Blick vom Ijsselmeer auf Enkhuizen und den Drommedaris
Niederlande,  Unterwegs

Enkhuizen – Historischer Rundgang – Teil II


Die Brotzeit und Eindrücke des ersten Teils meines Rundgangs durch die Zeitgeschichte von Enkhuizen sind gut verdaut, sodass ich mit neuem Schwung meine Route wieder aufnehmen kann. Dagegen erweist sich der Nieselregen als besonders resistent. Meinem Tatendrang tut das keinen Abbruch, zumal ich bereits das nächste Zielobjekt sichte.


10. Westfriese Munt – Westerstraat 125

Schnecken, Kringel, Specklagen mit Bändern aus Naturstein, Satansfratzen, Riesenohrmuscheln, , bedrohliche Löwenmäuler, wachsame Delfine, schnauzbärtige Männer mit goldenem Kopfschmuck und dazwischen Prinz Maurits von Oranje geben sich an der Renaissancefassade ein Stelldichein. Ich überlege mir die wildesten Spekulationen bezüglich des ehemaligen Hausherrn. Ein Zuckerbäcker oder Dompteur? Ein Teufelsanbeter, weit gereister Seefahrer oder einfach nur ein wohlhabender Privatier mit Hang zum Überschwang? Allerdings machen sowohl das westfriesische als auch das Enkhuizer Wappen samt Stadtpatronin einen Strich durch meine fantasiereichen Höhenflüge. Derartige Aushängeschilder standen nur öffentlichen Institutionen zu. In diesem Fall der westfriesischen Münzprägeanstalt.

Renaissancefassade der Westfriese Munt in Enkhuizen

Bevor sich das Gebäude dem Geld verschrieb, hatte es schon eine klerikale Karriere hinter sich. Der Patershof, wie er ab 1467 hieß, befand sich zuerst in priesterlichem Besitz. Mit der Einführung der Reformation wurden jedoch alle katholischen Einrichtungen ent- und den Städten zur Nutzung übereignet. Aus Anlass des Aufenthalts des holländischen Statthalters Prinz Wilhelm I. von Oranien im Jahr 1572 in Enkhuizen gab man dem Vorzeigebau den Namen Prinsenhof. Später residierte für jeweils drei Monate im Jahr die Admiralität des Nordviertels in den ansonsten leer stehenden Räumlichkeiten.

Als die Westfriese Munt 1611 das Gebäude übernahm, war noch immer kein Ende des 80 Jahre dauernden Konflikts zwischen dem protestantischen Norden Hollands und des in spanischer Hand befindlichen Südens in Sicht. Deshalb beschlossen die „Großstädte“ Westfrieslands auf Nummer sicher zu gehen und sich ihre eigenen Münzen zu prägen. Damit keiner zu kurz kam, wechselten sich Enkhuizen, Hoorn und Medemblik alle sechs Jahre ab.

Genever und starke Getränke ade!

1794 wurde in der Westerstraat 125 die letzte Münze geschlagen. Dann begann erneut das Eigentümer-Wechsel-Dich-Spiel, von denen das Kaffeehaus der Nederlandsche Vereeniging tot Afschaffing van Sterken Drank mit Sicherheit den meisten Zulauf hatte. Regelmäßiger und übermäßiger Alkoholkonsum hatte sich im 19. Jahrhundert zu einem ernsthaften gesellschaftlichen Problem entwickelt. Die Kneipe war für viele Arbeiter die erste Anlaufstation nach Feierabend, um die miserablen Arbeitsbedingungen und ärmlichen Lebensverhältnisse in Hochprozentigem zu ertränken. Der mit königlicher Zustimmung gegründete Verein zur Abschaffung starker alkoholischer Getränke verfügte bald in jeder Stadt über eine Filiale. Das Angebot reichte von Beratungsgesprächen, gemeinsamen Aktivitäten bis hin zu sozialpolitischem Engagement. Mit großem Erfolg. Bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhunderts erlebte der Konsum von Genever und anderen Spirituosen einen 75%igen Rückgang.

11. Westerkerk – Westerstraat 138

Was den Fischern und Schiffern von Enkhuizen die Zuiderkerk, war den Bauern aus dem Pfarrbezirk Gommarus die Westerkerk. Die vom Grafen von Holland im 14. Jahrhundert beschlossene Fusion der sich geographisch annähernden  Ansiedlungen konnte anfangs nicht die Gräben zwischen den beiden Geminschaften überbrücken. Man bevorzugte entweder unter sich zu bleiben oder in gegenseitige Konkurrenz zu treten.

Dabei gingen sowohl das Wettrennen um den zuerst vollendeten Kirchenbau als auch den höchsten Glockenturm eindeutig an die Zuiderkerk-Gemeinde. Als man 1470 den ersten Grundstein an der Hallenkirche für den Heiligen Gommarus legte, da erstrahlte das Gotteshaus auf der südlichen Stadtseite bereits in vollem Glanz. Und für dem kaum 30 Meter hohen hölzernen Glockenturm auf gemauertem Sockel gab es allenfalls einen Trostpreis für außergewöhnliche Architektur. Dafür stellte die dreischiffige Westerkerk in Sachen Monumentalität den Nachbarn weit in den Schatten. Trotzdem oder gerade deshalb (man denke an die Unterhaltskosten) gab sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts ihre Funktion als offizielles Gotteshaus auf.

Leider ist das zu den Top-100 der niederländischen Nationalmonumente zählende Bauwerk nur in den Sommermonaten für die Öffentlichkeit zugänglich. So entgeht mir am heutigen Tag der Blick auf:

  • das zwischen 1542 und 1572 angefertigte Chorgitter. Sieben Künstler, darunter ein Schüler Raffaels, schufen ein Meisterwerk der Schnitzkunst.
  • ein äußerst elegantes und über 450 Jahre altes Orgelprospekt.
  • den von 1600 Grabplatten komplett bedeckten Kirchenboden mit dem ältesten Exemplar aus dem Jahr 1460.
  • De Librije. Die vermutlich vom Stadtarzt Bernardus Paludanus auf die Beine gestellte Bibliothek aus dem 17. Jahrhundert umfasst mehr als 600 teils noch auf Pergament ausgeführte oder ledergebundene Werke.
  • den mit goldener Ledertapete ausgekleideten Saal des Kirchenrats.

12. Soephuisje – Westerstraat 138a / Kottermanstraat 1

Früher als in jedem anderen europäischen Land entwickelte sich in den Niederlanden während des Goldenen Zeitalters ein soziales Auffangnetz für Arme, Kranke, alte Mitmenschen und Waisenkinder. Die Initiative für diese karitativen Einrichtungen ging damals von begüterten Bürgern aus. Sie sahen darin eine christliche Verpflichtung als Ausgleich zu ihrem Reichtum oder mit anderen Worten, eine Form des modernen Ablasses. Erst später übernahmen Staat und Gemeinden diese gesellschaftliche Verantwortung.

Das auf Anfang des 17. Jahrhunderts datierte Wohn- und Geschäftshaus befand sich ursprünglich in Privatbesitz. Wer aus der Damenwelt eine neue Haube benötigte, fand hier noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ihr Glück.

ehemaliges Armenhaus und Suppenkueche in Enkhuizen

Nach einigen Jahren des Leerstands erhielt das lang gestreckte Eckgebäude eine gänzlich neue Bestimmung. Über die Wintermonate richtete man in den Räumen eine Suppenküche und Aufwärmstube für die Bedürftigen der Stadt ein. Das Angebot traf auf reichlich Abnehmer. In zwei Wochen gingen 19.000 Liter Eintopf aus 224 Kilogramm Speck, 56 Kilo getrockneter Sellerie, 196 (!) Kilo Salz, 300 Kilo Hafer und einer Tonne Weizengrütze über die Theke. Was sich für den heutigen Gaumen vielleicht nicht besonders lecker liest, war auf jeden Fall nahrhaft.

13. Marktmeesterhuis – Westerstraat 158

Manchmal liegt zwischen Armut und Reichtum, zwischen Schlichtheit und Prachtentfaltung nur eine Straßenecke.
Der Beruf des Kupferschmieds muss zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Goldgrube gewesen sein. Ansonsten hätte sich der Eigentümer dieses vierstöckige Statussymbol mit einer der schönsten niederländischen Renaissancefassade kaum leisten können. Beeindruckend sind vor allem die Vielzahl, Größe und (authentische Nach-)Kolorierung der Giebelsteine. Jeder wurde mit Bedacht gewählt. Sei es, um sein Metier und sich selbst in Szene zu setzen, eine Lebenseinstellung kundzutun oder öffentlich politisch Stellung zu beziehen.

Der Löwe im holländischen Garten war eine beliebte allegorische Darstellung der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen. Standhaft, furchtlos, mutig kämpfend hatten sich sieben Provinzen im Norden der Niederlande von der Herrschaft des spanischen Königs befreit. Daher die sieben Pfeile in der rechten Tatze des Löwen. Damit gab man sich zufrieden. Der holländische Löwe hatte keine Ambitionen auf territoriale Eroberungen. Er wollte einfach in seinem kleinen Paradies auf Erden, dem umzäunten Garten, in Ruhe gelassen werden. Doch wehe denjenigen, die ihn provozierten.

Ungelöste Fragen

Die Interpretation des gegenüberliegenden Giebelfelds erfordert ein wenig Bibelkenntnis. „Das war Jakobs Brunnen“ gibt der alttestamentarische Untertitel preis. Dargestellt ist jedoch Jesus und die Samariterin. Eine Szene aus dem Neuen Testament, umgeben von einen Schmuckrahmen mit allerlei Gerätschaften, die in der Werkstatt eines Kupferschmieds zu finden sind. Warum wählte der Besitzer gerade diese Bibelstellen? Hatte er seine Frau etwa an einem Brunnen kennengelernt? War sie schon fünfmal verheiratet gewesen? Oder geht es gar nicht um die Frau, sondern um das Wasser und den Brunnen als Symbol des Dursts nach Leben und Tiefgründigkeit?

Die offenen Fragen türmen sich so hoch wie der manieristische Treppengiebel.

Stellt das porträtierte Paar die stolzen Hausbewohner dar oder handelt es sich nur um fiktive Reliefs? Was hat es mit den seltsamen Glockenblumen-Blütenkelchen auf sich? Und weshalb prangen die Löwen Westfrieslands, das Emblem des Prinzen Maurits von Oranje und die Enkhuizer Stedenmagd mit den drei goldenen Heringen an der Fassade? Welche offizielle Funktion war damit verbunden? Steht sie mit der überlieferten Bezeichnung Marktmeisterhaus in Verbindung, von der man nicht weiß, wann sie den ursprünglichen Namen „In’t heertijzer“ (in etwa „zum Herdeisen“) ablöste? Manchmal wünsche ich mir, dass Gebäude sprechen könnten.

14. Waterpoort Oude Gouwsboom und Waterpoort Boereboom – Vest

Kanal in Enkhuizen mit Schautafel

Nach dem Stop-and-Go durch die letzten 500 Jahre auf der Westerstraat kann ich bis zu den nächsten steinernen Zeitzeugen eine Gangart hochschalten. Auf der Vest, einem schmalen Grüngürtel am Rande des historischen Stadtzentrums, erheben sich im Abstand von einem halben Kilometer zwei von einst drei Wassertoren. De Oude Gouwsboom als auch de Boereboom waren ursprünglich in die Festungsmauer, die Enkhuizen auf der Landseite umgab, integriert. Als die wirtschaftliche Blütezeit im 17. Jahrhundert eine Ausdehnung des bebaubaren Geländes erforderte, musste die Verteidigungsmauer weichen. Lediglich die Tore behielt man bei, da sie nicht nur eine, sondern gleich zwei Fliegen mit einem Baum (boom) und einer Schleuse schlugen.

Wassertor Oude Gouwsboom Enkhuizen
Oude Goowsboom

In Friedens- als auch Kriegszeiten kontrollierte oder blockierte man mithilfe eines an Ketten befestigten Baumstamms die Zufahrt in die bzw. aus der Stadt. Feindliche Eindringlinge, Spione, Schleuser, Schmuggler, Zollpreller hatten keine Chance. Dennoch herrschte an den Wassertoren stets reger Verkehr. Wie, wenn nicht auf dem Wasserweg, hätten die innerhalb der sicheren Stadtbefestigung lebenden Bauern ansonsten zu ihren Anbau- und Weideflächen gelangen können? Feldwege oder befestigte Straßen setzten sich erst später durch, Boote galten lange Zeit als Fortbewegungs- und Transportmittel der Wahl.

Wassertor Boereboom Enkhuizen
Boereboom

Zusätzlich bestand bei allen Wassertoren die Möglichkeit, den Wasserstand in den Grachten durch eine Schleuse zu regulieren. Eine besonders wichtige Funktion, solange die Zuiderzee noch kein Gezeiten-gezähmtes Ijsselmeer war. Zum letzten Mal kamen die Schleusen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zum Einsatz. Aus Furcht, die deutschen Truppen könnten die Westfriesischen Deiche brechen, um durch Überflutung den Vormarsch der Alliierten aufzuhalten, schloss man kurzerhand alle Schleusentore. Glücklicherweise geschah nichts dergleichen.

15. Koepoort – Westeinde 6

Oh nein! Nicht schon wieder! Aller schlechten Dinge sind heute sogar vier.
Offensichtlich herrscht in Enkhuizen gerade eine groß angelegte Generalüberholungsaktion historischer Gebäude. Nach dem Stadtgefängnis, dem Turm der Zuider- sowie der Westerkerk bleibt mir nun auch noch der unverbaute Blick auf den Koeport verwehrt. Ein weiteres attraktives Bildmotiv, das ich dank Baugerüst in den Wind schreiben kann. Als ob der Regen nicht ausgereicht hätte, um mir einen dicken Strich durch die Fotogenität des Tages zu machen. Ich schmolle!

Der Koepoort im Westen Enkhuizens ist das einzige erhalten gebliebene Landtor der Stadtbefestigung aus dem 17. Jahrhundert. Nachdem ein hölzerner Vorgängerbau mit Zugbrücke abgerissen wurde, begann man 1649 mit der Grundsteinlegung. Ein unvorhergesehener Materialengpass zog die provisorische Inbetriebnahme fünf lange Jahre hin. Als abgeschlossen galten die Baumaßnahmen erst im Jahr 1730. Zum Glück zeigte sich während dieser Zeit kein Feind. Der Clou des Stadttores hatte deshalb nie Gelegenheit zur Bewährungsprobe. Das eindrucksvolle Gebäude ist nämlich nicht geradlinig angelegt, sondern beschreibt einen leichten Bogen. Dieser sollte verhindern, dass feindliche Aggressoren mit ihren Kanonen oder anderweitiger Artillerie das hinter dem Koepoort liegende Stadtzentrum direkt auf die Kimme nehmen konnten.

Neben der militärischen besaß das Kuhtor auch eine wirtschaftliche Funktion. Nur Händler, die den fälligen Zoll für ihre Waren bezahlt hatten, durften den Durchgang passieren. Ein wahres Nadelöhr – noch bis in die 1930-er Jahre. Als sich zeigte, dass der zunehmende Automobilverkehr der Bausubstanz stark zusetzte, entschlossen sich die Stadtplaner eine Ein- und Ausfallstraße um den Torbogen herumzuführen.

16. Snouck van Loosen Park – Eingang Stationsweg oder Waaigat

Enkhuizen besteht nicht nur aus Wasser und Steinen, sondern besitzt mit dem Snouck van Loosenpark auch einen besonders idyllischen Rückzugsort. Zu verdanken haben die Einwohner diese grüne Oase der schwerreichen Patriziertochter Margaretha Maria Snouck van Loosen. Ledig und kinderlos starb die Dame 1885, nicht ohne ihr umgerechnet etwa 9 Millionen Euro schweres Vermögen testamentarisch in einem zweckgebundenen Stiftungsfond anzulegen.

Der Großteil des Geldes floss in den Bau von Arbeiterwohnungen. Als Standort für dieses erste, komplett aus privaten Mitteln finanzierte Wohnbauprojekt in den Niederlanden wurde eine zwei Hektar große Fläche gegenüber dem Binnenhafenbecken ausgewählt. Eingebettet in eine ausgedehnte Grünanlage mit Teich und einem Garten im französischen als auch im englischen Landschaftsstil entstanden 50 kleine, uniform gestaltete Einfamilienhäuser. Jedes verfügte über drei Schlafplätze, eine Innentoilette mit Fass zum Wechseln, einen Gartenanteil sowie einen Brunnen als Alternative für das nicht vorhandene Badezimmer.

1897 konnten die ersten Bewohner einziehen. Die wöchentliche Miete betrug anderthalb Gulden plus einen weiteren Gulden für die Nebenkosten. Eine Wohnung bekam nur zugeteilt, wer ein gutes Benehmen an den Tag legte und sich bei der Arbeit ausdauernd zeigte. Für Drückeberger war kein Platz im Park.  Dazu gab es strenge Regelungen zu Ruhezeiten, Umgang mit dem Mietgut oder ein Haustierverbot. Auf die Einhaltung achtete ein Aufseher, dem das größte Haus Nummer 1 zustand.

Nach knapp 100 Jahren war der Stiftungsfond so gut wie aufgebraucht. Die Unterhalts- und Renovierungskosten hatten Unsummen verschlungen. Die Anlage drohte auf dem freien Markt zu landen, was unweigerlich den Abriss der in die Jahre gekommenen Häuser bedeutet hätte. Unter dem Druck der Einwohner und mit staatlicher Unterstützung erwarb schlussendlich die Stadt den Park mit der Auflage, die Immobilien zu modernisieren und als sozial geförderten Wohnraum weiterzuführen. Dank der Rettungsaktion können sich die Mieter seit 1983 an einem eigenen Badezimmer und einer Zentralheizung erfreuen.

17. Snouck van Loosen Haus – Dijk 34-36

Die Stifterin Margaretha Maria Snouck van Loosen wohnte selbstredend weniger bescheiden. Wie zahlreiche Kaufmannsfamilien der damaligen Zeit hatten auch die Snouck van Loosens durch Geschäfte mit der VOC ihr Vermögen stetig vermehrt. Zusätzlich katalysiert von einer vorteilhaften Heiratspolitik. Das Anwesen am alten Hafen überstrahlte bereits bei Fertigstellung 1742 alle Nachbargebäude. Hier war das Geld zu Hause. Jede Generation drückte dem Patrizierhaus durch Zukäufe und Erweiterungen ihren eigenen barocken, Rokoko- oder neoklassizistischen Stempel auf.

Mit Margaretha Maria Snouck van Loosen und ihren fünf ebenfalls nachwuchslosen Schwestern verdorrte dieser Zweig des Familienstammbaums. Ein Segen für viele Bedürftige, denn wie wir bereits erfahren haben, übereignete sie ihr Vermögen einem Unterstützungsfond für wohltätige Zwecke. Dieser erhielt den Auftrag, ihren letzten Willen umzusetzen. Dazu gehörte, abgesehen von den Arbeiterwohnungen, der Bau eines Krankenhauses als auch ein Altersheim für alleinstehende Frauen.

Snouck van Loosen Haus in Enkhuizen

Die neugierige Aagje

Über einem Toreingang springt ein auffällig verschnörkeltes Giebelfeld ins Auge. Im Zentrum die Zuiderzee mit der Enkhuizer Seemauer und dem Staverse Poortje. Links davon ein Wohnhaus, aus dessen Fenster eine Frau sehnsuchtsvoll auf das Meer hinausschaut. Haben wir es hier tatsächlich mit der Neugierigen Aagje van Enckhuysen zu tun? Eine fiktive Figur, die mit ihrem lustigen Abenteuer die Leserschaft des 17. Jahrhunderts dermaßen amüsierte, dass sie sich als feststehenden Begriff im niederländischen Sprachgebrauch etablierte.

Giebelfeld mit Bild der Neugierigen Aagje

Die Protagonistin der fiktiven Geschichte stammt aus dem Fischerort Enkhuizen, verbringt dort ihre Kindheit, heiratet einen Schmied, ansonsten herrscht gähnende Langeweile in ihrem Alltagstrott. Jedes Mal, wenn der Nachbar vorbeikommt und von seinen Reisen erzählt, hängt sie an seinen Lippen. Auch sie will mehr von der großen, bunten, aufregenden Welt erleben. Der Schmied hat Mitleid mit seiner Frau, steckt ihr ein großzügiges Taschengeld zu, und als der Fischer das nächste Mal geschäftlich für ein paar Tage nach Antwerpen aufbricht, nimmt er Aagje mit.

Um die Geschichte abzukürzen: Aagje ist nicht die hellste Leuchte, ein wenig zu neugierig und deutlich zu naiv.
Durch ein sprachliches Missverständnis hält sie einen wildfremden Mann irrtümlich für ihren Cousin. Den Rest kann man sich denken. Die Plaudertasche fällt auf den Charmeur herein, dieser macht sie so betrunken, dass sie am Ende mit leeren Händen dasteht und sich auch noch zum Gespött der Leute macht. Die Moral von der Geschicht‘: niemals zu viel Bargeld mit sich führen, keinen Cousins vertrauen und Hände weg vom Alkohol, wenn man ihn nicht verträgt.

Unerfüllte Sehnsüchte oder ein Liebesdrama?

Spaß beiseite. Was könnte der Grund gewesen sein, dass die kultige Aagje den Toreingang des Snouck van Loosen-Besitzes schmückt? Verbarg sich dahinter ein stummer Hilferuf der sechs ledigen Loosen-Schwestern? Wären sie gerne aus ihrem eintönigen, allzu konventionellen goldenen Käfig ausgebrochen, um die Sehnsucht nach der Welt vor ihrer Haustür zu stillen? Oder geht es gar nicht um die Neugierige Aagje? Sind wir eventuell Zeuge der tragischen Liebesgeschichte einer Frau, die vergeblich auf die Heimkehr ihres Liebsten hofft? War Margaretha Maria Snouck van Loosen deshalb nie verheiratet?

18. Tussen Hel en Vagevuur

Bekanntermaßen spart Enkhuizen nicht bei der Vergabe von kuriosen Straßennamen. Mit der Tussen Hel en Vagevuur habe ich meinen persönlichen Favoriten gefunden. Wenn der Ort zwischen Hölle und Fegefeuer nur halbwegs dieser Seitengasse des Dijk ähnelt, lässt sich dem Jenseits getrost entgegensehen.

Strassenschild Tussen Hel en vagevuur - zwischen Hoelle und Fegefeuer

Bis Ende des 16. Jahrhunderts lockten zwei Wirtshäuser mit besagten Namen überaus zwielichtiges Klientel in den schmalen Durchgang. Die hafennahen Kneipen waren berüchtigt für ihr trinkfestes, schlagkräftiges und lasterhaftes Publikum. Es braucht also wenig Fantasie, um sie sich als Vorgeschmack auf die beiden jenseitigen Aufenthaltsorte vorzustellen. Schummriges Licht, tief hängende Rauchschwaden, vom Alkohol erhitzte Gemüter, laustarkes Gegröle, blitzende Dolche … Genug Gründe, dass sich von beiden Gasthäusern nur der Name erhalten hat.

Übrigens war das Straßenschild Tussen Hel en Vagevuur so begehrt, dass es in Enkhuizen zum Dauerbrenner entwendeten städtischen Eigentums avancierte. Mittlerweile haben die Souvenirjäger das Nachsehen. Den symbolträchtigen Straßennamen gibt es nur noch in der auf einer Betonplakette aufgemalten und direkt an der Hauswand zementierten Variante.

19. Drommedaris – Paktuinen 1

Haarlem besitzt den Amsterdamse Poort, Leiden den Zijlpoort und Enkhuizen das Drommedaris. Schon den ganzen Weg entlang des Dijk zieht am südlichen Ende des Alten Hafens das markante Wahrzeichen der Stadt die Aufmerksamkeit auf sich. 1540 als wehrhaftes Torhaus und integraler Bestandteil der Stadtmauer konzipiert, sicherte es das südliche Hafengebiet. Daher auch seine ehemalige Bezeichnung Zuiderpoort.

Drommedaris Enkhuizen

Das mit dem Namen Drommedaris ist eh so eine Geschichte. Immer wieder bringt man ihn mit dem einhöckerigen Wüstentier in Verbindung. Allerdings sind die Haare, an denen die Parallelen zu Aussehen und Schreibweise herbeigezogen werden, schon enorm lang. Ein weiterer Erklärungsansatz fällt in die Zeit der VOC. Der Dreimaster Drommedaris legte 1652 am Kap der Guten Hoffnung an und mit ihm der Schiffsarzt und spätere Verwalter der niederländischen Kolonie, Jan van Riebeeck. Der gedankliche Brückenschlag nach Enkhuizen fehlt zwar immer noch, trotzdem setzt das historische Bild direkt mein Kopfkino in Gang.

Und das bleibt noch ein wenig in der Vergangenheit. An der südöstlichen Mauer des Rundturms katapultieren mich zwei Anker und eine Gedenktafel direkt ins Jahr 1537 zurück. Im Schutze der Nacht hatten sich die Schiffe der bis an die Zähne bewaffneten Gelderländer über die Zuiderzee bis vor die Tore der reichen Hafenstadt heran manövriert. Im Morgengrauen des nächsten Tages sollte der Angriff erfolgen, doch die Enkhuizer kamen ihnen zuvor. Hals über Kopf kappten die Gelderländer ihre Ankerseile und flohen aufs offene Meer hinaus. Die zurückgebliebenen Anker wurden bei Ebbe an Land geholt und später als Reminiszenz an den gelungenen Überraschungscoup am Drommedaris aufgehängt.

Das Drommedaris erfindet sich neu

Mitte des 17. Jahrhunderts war man der Kriege, Kanonen und Artillerie endgültig überdrüssig. Das Torhaus erhielt ein weiteres Stockwerk für das 44-teilige Carillon, das sowohl die Viertelstunden als auch die Schließung der Stadttore ankündigte. Außerdem erfand die Stadtverwaltung den außer Dienst gesetzten Wehrbau neu. Das breit gefächerte Nutzungsangebot erstreckte sich vom Gefängnis über eine Weberei bis hin zum Telefon- und Telegrafenamt, bevor er 1958 seine finale Bestimmung als Kulturzentrum erhielt.

20. Gedenktafel II. Weltkrieg – Het landje van Top

Beinahe unbeschadet hatte es Enkhuizen durch den Zweiten Weltkrieg geschafft. Ein Bombardement, ein ziviles Opfer und geringe Gebäudeschäden lautete die Bilanz bis zum 15. März 1945. An diesem schwarzen Donnerstag warfen vier Spitfire der RAF eine Bombenlast von etwa 4.000 Pfund in der Nähe des Drommedaris ab. Nach zwei Minuten war der Spuk vorbei, 24 Menschen tot, zahllose Bewohner von Granatsplittern verletzt und 300 Häuser schwer lädiert.

Gedenktafel fuer die Opfer des Zweiten Weltkriegs

Noch immer herrscht Unklarheit, wie es zu dem Einsatzbefehl für die 308. Staffel kam. Längst hatte der Enkhuizer Hafen für die deutsche Kriegsmarine seine strategische Funktion verloren. Das Trockendock, in dem anfangs Landungsboote montiert oder Kutter und Lastkähne mit Geschütztürmen ausgestattet wurden, war seit Monaten verwaist. Im Hafenbecken selbst lagen zwar noch drei Patrouillenboote der Wasserschutzpolizei, die jedoch keine militärischen Aufgaben wahrnahmen. Sie überwachten lediglich das Ijsselmeer auf verdächtige Aktivitäten von Schmugglern, Widerstandskämpfern oder Schleusern, die abgeschossene alliierte Piloten in Sicherheit brachten. Der erhalten gebliebene Einsatzbericht liefert keinen Aufschluss. Ein Gelegenheitsziel also oder eine falsche Einschätzung der Lage durch die Widerstandsbewegung?

Anstelle einer späten Gewissheit erinnert seit Kurzem eine Gedenktafel an die unschuldigen Opfer. Leider wurde sie kaum sichtbar am Rande einer lieblosen Blumenrabatte platziert. Kein Weg führt daran vorbei. Wirklich keiner.

21. Bronzestatue Paulus Potter – Het landje van Top

Ein ganz Großer seines Genres geht auf der Grünfläche hinter dem Drommedaris seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Auf einer Backsteinmauer sitzend, hält er einen Skizzenblock in der Hand. Mit schnellen Strichen bringt er das einige Meter entfernt liegende Motiv, eine Ziege mit Jungtier, zu Papier.

Bronzeskulptur Paulus Potter von Jan van Velzen

Paulus Potter (1625 Enkhuizen – 1654 Amsterdam) gehörte zu den aufstrebenden Kunstmalern des Goldenen Zeitalters, der die Darstellung von Weidelandschaften mit Tieren als eigenständigen Bildinhalt etablierte. Leider blühte sein künstlerischer Stern nur 12 Jahre. In dieser Zeit schuf er etwa 100 Gemälde, die heute über die ganze Welt verstreut sind. Potter starb mit 28 Jahren an Tuberkulose. Sein berühmtestes Werk „Der Stier“ kann als Teil der ständigen Sammlung des Mauritshuis in Den Haag bewundert werden.

1991 würdigte die Taufstadt ihren berühmten Sohn mit der Bronzestatue des autodidakten Bildhauers Jan van Velzen. Eine besonders gelungene Darstellung mit hohem Wiedererkennungswert. Schade nur, dass man das einzige Werk Potters, das sich im Besitz der Stadt befindet, nur als Brautpaar oder Hochzeitsgast zu Gesicht bekommt. Für kunstinteressierte Besucher ist der Witte Zaal im Rathaus nicht zugänglich.

22. Spuihuis – Zuiderspui 1

Funktionalität schließt Attraktivität nicht aus, ist mein erster Gedanke, als ich auf der Brücke über der dem südlichen Havendijk vor dem Giebelstein überfrachteten Haus stehe. Ganz schön viele Wappen für ein Spuihuis. Das Goldene Dreieck, bestehend aus Hoorn, Enkhuizen und Medemblik, ist ebenso vertreten wie die westfriesischen Löwen und der omnipräsente Prinz Maurits von Oranien.

ehemaliges Schleusenwaerterhaus in Enkhuizen mit Wappen als Giebelsteine

Aber vielleicht unterschätze ich ja die gesellschaftliche Stellung des  Schleusenwärters. Immerhin übernahm er zwei wichtige Aufgaben im Dienste der Stadt und damit des Allgemeinwohls. Primär musste er ein wachsames Auge auf den Wasserstand von Gracht und Zuiderzee haben, um den Zu- und Abfluss entsprechend zu regulieren. Außerdem hatte er für eine regelmäßige Durchspülung der Grachten zu sorgen, denn die früher gleichzeitig zur Abwasser- und Fäkalienentsorgung genutzten Kanäle waren wahrlich keine Duftoasen.

Heute beherbergt das adrette Schleusenwärterhaus aus dem 17. Jahrhundert die weltweit größte Flaschenschiffsammlung mit über 1000 Modellen aus allen Ecken der Welt.

23. Die Gasse mit dem Knick – Bocht

Vom Flaschenschiffmuseum geht es um die Ecke direkt in die Bocht. Aus praktischer Sicht der kürzeste Verbindungsweg vom Zuider Havendijk zum Wierdijk. Aus romantischem Blickwinkel die Gasse der stehen gebliebenen Zeit. 17. Jahrhundert-Charmeoffensive inbegriffen.

An einem hohen Eckhaus hebt sich ein winziges Giebelfeld mit der Miniaturausgabe eines Enckhuiser Haringbuis von der roten Backsteinwand ab. Die Büse war das meistgebaute Segelschiff der Heringsflotte. In der westfriesischen Hafenstadt konnte sie ab 1416 nachgewiesen werden, erst 450 Jahre später lief sie ein letztes Mal aus.

Typisch für die Büse waren die umlegbaren Masten, um die riesigen Treibnetze auswerfen zu können, sowie ein ausgeprägtes Kiel. So geriet das Schiff selbst bei hohem Seegang nicht auf Schlingerkurs. Dazu verfügte es über einen ausreichend großen Laderaum für die mit Salzlake gefüllten Fässer. Eine wichtige Weiterentwicklung zu den bisherigen Fischereischiffen war insbesondere die immense Deckfläche. Der Fang konnte nun direkt an Bord ausgenommen und gepökelt werden, was den Fischern erlaubte, mehrere Woche auf See zu bleiben, ohne dass die wertvolle Ware verdarb.

Doch damit nicht genug. Die meisten Heringbüsen besaßen ein Doppelleben. Von Juni bis November sah man sie auf Fischfang bis hinauf zu den Küsten Schottlands und Ostenglands, während sie außerhalb der Heringssaison mit ihrem bauchigen Frachtraum als Handelsschiff durch die Meere kreuzten.

24. Zuiderzee-Binnenmuseum – Wierdijk 12-22

Am Häuserkomplex des Zuiderzee-Binnenmuseums endet mein Rundgang. Zeit für eine Besichtigung bleibt heute nicht mehr, aber ein Kaffee und Kuchen müssen sein. Und was soll ich sagen: beste Stroopwaffeltorte ever!!!

1932 wurde mit dem Bau des 32 Kilometer langen Abschlussdamms zwischen den Provinzen Nordholland und Friesland die gezeitenumtoste Zuiderzee  von der Nordsee abgeriegelt. Dadurch unterlag speziell das Erwerbsleben der Küstenbewohner einem tiefgreifenden Wandel. Das Zuiderzee-Binnenmuseum hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an den Alltag, das Brauchtum, die Gefahren und den einstigen Kampf ums Überleben lebendig zu halten. Neben der interaktiven Dauerausstellung „See voller Geschichten“, unzähligen Vitrinen angefüllt mit traditionellen Kleidungsstücken, Gebrauchsgegenständen, Fotografien und persönlichen Erinnerungen gehört die Schiffshalle mit den historischen Fischerbooten zum Stolz der Sammlung.

Auf der Suche nach adäquaten Räumlichkeiten für das Museum versetzte man mehrere ehemaligen Lagerhäuser der VOC (Nr. 18-19) und  WIC (Nr. 22) von ihren ehemaligen Standorten an der Waaigat bzw. dem versandeten Paktuinen an den Wierdijk. Fällt Euch dabei auch die niedrige Raumhöhe der oberen Geschosse auf? Die Bauherren wollten auf Nummer sicher gehen und die Statik durch zu hohes Übereinanderstapeln der teils schwergewichtigen Waren nicht gefährden.

Bevor es zum Parkplatz zurückgeht, fröne ich noch einmal ausgiebig meiner Leidenschaft, dem Giebelstein-Gucken. Passend zum Museumsprojekt schippern kanonenbeladene Galeonen inmitten eines Feuergefechts, mehrere Fischkutter und eine sich im Spiegel ihrer eigenen Schönheit sonnende Meerjungfrau über die Fassaden am Wierdijk. Dazu gesellt sich das Emblem des ehemaligen Zollhauses der Gemeinde Hoogkarspel. Wer sich im 18. Jahrhundert auf dem Landweg zwischen Hoorn, Enkhuizen und Medemblik fortbewegte, musste am Knotenpunkt des Goldenen Dreiecks zwangsläufig in die Tasche greifen. Einen halben Pfennig hatten Fußgänger, sechs Pfennige eine Kutsche zu entrichten. In Anbetracht der monumentaler Größe des Emblems ein offensichtlich lohnendes Geschäft.

Ein geplantes Wiedersehen mit Museum und Stroopwaffel-Torte

Ankerherz

Inzwischen hat sich auch der blaue Himmel endgültig gegen die nassgraue Wolkendecke durchgesetzt. Doch selbst ohne diese versöhnliche meteorologische Zugabe habe ich die westfriesische Stadt längst ins Herz geschlossen. Ein Wiedersehen ist fest geplant. Der Erlebnisreichtum des Freilichtmuseums lädt zu einer zweiten Runde ein, und meine Neugier auf das Binnenmuseum muss endlich gestillt werden. Selbstverständlich nicht ohne ein weiteres Stück karamellisierter Sirupwaffel-Torte. Hm, mir läuft jetzt schon das Wasser im Mund zusammen.

Blick auf den Alten Hafen von Enkhuizen

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