Ausschnitt Buchcover 1000 ans de parole - la cathédrale Notre-Dame de Strasbourg
auf Reisen,  in Frankreich,  in Leselaune

La Cathédrale Notre-Dame de Strasbourg – 1000 Ans de Parole

„Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht,“ entgegnete Jesus dem Satan auf dessen Verführungskünste im Matthäusevangelium 4,4.

Während es im Alten Testament zu den Aufgaben der Propheten gehörte, das Wort des Allmächtigen zu verkünden, sorgte mit der Menschwerdung Gottes Jesus Christus selbst für die Verbreitung der christlichen Lehre. Seine unmittelbare Nachfolge traten die Apostel an, bevor die vier Evangelisten die Fortsetzung von Gottes Werk schriftlich niederlegten. Im Mittelalter kamen nur wenige Gesellschaftsschichten in den Genuss von Bildung. Das Lesen der Heiligen Schrift war in erster Linie dem Klerus und dem Adel vorbehalten. Zudem wurden die Messen und Predigten durchgehend in lateinischer Sprache abgehalten. Dem Durchschnitts“bürger“ blieben also lediglich die grandiose Bau- und Handwerkskunst, um der göttlichen Botschaft teilhaftig zu werden. So gesehen, erfüllt(e) das Liebfrauenmünster von Straßburg seine Aufgabe als Gottes Sprachrohr auf geradezu beispiellose Art und Weise.

1000 Ans de Parole1000 Jahre Gottes Wort


Keine der unzähligen Publikationen über die Straßburger Kathedrale setzte sich bislang mit der symbiotischen Beziehung zwischen Gottes Wort und seiner figurativen Wiedergabe so intensiv auseinander wie der französischsprachige Bildband La Cathédrale Notre-Dame de Strasbourg – 1000 Ans de Parole. Das 2014 erschienene, großformatige Buch (34,5 x 25,5 cm) schließt damit eine bedeutende Lücke. Es stellt die Heilige Schrift dem künstlerischen Reichtum des Münsters in Form von Skulpturen, Glasfenstern, Tapisserien und Goldschmiedearbeiten gegenüber.

Im Vorwort skizziert der Erzbischof von Strasbourg, Jean-Pierre Gallet, treffend die gegensätzlichen Arten von gebautem Erbe. Einerseits verweist er auf die durch und durch funktionellen, jedoch stummen Gebäude und andererseits auf die Bauwerke, die zu den Menschen sprechen. Den Steinmetzen und Kunsthandwerkern des Mittelalters gelang es, beide Aspekte in ihrer Arbeit zu vereinen. Vordergründig schufen sie ästhetische Sakralstätten zur Ehre und zur Verkündung des Wort Gottes. Doch gleichzeitig instrumentalisierten sie sie als Werkzeuge, um dem einfachen Volk einen verständigen Zugang zur Heiligen Schrift und den Apokryphen zu ermöglichen.

Dafür wählten die Meister ihrer Kunst verschiedenartige Materialien wie Stein, Glas, Webstoffe oder Metalle. Auch in Stilmittel und Ausdrucksform unterschieden sie sich beträchtlich. Ihre Bildsprache reichte von einzelnen Figuren über Allegorien bis hin zu komplexen, narrativen Darstellungen. Diese grandiosen Kunstschätze finden sich im Buch in weit über 300 Abbildungen aus dem Fotoarchiv des Kapitelältesten Bernard Eckert wieder. Dazu passend begleiten die Texte von Michael Wackenheim (Erzpriester der Kathedrale von 2009 – 2021) die Leserschaft auf einer kurzweilige Reise durch das Alte und Neue Testament.

Vertiefende Kurzausflüge in die christliche Welt incl. musikalischem Rahmenprogramm

Zusätzlich erfahren biblische Schlüsselszenen sowie Persönlichkeiten der Heiligen Schrift in gut einem Dutzend farblich abgesetzter Exkurse eine besondere Würdigung. Neben der Jungfrau mit Kind, der Heiligen Familie oder den Aposteln erhält hier auch der unbezwingbare Simson seine Anerkennung. Geflügelte Engel wehren sich gegen die Erscheinungsformen des Teufels, während in einem weiteren Einschub das Kreuz als Symbol des christlichen Segens im Fokus steht. Den Abschluss der thematischen Einschübe bilden die Verdammten und Auserwählten des Jüngsten Gerichts.

Perfekt ergänzt wird das 270 Seiten umfassende Kathedralen-Druckwerk von einer Musik-CD, die über eine Stunde mit virtuosem Orgelspiel, Chorälen, gregorianischen Gesängen und Glockengeläut aus dem Straßburger Münster verzaubert.

Exkurs "bestiaire" aus dem Bildband 1000 ans de parole - die Kathedrale von Strassburg

Im Buch unterwegs


1000 Jahre Gottes Wort – 1000 Ans de Parole – nehmen ihren Anfang mit der Schöpfungsgeschichte. In den ersten vier Tagen sorgte Gott für Licht, ein Himmelsgewölbe samt Sonne, Mond und Sternen sowie für Land, Wasser, Pflanzen und Bäume auf der Erde. Am fünften und sechsten Tag widmete er sich den Geschöpfen des Meeres, des Himmels und der Erde. Zunächst kamen alle Arten von großen Seetieren und anderen Lebewesen, von denen das Wasser wimmelt, und alle Arten von gefiederten Vögeln an die Reihe, bevor Vieh, Kriechtiere und Tiere des Feldes das Land bevölkerten. Gott segnete sie und sprach, seid fruchtbar und vermehret euch. Erst danach schuf Gott den Menschen und übertrug ihm das Privileg über die Tiere zu herrschen.

Das Hauptportal der Westfassade erzählt besonders anschaulich die Erschaffung der Welt. Zwei breitmaulige Fische zeigen sich zu Füßen des Schöpfers, diverse Stelzen-, Raub- und Greifvögel besiedeln die Felsnischen. Schwalben und Mauersegler suchen nach Nistmöglichkeiten und selbst Eule und Hahn wurden nicht außer Acht gelassen. Auch der sechste Schöpfungstag zeichnet sich durch die Harmonie unter den Tieren aus. Der prächtige Löwe hat nur Augen für den Betrachter. Der Hase und die Gämse oder Ziege brauchen ihn ebenso wenig zu fürchten wie der kleine Trupp Schafe. Nur die Eidechse hält sich auf Sicherheitsabstand zur Schlange, die die Gesellschaft von Elefant und Giraffe bevorzugt. Dazwischen gönnen sich zwei Affen eine Stärkung, wogegen sich Wildschwein, Pferd und eine Kreuzung aus Nilpferd und Tapir neugierig beäugen.

An dieser Stelle war die Welt noch in Ordnung. Dann kam es zum Sündenfall und vorbei war es mit der Eintracht zwischen Mensch und Tier. Plötzlich ekelte und fürchtete sich der Mensch vor den wilden Bestien. Misstrauen breitete sich aus und Tiere wurden als Opfer dargebracht, um den Schöpfer mit all den menschlichen Fehltritten auszusöhnen.

Die Mission der Tierwelt in der Bibel und an der Kathedrale

Erst die Ankunft Jesu sollte den Urzustand wiederherstellen, den der Prophet Jesaja so hinreißend beschrieb: „Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter.“ (Jesaja 11,5-8)

Die Westfassade ist allerdings nicht der einzige Aufenthaltsort der tierischen Kreaturen, wie uns der Einschub zum Thema „Bestiaire“ verrät. Die gesamte Münsterfassade wimmelt nur so von schuppigen, gefiederten, kriechenden, gehörnten, zahmen oder wilden Zwei- und Vierbeinern. Das hat seinen guten Grund, denn die Fauna zeigt sich hier keineswegs zum Selbstzweck. Ihre Mission ist es, abstrakten menschlichen Charaktereigenschaften ein Gesicht zu geben, um Tugend und Sünde leicht voneinander zu unterscheiden.

Im Laufe des Mittelalters erhielten die einstmals von Gott gesegneten Wesen zunehmend dämonische Züge. Zu den wenigen Ausnahmen, die von dem negativen Wandel der Betrachtungsweise verschont blieben, zählten das Lamm als Symbol des Menschensohns, die Taube als Emblem des Heiligen Geistes sowie der Storch. Hoch oben über dem Baldachin der Reiterstatue des Sonnenkönigs hat er seinen Platz mit Aussicht gefunden. Doch wer in der schlanken Silhouette nur die profane Verkörperung von Frühlingserwachen und Fruchtbarkeit sieht, der täuscht sich. Denn sogar hinter dem Wappentier des Elsass verbirgt sich eine biblisch-moralische Botschaft. „Selbst der Storch am Himmel kennt seine bestimmten Zeiten; Turteltaube, Schwalbe und Kranich halten die Zeit ihrer Wiederkehr ein; aber mein Volk kennt die Rechtsordnung des Herrn nicht!“, mahnt der Prophet Jeremia das Götzen anbetende Volk von Jerusalem vor der unerbittlichen Strafe Gottes.

Die Bibel im kunstgeschichtlichen Schnelldurchlauf

Nach der Schöpfung folgt die Sintflut und daran anschließend die Erzählungen über die Stammväter, Propheten und Könige. Mit dem Stammbaum Jesu lassen wir das Alte Testament hinter uns. In den folgenden acht Kapiteln erfahren wir, mit welcher Kunstfertigkeit die Ereignisse als auch Botschaften des Neuen Testaments Eingang in die Bilderwelt am Straßburger Münster fanden.

Vor allem dank der Tapisserien aus dem 17. Jahrhundert, die ursprünglich von Kardinal Richelieu für die Cathédrale de Notre-Dame von Paris in Auftrag gab, lernen wir Jesu Familie kennen, machen uns mit seiner Kindheit vertraut und nehmen teil an seinem Eintritt ins öffentliche Leben. Daran schließt sich die nur dreijährige Zeit der Predigten und unzähligen Mysterien an. Die Bogenfelder des Hauptportals sowie die Glasfenster des Südschiffes legen ein reichhaltiges Zeugnis der Heilungs-, Rettungs-, Auferweckungs- und Geschenkwunder ab. Die Stillung des Sturms (Matthäus 8,23-24) mit dem schlafenden Jesus und den in helle Aufregung versetzten Jüngern gehört dabei zu den schönsten Bildern. Selbstverständlich erhält auch der klein gewachsene Zöllner Zachäus seinen Auftritt im Geäst des Maulbeerfeigenbaums, um von dort aus einen besseren Blick auf den Menschensohn zu erhaschen.

Kurz nach dem triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem am Palmsonntag nimmt die Passionsgeschichte bis hin zur Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christus ihren Lauf. In diesem Zusammenhang beschenkt uns 1000 Ans de Parole gleich mit mehreren kunsthistorischen Raritäten. Sowohl die Laurentiuskapelle als auch das nördliche Querschiff sind in der Regel für den Publikumsverkehr gesperrt. Deshalb bieten die Detailaufnahmen der dortigen Glasfenster sowie der überdimensionalen Skulpturengruppe des Ölbergs „Mont des Oliviers“ aus dem Jahr 1498 besonders wertvolle Einblicke. Mit der Himmelfahrt Jesu, besonders realistisch im Tympanon des Mittelportals wiedergegeben, und dem Jüngsten Gericht endet der kurzweilige Ausflug durch Gottes Werk und Lehre am Straßburger Münster.

In Leselaune’s Schlussansichten


Lange Zeit galt die Straßburger Kathedrale dank ihres filigranen gotischen Erscheinungsbildes und des 142 Meter hohen Nordturms als das Nonplusultra sakraler Architektur. Zwar büßte sie im Jahr 1874 den Nimbus als höchstes Gebäude der Welt ein, doch schmälerte dies keinesfalls die universelle Bewunderung für ihre Ausstattung und reichhaltige Ikonografie. Als 2015 das Millennium der Grundsteinlegung gefeiert wurde, erschienen im elsässischen Verlag Éditions du Signe gleich zwei außergewöhnliche Bücher über das Liebfrauenmünster. Außergewöhnlich deshalb, weil beide neue Wege beschritten, um die steinerne Ausnahmeerscheinung mit ganz anderen Augen zu sehen.

Während Du Génie Humain à L’Éclat Divin mich von der ersten Seite an als kurzweiliges Objektbuch begeisterte, punktet La Cathédrale Notre-Dame de Strasbourg – 1000 Ans de Parole mit einer ganz und gar innovativen Themenwahl. Weder der Baugeschichte noch der handwerklichen Meisterleistung widmet das Autorenduo seine Aufmerksamkeit, sondern dem Bild gewordenen Wort Gottes.

Musik-CD aus dem Buch 1000 ans de parole - la cathédrale Notre-Dame de Strasbourg

Das schwergewichtige Buch führt uns in einem ausgewogenen Zusammenspiel durch die Heilige Schrift und schult gleichzeitig den Blick auf die Kunstschätze der Kathedrale. Bewundernswert ist dabei die Vielfalt der zusammengetragenen Aufnahmen der unterschiedlichen Kunstformen. So bleibt die göttliche Botschaft im Skulpturenschmuck, in wunderschönen Goldschmiedearbeiten, 1500 m2 Glasfenstern, 14 Wandteppichen sowie den Wandmalereien des Chorraums dauerhaft lebendig. Dazu erhält der Leser als besonderen Service den exakten Standort jedes abgebildeten Kunstwerks und die zitierten Bibelstellen genannt. Welch exzellente Idee, um nicht „irre in wegloser Wüste und in der Finsternis ohne Licht zu tappen“, um mit den Worten Hiobs zu sprechen.

La Cathédrale Notre-Dame de Strasbourg – 1000 Ans de Parole überzeugt durchgängig in Aufmachung und inhaltlicher Qualität. Ein Blickfang mit musikalischem Mehrwert als wohldurchdachte Hommage zum 1000. Jahrestag der Kathedrale.
Ich empfehle deshalb unbedingt zunächst die CD einzulegen und sich dann erst in Begleitung der abwechslungsreichen musikalischen Untermalung, dem visuellen und literarischen Vergnügen hinzugeben.


Buchcover 1000 ans de parole - la cathédrale Notre-Dame de Strasbourg

La Cathédrale Notre-Dame de Strasbourg –
1000 Ans De Parole

Kategorie: Bildband
Autoren:
Michel Wackenheim (Text)
Bernard Eckert (Fotografien)
Verlag: Éditions du Signe
Erscheinungsjahr: 2014; 1. Auflage
Ausgabe: Hardcover
Umfang: 270 Seiten
Sprache: Französisch
ISBN: 978-2-7468-3193-3
Preis: 39,00 €

Das Cover als auch die Bilder aus dem Buch sind Eigentum des Verlags, Fotografen bzw. sonstigen Rechteinhabers. Die Buchvorstellung ist unbezahlt und unbeauftragt. Das Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Hierfür ein herzliches Dankeschön. Meine Rezension wurde dadurch nicht beeinflusst.

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert