Einblicke ins Zwischenkokelgebiet
Einblicke ins Zwischenkokelgebiet
Mit Erscheinen des ersten Bandes Das Burzenland im Jahr 2000 setzte Autor und Herausgeber Martin Rill neue Maßstäbe bei der Bestandsaufnahme des siebenbürgisch-sächsischen Kulturerbes. Danach fand die großformatige und schwergewichtige Symbiose aus textlicher, historischer Aufarbeitung und bildlicher Dokumentation mit Hermannstadt und das Alte Land im westlichen sowie Das Repser und das Fogarascher Land im östlichen Siedlungsgebiet der Siebenbürger Sachsen ihre stimmige Fortsetzung. Mittlerweile ist die mehrjährige Durststrecke für die erwartungsgespannte Leserschaft überstanden, denn mit Einblicke ins Zwischenkokelgebiet nahm die fotografische Recherche-Reise 2018 wieder Fahrt auf.
Dieses Mal besuchen wir mit Martin Rill 36 Landgemeinden in der einstigen politische Sandwichregion zwischen freiem Königsboden im Süden und adligem Komitatsboden im Norden. Heutzutage geht es in den malerischen Seitentälern zwischen Großer und Kleiner Kokel gemächlich-beschaulich zu, doch noch vor wenigen Hundert Jahren war es mit der Idylle nicht weit her. Mit Ausnahme von acht Enklaven-Dörfern, die von den verbrieften Rechten und Privilegien des Andreanums profitierten, befand sich das Zwischenkokelgebiet nämlich fest in adliger Hand. Und mit fest meine ich fest, denn über ein halbes Jahrtausend zogen die ungarischen Grundherren die Zügel ihrer mittelalterlichen Feudalstrukturen einschließlich Leibeigenschaft, Frondienst und Willkürherrschaft immer weiter an. Dadurch waren die Konflikte vorprogrammiert.
Zwischenkokelgebiet
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Baaßen – Bazna
Belleschdorf – Idiciu
Bogeschdorf – Băgaciu
Bonnesdorf – Boian
Bulkesch – Bălcaciu
Durles – Dârlos
Elisabethstadt – Dumbrăveni
Felldorf – Filitelnic*
Großalisch – Seleuş
Großprobstdorf – Târnava
Halwelagen – Hoghilag
Hohndorf – Viişoara
Irmesch – Ormeniş*
Johannisdorf – Sântioana*
Kirtsch – Curciu
Kleinalisch – Seleuş*
Kleinblasendorf – Blăjel
Kleinlasseln – Laslau Mic*
Kleinprobstdorf – Târnăvioara
Langenthal – Valea Lungă
Maldorf – Domald*
Maniersch – Măgheruş*
Marienburg – Hetiur*
Michelsdorf – Veseuş
Nadesch – Nadeş*
Pruden – Prod
Puschendorf – Păucea
Reußdorf – Cund*
Rode – Zagăr*
Schmiegen – Şmig
Schönau – Şona
Seiden – Jidvei
Taterloch – Tătârlaua
Wölz – Velţ
Zendersch – Senereuş*
Zuckmantel – Ţigmandru*
Die rot gekennzeichneten Gemeinden gehörten zum freien Königsboden.
Zweigeteilte Ortschaften sind entsprechend farblich markiert.
Die mit einem * versehenen Siedlungen gehörten zur Interessenvertretung der sogenannten 13 Dörfer.
Die besondere Situation auf Komitatsboden
Allerdings findet man sich als Leser zunächst in einem streitfreudigen Dschungel der Adelsgeschlechter wieder, in dem Besitztümer, Grundstücke, Nutzungsrechte, ja sogar ganze Dörfer wie Waren auf dem Markt gehandelt wurden. Schenkungen und adliger Tauschhandel gingen mit Erbstreitigkeiten und Gerichtsverfahren einher, während fehlende Nachkommen und häufige Eigentümerwechsel weitere Auseinandersetzungen nach sich zogen. Zum Teil ergaben sich daraus irrwitzige Besitzverhältnisse wie in Bulkesch und Seiden. Die westliche Hälfte des Dorfes gehörte dem König, der östliche Part befand sich in Adelshand, dazwischen die Einwohner als Spielbälle beider Parteien. Da fielen die Bedrohungen von außen kaum mehr ins Gewicht.
In der Tat blieb die abgeschiedene Region von den andernorts in Siebenbürgen wütenden Dauereinfällen feindlicher Truppen weitgehend verschont. Dennoch war den Gemeinden zwischen den beiden Kokeln nur eine bescheidene Wirtschaftskraft vergönnt. Die Dorfbewohner besaßen neben minimalen Ackerflächen, die kaum zum Lebensunterhalt einer Familie ausreichten, lediglich Nutzungsrechte für Wälder und Weideflächen. Als Gegenleistung dafür mussten sie dem Adelsherrn Hand- und Spanndienste auf dessen Besitz leisten. Die Armutsschere ging immer weiter auseinander.
Nachdem der Adel Mitte des 18. Jahrhunderts den Frondienst auf vier Tage die Woche erweitert hatte, spitzte sich die Lage zu. Die wirtschaftliche Not wurde unerträglich. Das Elend brachte das Fass zum Überlaufen und das siebenbürgisch-sächsische Kämpferherz auf die Barrikaden. 13 Dörfer schlossen sich zusammen, um zunächst unter Ausnutzung aller verfügbaren rechtlichen Instanzen den Adel in seine Schranken zu verweisen. Doch der Erfolg war bescheiden. Also half nur bewaffneter Widerstand und ein Vorstoß bei Kaiserin Maria Theresia höchstpersönlich. Beide Aktionen erwiesen sich leider als Bärendienst für die Aufständischen.
Politische und wirtschaftliche Berg- und Talfahrt im Zwischenkokelgebiet
Erst die Abschaffung der erblichen Leibeigenschaft im Jahre 1848 brachte die lang ersehnte Freiheit. Zwar mussten die Gutsherren für den Verlust der kostenfreien Arbeitskraft entschädigt werden, doch die neu gegründeten Vorschussvereine und Raiffeisenbanken halfen den Dorfbewohnern wieder auf die Beine. Sogar die Reblauskrise Ende des 19. Jahrhunderts meisterten die im Aufschwung befindlichen Gemeinden in vereinter Kraftanstrengung.
Allerdings ließ der nächste Rückschlag mit der Agrarreform von 1921 nicht lange auf sich warten. Die Enteignung von Kirchenbesitz, eine erhöhte Steuerlast und das Herausdrängen der Siebenbürger Sachsen aus offiziellen Ämtern riefen ein unheilvolles Déjà-vu hervor. Dies wiederum resultierte unter Teilen der deutschsprachigen Minderheit in einer politischen Radikalisierung zugunsten der nationalsozialistischen Erneuerungsbewegung. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs mussten alle sächsischen Familien dafür die Zeche zahlen. Zwangsarbeit, Deportation, Enteignung sorgten dafür, dass bis 1989 bereits 50 % aller Siebenbürger Sachsen ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatten. Die restliche Mehrheit der verbliebenen Minderheit folgte nach Grenzöffnung, sodass in den meisten Gemeinden heute nicht einmal mehr eine Handvoll Sachsen anzutreffen ist.
Diese schleichende Abwesenheit blieb auch für die gewachsenen Dorfstrukturen und das gebaute Erbe nicht ohne Folgen. Mit Einblicke ins Zwischenkokelgebiet dokumentiert Historiker Martin Rill in einer höchst dringlichen Momentaufnahme, wie es heute um das sächsische Kulturerbe in den 36 Orten steht. Nach der einstimmenden Ortsmonografie, die uns im gestreckten Galopp durch die Besitzverhältnisse, Lebensumstände und einschneidenden Vorkommnisse jeder Gemeinde führt, schließt sich deshalb ein fotografischer Ausflug vom siebenbürgisch-sächsischen Makro- zum Mikrokosmos an, der erst mit dem Blick auf die Schätze hinter ansonsten verschlossenen Sakristeitüren oder mit halsbrecherischen Akrobatikübungen im Glockenstuhl endet.
Im Buch unterwegs
Auf der 324-Seiten umfassenden Reise durch die Landgemeinden treffen wir je nach geografischen Rahmenbedingungen auf lang gezogene Straßen- oder kompakt angelegte Angerdörfer. Den Ortskern dominiert jeweils die evangelische Kirche. Oder das, was von ihr übrig ist. Während sich die Dorfstruktur, unabhängig von den ungleichen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen auf Komitats- und Königsboden, nahezu analog entfaltete, präsentiert sich die Kirchenburgenlandschaft ungewöhnlich inhomogen.
Klassische Wehrkirchen wie in Baaßen, Bogeschdorf, Bonnesdorf oder Bulkesch bildeten in den Seitentälern der beiden Kokeln eher die Ausnahme. Selbst ein mit Wehrgang, Wehrturm oder Bastei ausgestatteter Mauerring war vielerorts keine Selbstverständlichkeit. Diesen Luxus konnten sich mehrere Gemeinden auf Komitatsboden schlichtweg nicht leisten. Offensichtlich stand es auch um die Qualität des Baumaterials nicht zum Besten. Das hatte zur Folge, dass zahlreiche Gotteshäuser aus dem 15./16. Jahrhundert bereits 400 Jahre später rundumerneuert oder sogar abgerissen werden mussten. Deshalb halten sich heute die wehrhaften Kirchenburgen und die „wehrlosen“ Neubauten in diesem Landstrich die Waage.
Allerdings garantierte auch ein Neubau keine Beständigkeit. Manche Kirche, die erst vor 100 Jahren aufwendig umgestaltet wurde, erfährt heute keine Nutzung mehr. Der Exodus der letzten Gemeindeglieder sowie der natürliche Lauf des Lebens entriss den Kirchen ihren Lebensinhalt. Seitdem kämpfen sie bestimmungslos jeden Tag um ihr Überleben. Manche haben Glück, finden Aufmerksamkeit, finanzielle Zuwendung und helfende Hände. Andere wiederum verharren in Schockstarre angesichts ihrer ungewissen Zukunft. Noch mehr schmerzen die Bilder aus Belleschdorf, Felldorf, Michelsdorf, Reußdorf und Wölz. Hier haben Aufgabe und Vergessen schon lange die Oberhand gewonnen. Doch manchmal geschieht ein Wunder oder ein „Phoenix“ steigt aus der Asche wie in Felldorf. Aber das ist eine andere Geschichte.
Schönheit und Verfall liegen eng beieinander
Baaßen macht den Auftakt in diesem Band. Und was für ein Auftakt! Wunderschöne Aufnahmen einer imposanten Kirchenburg zeugen vom einstigen Wohlstand der freien Gemeinde. Als primäre Wirtschaftsmotoren dienten das Baaßner Schwein und der Baaßner Wein. Dazu sorgten unverhoffte Gasvorkommen sowie mehrere salzhaltige Mineralquellen für Furore. Beide Entdeckungen wurden mit dem Bau eines Kur- und Heilbads sowie dem Verkauf von Jodsalz bestmöglich vermarktet. Und dann gab es noch die nicht zu unterschätzende Macht der Heiligen Dreifaltigkeit mit dem gravierten Versprechen auf der großen Nikolausglocke, die alle gewitterbringenden Winde bannen konnte.
Auch in Bogeschdorf zeigt sich eindrücklich, dass die Zauberworte freier Königsboden gleichbedeutend mit wirtschaftlicher Entfaltung waren. Die sächsischen Siedler scheuten weder Kosten noch Mühen, um im 15. Jahrhundert eine der imposantesten Wehrkirchen des Landstrichs hochzuziehen. Dabei steht der äußeren Schönheit die reichhaltige Innenausstattung mit Wandfresken, Flügelaltar, Schmuckkapitellen und geschnitzten Chorgestühlen in nichts nach.
Tristesse pur hat sich dagegen in Belleschdorf ausgebreitet. Für die evangelische Kirche mit dem ehemals schmucken Glockenturmdach schlug schon vor einigen Jahren die letzte Stunde. Das Dach ist eingestürzt, der Innenraum ein Ort der Verwüstung. Anfang der 1990-er Jahre hätte es noch eine Perspektive für das Gebäude gegeben. Die orthodoxe Kirche hatte vorgeschlagen, das Gotteshaus zu übernehmen. Doch das Angebot wurde kategorisch abgelehnt, obwohl die evangelische Gemeinde nur noch sechs Glieder zählte. Wovor hatte man Angst? Dass ein anderer Geist oder Gott in die Gemäuer einziehen würde? Ist Verfall anstatt alternativer Nutzung tatsächlich die bessere Lösung? Als ich eine Seite weiterblättere, schnürt sich mir beim Anblick des Friedhofs bzw. dessen, was sich die Natur noch nicht zurückerobert hat, der Hals zu. Allerdings ist Belleschdorf kein Einzelfall. In jeder dritten Gemeinde im Zwischenkokelgebiet bieten die Orte der ewigen Ruhe einen ähnlich bedrückenden Anblick.
Altar- und sakrale Farblandschaften
Wenden wir uns erfreulicheren Szenerien zu und schauen uns die Innenausstattung der Kirchen näher an. Sofort fällt auf, dass Ädikula-Altäre im Zwischenkokelgebiet groß in Mode waren. In beinahe der Hälfte aller Gotteshäuser trifft man auf die säulengerahmten Exemplare, wobei verspielte barocke und strenge klassizistische Ausführungen überwiegen. Neugotische Altäre setzen nur in ganz wenigen Kirchen Akzente.
Apropos Akzente. Maldorf, eine der kleinsten Gemeinden im Buch, überrascht mit einer überwältigenden Farbexplosion des Kircheninventars. Türkis ist Trumpf – vom Altar über das Chorgestühl und die Emporen bis zu den Sitzbänken und Kleiderhaken. Ebenso farbenfroh geht es in Marienburg zu, wobei hier sogar Orgelprospekt und Kanzeldeckel ihr hellblaues Wunder erlebten. Wesentlich ältere und wertvollere Malereien haben sich dagegen in Durles erhalten. Nicht nur die Innenwände des Chorraums schmücken vielgestaltige Wandgemälde, selbst an der Außenwand lassen sich großflächige Freskenfragmente bewundern.
Klerikale Fehltritte
Wie es sich für einen Dokumentationsband gehört, berichtet Martin Rill absolut wertungsfrei von einer ganzen Reihe klerikaler Fehltritte im Zwischenkokelgebiet. Das hindert den Leser natürlich nicht daran, über die menschlichen Schwächen der Gottesvertreter auf Erden zu schmunzeln oder den Kopf zu schütteln.
Im Gegensatz zum heutigen laxen Umgang mit Missständen in der Kirche herrschte vor einigen Jahrhunderten noch eine Null-Toleranz-Politik. In Irmesch musste der Pfarrer seinen Hut nehmen, weil er mit dem reformatorischen Glauben auf Kriegsfuß stand und sein Verhalten bei der Kanzelpredigt entsprechend zu wünschen übrig ließ, während der Felldorfer Pastor völlig vom rechten Weg abkam. Neben schlechter Finanzwirtschaft wurden ihm Mängel bei der Pflichterfüllung des Gottesdienstes, des Religionsunterrichts und des Ehegelübdes vorgeworfen. Pfarrer Michael Schuller lebte seit vier Jahren getrennt von seiner Frau und ließ sich auch durch den Bischof nicht zur Aufnahme der Ehe bewegen. Wer weiß schon, welche Beweggründe er für sein Verhalten hatte. Womöglich wurden nicht nur in Irmesch die Männer von ihren Frauen geschlagen?
Doch das waren nicht die einzigen Verstöße, die die Kirchenvisitationen zutage förderten. Den Geistlichen mangelte es öfters an Motivation und Tatkraft. 15 Jahre vernachlässigte der Pfarrer in Kleinprobstdorf seine Predigeraufgabe, wofür er mit einer satten Geldbuße belegt wurde. Mit einer glimpflicheren Strafe kam der Priester in Puschendorf davon. Als bekannt wurde, dass ihm nur vier Gemeindeglieder nicht der Mühe wert erschienen, die sonntägliche Predigt zu halten, musste er fortan gottesdienstliche Überstunden leisten. Volksnah zeigte sich hingegen das geistliche Oberhaupt der Kleinblasendorfer Gemeinde. Ganz nach dem Motto Feste soll man feiern, wie sie fallen, war der Ostersonntag ein willkommener Anlass, um nach dem Gottesdienst mit Freunden lang im kirchlichen Weinkeller zu verweilen. Wundert es da, dass derselbe Pfarrer als wenig beispielhafte Lichtgestalt, vier Jahre später Amtshilfe anforderte „wider die ungehorsamen Kirchenkinder„?
Ein haariges Problem
Ein wirklich haariges Problem hatten dagegen die jungen Burschen in Kirtsch. Sowohl 1650 als auch 1651 trugen sie ihr Haar zu lang, woraufhin man ihnen das Heilige Sakrament versagte. Keine Nachsicht duldeten die Kirchenoberen auch bei nächtlichem Um-die-Häuser ziehen. Zur Abschreckung drohte man den Herumtreibern im Falle eines vorzeitigen Ablebens, sie ohne Glockenklang und Kirchenbräuche zu beerdigen. Keine Kirchen- dafür seltsame Bräuche hatten im 18. Jahrhundert in Seiden Einzug gehalten. Von einem unappetitlichen fastnächtlichen Spektakel, dem Gansabreiten, und dem nicht weniger blutigen Hahnenschießen ist die Rede. Dieses Halbstarken- Kräftemessen unterband die Kirchenkommission ebenso wie das Tragen des Pfarrers am Ostersonntag durch den Ort.
In Leselaune’s Schlussansichten
Einblicke ins Zwischenkokelgebiet nennt Martin Rill viel zu bescheiden den vierten Band seiner Inventarisierung der sächsischen Kulturlandschaft in Siebenbürgen. Auch diese Ausgabe lässt hinsichtlich Bandbreite, Detailtiefe und Umfang keine Wünsche offen und schließt damit nahtlos an die hohe Qualität seiner Vorgänger an. Insofern wird der Titel Einblicke dem Inhalt nicht gerecht. Die gründlich recherchierten Ortsmonografien, die aussagekräftigen Fotografien sowie die ausführlichen Bildlegenden gehen weit über eine flüchtige Einsichtnahme hinaus.
Vielmehr halte ich ein ausgesprochen wertvolles Schatzbuch des siebenbürgisch-sächsischen Kulturerbes in meinen Händen. Als Nachschlagewerk ist der Dokumentationsband ein unentbehrlicher Mosaikstein im kollektiven Gedächtnis der noch lebenden und aller zukünftigen Sachsen-Generationen, die die Geschichte ihrer Vorfahren und ihres Heimatdorfes nicht dem Vergessen überlassen wollen. Gleichzeitig schenkt der Bildband jedem, der Interesse am Lebenswerk der einstigen deutschen Mehrheit im Landstrich zwischen Großer und Kleiner Kokel besitzt, unvergleichliche Erkenntnisse.
Ich werde deshalb nicht überdrüssig, Kapitel für Kapitel, die Zahlen und Fakten der letzten landwirtschaftlichen Erhebung mit dem exakt nach Tierart aufgeschlüsselten Viehbestand oder die Verteilung der Gesamtgemarkung auf Gärten, Wiesen, Ackerflächen, Weinberge, Weiden und Wald sowie die Bevölkerungsentwicklung einschließlich der ethnischen Zusammensetzung im Verlauf des letzten Jahrhunderts zu lesen.
Von halben Ochsen, Zusatzqualifikationen und Nebenjobs
Das Buch verdient, dass man sich Zeit nimmt, um all die wundervollen Einzelheiten und erhellenden Momente zu genießen. Und weil ich davon dermaßen begeistert bin, kann ich nicht umhin, hier noch ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern.
So erfahren wir von Martin Rill, dass nicht nur in Seiden, sondern auch in Klein- und Großprobstdorf einheitliche Regelungen zur Entlohnung von Zusatzqualifikationen existierten. So erhielt der Hermannstädter Bürgermeister für das Ausüben des Richteramts in seinen Grundherrschaften von jeder Gemeinde ein Fass Wein, ein Maß Korn und Hafer sowie von jedem Mann ein Huhn. Auch der Kokelburger Kastellan forderte von seinen Hörigen in Taterloch einmal jährlich eine reichliche Naturalienabgabe. Neun Kübel Korn, 18 Kübel Hafer, 120 Eimer Most, drei Mastschweine, anderthalb (!) dreijährige Ochsen, anderthalb (!) Lämmer, Fische, Öl, Erbsen und Bohnen mussten die Bewohner des knapp 200-Seelen-Dorfes ihrem Grundherrn übergeben. Und während es sich die einen gut gehen ließen, mussten sich andere mit Zweitjobs über Wasser halten, denn ohne den Scher-Lohn für nebenberufliche Friseurdienste in der Schule wäre es um die Lehrer schlecht gestellt gewesen.
Dafür genossen sowohl Lehrer als auch Pfarrer in Zendersch ein besonderes Privileg. Die Vertreter beider Berufsgattungen liegen auf dem Friedhof in unmittelbarer Nähe des Tornazken, also des Pavillons für die Blaskapelle begraben. Da frage mich natürlich, ob die Pfarrer hofften, von dieser bevorzugten Lage aus die Posaunen der himmlischen Heerscharen besser hören zu können?
Dem detail-geschulten Auge des Autors verdanken wir außerdem einen gewitzten Fassadenspruch an einem Bauernhaus in Schönau. Ich habe gebaut nach meinem Sinn und es gefällt mir wohl darin gar mancher schaut’s und tadelt dran er macht es besser, wenn er kann. Hut ab vor diesem gesunden Selbstbewusstsein des Bauherrn!
Gelernte Lektionen und Zukunftswünsche
Abschließend möchte ich Euch nicht vorenthalten, was ich bei der Lektüre wieder dazugelernt habe: Sedilien sind steinerne Sitznischen im Altarraum, Putzlisensen schmückende Mauerblenden an Gebäuden, Robot Fronarbeit ohne Zugvieh und Teppiche sind nicht gleich Teppiche. Martin Rill stellt uns Doppelnischen-, Holbein und Lotto-Teppiche vor, wobei Lotto-Teppiche ebenso wenig mit Glücksspiel zu tun haben, wie der Maler Hans Holbein die nach ihm benannte Teppichvariante selbst geknüpft hat. Allerdings wurden die anatolischen Knüpfwerke nach diesen Künstlern benannt, weil diese die klein- und großmustrigen Teppiche zuerst auf ihren Gemälden verewigt hatten.
Wenn es bei Einblicke ins Zwischenkokelgebiet etwas zu bemängeln gibt, dann nur, dass dieses Mal die Kirchenburgen in der Außendarstellung ein wenig zu kurz kommen. Zumindest für mein persönliches Empfinden, was natürlich daran liegen mag, dass ich mich an ihnen nicht sattsehen kann. Auf jeden Fall würden mehr Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln (und nicht zwangsweise aus der Vogelperspektive) die Einzigartigkeit der Kirchenburgen noch besser hervorheben.
Außerdem möchte ich zwei Vermisstenmeldungen aufgeben. Eine für die Innenansicht der Kirche in Taterloch und die andere für die farbliche Hervorhebung der im Buch porträtierten Ortschaften auf der Übersichtskarte. Anstelle der topografischen Ansicht hätte ich mir durchaus eine politische Karte mit der Zugehörigkeit der Gemeinden zum Königs- bzw. Komitatsboden als Alternative vorstellen können. Und um damit bereits mein winziges Jammertal wieder zu verlassen, plädiere ich erneut für eine durchgängige Ortskennzeichnung, um in den Genuss eines perfekten Buchkomforts zu kommen.
Abgesehen von diesen Kleinigkeiten kann ich mir mit Einblicke ins Zwischenkokelgebiet weder eine bessere Werbung noch ein nachhaltigeres Plädoyer für den Erhalt des siebenbürgisch-sächsischen Kulturerbes vorstellen.
Einblicke ins Zwischenkokelgebiet
Kategorie: Bild- und Dokumentationsband; Nachschlagewerk
Autor(en):
Martin Rill (Herausgeber, Texte und Fotografie)
Georg Gerster (Luftfotografien)
Verlag: Buchversand Südost
Erscheinungsjahr: 2018; 1. Auflage
Ausgabe: Hardcover
Umfang: 324 Seiten
ISBN: 978-3-00-059307-9
Preis: 59,00 €
Das Cover und die Bilder sind allesamt Eigentum des Verlags, Herausgebers, Fotografen bzw. sonstigen Rechteinhabers.
Die Buchvorstellung ist unbezahlt und unbeauftragt. Das Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Ein herzliches Dankeschön hierfür. Meine Rezension wurde davon nicht beeinflusst.