacon ist mit Sicherheit einer der Vierbeiner, der dem Leser längere Zeit im Gedächtnis bleibt. Der Stier mit Pferdemähne, jedoch unbrauchbaren, kringelig-gewundenen Hörner schlägt mit einer ganz eigenwilligen Verteidigungsmethode seine Feinde in die Flucht. Grandioses Anschauungsmaterial liefert hierfür das Bestiarium der Abtei von Petersborough oder Canterbury. In Großaufnahme zeigt es unzensiert den bestialisch brennenden Kotausstoß des Bonnacons, dem die Jäger dank ihres vorgehaltenen Schilds nur mit knapper Not entgehen.

Zu den bezauberndsten Illustrationen des Bestiariums gehört für mich die Szene aus dem französischen Stundenbuch des 13. Jahrhunderts (S. 464). Ein Mönch klammert sich hilflos an einem Ast fest, ein Wildschwein sucht die Konfrontation mit einem Yale, indes am linken Seitenrand der Parandrus das Weite sucht. Der römische Gelehrte Plinius d. Ältere rief das Yale, ein Tier von schwarzer oder braun-gelber Farbe, der Größe eines Nilpferds, mit dem Schwanz eines Elefanten und dem Kiefer eines Ebers im ersten Jahrhundert nach Christus ins Leben. Fürwahr keine Schönheit. Doch im französischen Stundenbuch reift das Yale zu einem liebenswerten Geschöpf. Seinen besonderen Charme verdankt es den beiden um 360 Grad drehbaren Hörnern. Ganz andere Qualitäten besaß der Parandrus. Das Chamäleon unter den Paarhufern beherrschte nicht nur mit Bravour das Farbe-wechsel-dich-Spiel, sondern konnte auch jede x-beliebige Landschaftsform annehmen.

Mischwesen und Doppelnaturen

Von den sonderbaren Tieren ist es zu den mythischen Wesen nicht weit. Zu den bekanntesten Vertretern der Schimären zählten der Basilisk, der Greif sowie der Mantikor. Doch keines der Mischwesen war so gefürchtet wie der Drache. „Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.“ verkündet Johannes in der Offenbarung 12,9. Die Natur des größten Fabelwesens auf Erden ist also durch und durch schlecht. Entsprechend seiner Doppelnatur verlieh man der Inkarnation des Bösen die Gestalt eines schlangenartigen Reptils, das sich entweder auf Löwentatzen fortbewegte oder mit großen Schwingen in die Luft erhob. Als tödliche Waffe setzte es seinen langen und kräftigen Schwanz ein, der sich wie eine Boa um die Opfer schlang und diese zerquetschte.

In Leselaune’s Schlussansichten


„Ein gigantisches und schönes Buch, das sich fast wie ein Ausflug in ein mittelalterliches Kloster zwischen zwei Buchdeckeln anfühlt.“, schrieb die Tageszeitung New York Daily News überschwänglich über das Bestiarium. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Sich gemeinsam mit den Autoren Cristian Heck und Rémy Cordonnier auf eine Reise durch eintausend Jahre Buchmalkunst vom frühen Mittelalter bis zur Spätgotik zu begeben, gehört zum schönsten Zeitvertreib überhaupt.

Jede Seite ist vollgepackt mit Wissen zur Kunst- und Kulturgeschichte, mit Liebe zur Schönheit der Schöpfung und Hingabe für die mittelalterliche Weltsicht im Wandel. Ab sofort sehe ich die Jagd mit völlig anderen Augen. Wer hätte gedacht, dass sie zur Ehrerhaltung und Gesundheitsprophylaxe Heranwachsender dient? Indem sie für Zerstreuung sorgt, beugt sie der Melancholie vor und hält die ehrenhaften Menschen von Orten fern, wo sie“ große Dummheiten“ begehen könnten. Auch die Lektion über die Schafschur als Allegorie zur Rechtfertigung der Steuereintreibung lässt aufhorchen. „Es ist gut, seine Schafe einmal im Jahr zu scheren, zur passenden Jahreszeit und ohne die Haut abzuschürfen, denn zu oft wäre schädlich, und auf bloßem Fleisch wächst keine Wolle.“

Ausgesprochen unterhaltsam sind die öfters im Buch zitierten Heilmethoden der Alternativmedizinerin Hildegard von Bingen, die zwar mit der arglistigen Natur der Maus auf Kriegsfuß stand, sie aber dennoch zur Behandlung ganz unterschiedlicher Leiden empfahl. „So kann sie dazu dienen, die Fallsucht zu heilen, wenn man den Epileptiker Wasser trinken lässt, in dem von Mäusen angefressene Brotstücke eingeweicht wurden, und ihm mit diesem Wasser Gesicht und Füße wäscht.“ Und falls alle Schmerzmittel versagen, „bindet man eine sterbende Maus auf den Rücken der betreffenden Person und lässt sie dort sterben. Der Tod des Tiers nimmt die Schmerzen, ganz als seien diese zusammen mit dem Nagetier verendet.“

Amüsante Fehleinschätzungen

Möglicherweise bin ich ebenso maßlos wie das Wild- und Hausschwein, wenn ich trotz der unermesslichen Themenbreite des Bestiariums dennoch einen Aspekt vermisse. Und zwar ein Kapitel über die Bestiarien als solche. Ihre Ursprünge, Verbreitung, Verfasser oder Auftraggeber werden nur am Rande gestreift. Selbstverständlich erlauben die Bildtexte sich einen Überblick über die noch erhaltenen Exemplare zu verschaffen, dennoch hätte ich mir hierzu ausführlichere Hintergrundinformationen gewünscht. Was hat es mit den Bestiarien der II. Kategorie auf sich? Welche Handschriften gehören zur ersten Kategorie und weshalb? Welche Rolle nehmen die Übergangsversionen ein? 

Dafür liefert das Bestiarium als zeitgeschichtliches Dokument besonders spannende Einsichten über den Stand der Wissenschaft im Mittelalter. So stößt man auf klassische Fehleinschätzungen wie die Zuordnung der Delfine und Wale ins Reich der Fische. Auch die Schildkröte unterlag diesem Irrtum. Dafür gab es keine Zweifel an der Schutzfunktion des Panzers als Symbol der Jungfräulichkeit Mariä. Mit der Koralle tat man sich gleichfalls schwer. Häufig wurde sie als Pflanze und manchmal sogar als Stein eingestuft. Selbst die Spinne bereitete Kopfschmerzen. Zunächst als Wurm betrachtet, verschwägerten die Naturkundler sie später mit den Fliegen aufgrund der Vermutung, dass ihre Nahrung überwiegend aus Luft besteht.

Eine Bibliografie, die Bibliotheken füllt

Passend zu den vielschichtigen Betrachtungen sorgen etwa 600 hochkarätige Abbildungen aus unzähligen Handschriften für perfektes Anschauungsmaterial. Und die Formulierung „unzählig“ ist an dieser Stelle wortwörtlich zu verstehen, denn allein das klein gedruckte Verzeichnis der Reproduktionen erstreckt sich über sechs (!) Seiten. Ähnlich opulent liest sich die Bibliografie. Weit über 500 Schriften und Bücher liegen dem Band als Quellmaterial zugrunde, was allerdings angesichts des namhaften Autoren-Duos nicht verwundert. Prof. Dr. Christian Heck, ehemaliger Direktor des Unterlinden-Museums in Colmar und renommierter Spezialist in Sachen Kunstgeschichte des Mittelalters, sind die brillante Einleitung sowie die fünf thematischen Kapitel zu verdanken. Die einhundert Tierporträts (Vorsicht Suchtgefahr!) stammen aus der Feder des promovierter Kunsthistorikers und Koryphäe in Sachen Tierikonografie, Dr. Rémy Cordonnier. 

Neben der kurzweiligen Sprache beider Autoren lebt der hochwertige Band von seiner Farbenpracht. Inhalt und Design sind auf Augenhöhe, dazu gehört auch der durchdachte Schmuckschuber. Die Bindung ist robust und sorgt trotz des schwergewichtigen Buchumfangs für lang anhaltende Lesefreude. Summa summarum gehört das Bestiarium für mich zu den schönsten und zugleich informativsten Entdeckungen der Kunstbuchlandschaft.


Buchcover Bestiarium; wbg Edition

Bestiarium –
Das Tier in mittelalterlichen Handschriften

Autoren: Christian Heck & Rémy Cordonnier
Verlag: wbg Edition
Übersetzung: (aus dem Französischen)
Gisella M. Vorderobermeier
Erscheinungsjahr: 2020; 1. Auflage
Ausgabe: Hardcover im Schmuckschuber
Umfang: 620 Seiten
ISBN: 978-3-534-27202-0
Preis: 130,00 €

Das Cover als auch die Bilder aus dem Buch sind Eigentum des Verlags, Fotografen bzw. sonstigen Rechteinhabers. Die Buchvorstellung ist unbezahlt und unbeauftragt. Das Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Hierfür ein herzliches Dankeschön. Meine Rezension wurde dadurch nicht beeinflusst.

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert