Navarra,  Spanische Erinnerungen

Estella – Teil I – Inkognito


Bei meinen Recherchen zu Estella, eine der bedeutendsten Pilgerhochburgen im Mittelalter, stieß ich auf die Geschichte eines hochrangigen Geistlichen, der vom Papst in Rom mit einem wichtigen Reliquien-Auftrag nach Santiago de Compostela geschickt wurde. Leider verstarb der getarnte Pilger vorzeitig in Estella ohne seinen Auftrag erfüllen zu können.

Daraus entstand in meinem Kopf das fiktive Tagebuch des Geistlichen in geheimer Mission. Es begleitet ihn durch seine letzten Tage im quirligen Estella des 13. Jahrhunderts.


Estella, im Jahre des Herrn 1270

12. Februar

Endlich habe ich Estella erreicht. Die Sonne steht schon tief und ich hoffe, einen freien Platz im Pilgerhospiz zu finden. Ich bin erschöpft, meine Füße wundgelaufen, meine Beine vermögen mich kaum noch zu tragen, und seit Tagen kämpfe ich gegen eine aufziehende Erkältung an. Immer wieder werde ich von kräftezehrenden Hustenanfällen geschüttelt, doch ich darf jetzt nicht aufgeben. Santiago de Compostela, liegt keine 30 Tagesmärsche mehr von hier entfernt. Eine warme Suppe und ein Kanten trockenes Brot müssen zum Abendbrot genügen. Danach werde ich versuchen auf einer der zahlreichen Strohlager auf dem Boden der Herberge ein wenig Schlaf zu finden. Wenn ich morgen in aller Frühe aufbreche, kann ich es auf jeden Fall bis Torres del Río schaffen. Bis Santiago de Compostela bleiben mir dann weniger als 700 Kilometer.

13. Februar

Meine Nacht war unruhig. Die schlimmsten Albträume von Räubern und Wegelagerern raubten mir den Schlaf. Hinter jeder Häuserecke, hinter jedem Strauch, Busch oder Baum kamen sie scharenweise hervor und versuchten mir den wertvollen Schatz, den ich verborgen bei mir trage, zu entreißen. Mehrmals wachte ich schweißgebadet auf. Ich sehne jetzt den Morgengrauen herbei, um die Dämonen der Nacht loszuwerden und weiterziehen zu können. Morgen muss ich mir unbedingt einen dickeren Umhang besorgen, denn mir ist kalt, schrecklich kalt. Hoffentlich fängt es nicht wieder an zu schneien.

14. Februar

Als ich heute Morgen aufwachte, erkannte ich zunächst meine Umgebung nicht wieder. Ich hatte offensichtlich mein Strohlager auf dem Boden des Hospizes mit einer einfachen Holzpritsche getauscht. Doch ich kann mich nicht entsinnen hierhergekommen zu sein. Ich erinnere mich nur, dass mir gestern beim Versuch aufzustehen, schwarz vor Augen wurde und ich taumelte. Was danach geschah, ich weiß es nicht. 

Zeit zum Ausruhen bleibt mir nicht, auch wenn ich mich müde und schwach fühle. Erst wenn ich meine Mission erfolgreich zu Ende geführt habe, werde ich mir etwas Ruhe gönnen. Aber jetzt heißt es durchhalten. Ich bin nun schon über ein Jahr unterwegs, habe halb Europa durchquert, mehrere tausend Kilometer hinter mir gelassen, ganz abgesehen von den vielen Unwägbarkeiten, Entbehrungen, Strapazen und Qualen während meines Pilgerweges. Ein Aufgeben kommt so kurz vor dem Ziel nicht in Frage. Bitte Gott, steh mir bei, gib mir die Kraft weiterzugehen. Ich bin in Deinen Diensten unterwegs, also prüfe mich nicht zu schwer, sondern reiche mir Deine stützende Hand.

Ich versuche mich langsam zu erheben, spüre aber sofort wie Schweißperlen auf meine Stirn treten. Schwindel ergreift von mir Besitz, meine Beine geben widerstandslos nach. Schon kommt ein älterer Bruder in Kutte herbeigeeilt, um mich sanft aber bestimmt auf mein Lager zurück zu betten. Er stellt sich als Pater Mathéo vor, verantwortlich für die Krankenstation im Hospiz San Nicolás. Derzeit sei ich sein einziges Sorgenkind, weshalb er mir seine volle Aufmerksamkeit widmen könne, lässt er mich wissen. Seine Mitbrüder hätten mich nach dem gestrigen Morgengebet ohnmächtig in der Herberge vorgefunden und zu ihm ins Krankenlager gebracht.

14. Februar Fortsetzung

Den ganzen Tag und die ganze Nacht hatte er an meiner Seite gewacht, da das Schlimmste zu befürchten gewesen war. Schüttelfrost und Fieberattacken hätten sich im Stundentakt abgewechselt, selbst die kühlenden Wadenwickel wären wirkungslos geblieben. Und immer wieder hätte ich im Delirium unverständliche Wortlaute gemurmelt.

Sofort bricht mir der Angstschweiß aus. Ob ich mein Geheimnis in diesem unseligen Halbschlaf verraten habe? Verstohlen taste ich nach der Reliquie in dem Leinensäckchen unter meinem Pilgerhabit. Erleichtert atme ich unmerklich auf. Alles scheint an seinem Platz zu sein. Doch Pater Mathéo muss bemerkt haben, wie die Farbe aus meinem Gesicht gewichen war. Schnellstens setzt er sich in Bewegung und kommt mit einer Flasche obskuren Inhalts zurück, von der er mir zwei Löffel eines bitter schmeckenden Saftes einflößt. Als ich ihn fragend anblicke, gibt er mir beschwichtigend zu verstehen, dass der Weidenrindenextrakt helfen soll, mein Fieber zu senken. Dann eilt er erneut davon, meine Wadenwickel zu erneuern, um schlussendlich im dritten Gang mit einem Becher dampfenden Lindenblütentees an mein Lager zurückzukehren.

Ich bin erstaunt mit welch ungeahnter Geschicklichkeit sich Bruder Mathéo trotz seiner kleinen, rundlichen Statur bewegt. Seine vollen Gesichtszüge verraten, dass er sowohl Wein als auch gutem Essen sehr zugetan ist, woran das Pilgerhospiz offensichtlich keinen Mangel leidet. Sein medizinisches Handwerk scheint er gut zu verstehen und ich spüre, dass ihm dabei das seelische Wohl seiner „Gäste“ ebenso sehr am Herzen liegt. Schnell hat er mich überzeugt, dass weder heute noch morgen an ein Weitermarschieren zu denken ist. Ich werde wohl einige Tage hier in der der Stadt am Río Ega bleiben müssen, um mich auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen.

14. Februar abends

Ich muss wieder in einen tiefen Schlaf gesunken sein, denn es läutet bereits zur Vesper. Noch immer fühle ich mich elend. Mein Körper glüht, aber gleichzeitig kriecht eine Kälte meine Glieder hoch, die mich fortwährend erschauern lässt. Eine gefühlte Ewigkeit später erscheint die gute Seele von Fray Mathéo mit einem Gefäß heißer Gemüsebrühe. Geduldig setzt er die Schale wieder und wieder an meinen Mund, da ich selbst dazu zu schwach bin. Krampfhaft versuche ich währenddessen meine zitternden Arme unter der groben Decke festzuhalten, um nicht allzu viel von der nahrhaften Suppe zu verschütten. Erst nachdem Pater Mathéo ein Schafsfell über mich breitet und mir ein kühlendes Tuch auf die Stirn legt, dem ein Hauch von Melisse und Minze entströmt, beruhigt sich langsam mein Schüttelfrost. Was würde ich nur ohne diese gute Seele machen, die so aufmerksam über meinen Gesundheitszustand wacht? Aber seine Miene verrät, trotz eines angestrengten Lächelns, tiefste Besorgnis.

Ich bin äußerst dankbar, dass mich Bruder Mathéo bislang nicht bedrängt hat, meine Herkunft oder gar meine Identität preiszugeben. Anlügen dürfte ich ihn nicht, denn das wäre eine Sünde, aber vielleicht würde ich ihm einfach nicht die ganze Wahrheit mitteilen. Ich fühle mich in seiner Obhut gut aufgehoben und ich spüre seine rückhaltlose Zuwendung. Jedoch ist mein Auftrag so heikel, dass ich kein Risiko eingehen darf. Jemandem zum Mitwisser meines Geheimnisses zu machen, hieße ihn denselben Gefahren auszusetzen. Das kann ich kaum verlangen. Und ist es nicht auch so, dass der Teufel sein Gesicht nicht immer sofort preisgibt? Wie kann ich je sicher sein, wem ich mich anvertrauen kann und wem nicht? Schwarze Schafe gibt es überall. Leider auch unter Meinesgleichen. Gott sei ihnen gnädig.

Als ob Pater Mathéo meine düsteren Gedanken gelesen hat, lächelt er milde, zieht einen wackligen Holzschemel heran und möchte mir von Estella, von seiner Stadt erzählen. Es ist eine willkommene Ablenkung von den Zweifeln und den zwiespältigen Bedenken, die mich innerlich quälen. Ohne zu zögern, gebe ich ihm deshalb mit einem aufmunternden Nicken zu verstehen, dass ich sowohl ein sehr guter Zuhörer als auch sehr gespannt auf seine Ausführungen bin.

Lizarra – die Wurzeln Estellas

Ich erfahre, dass erst vier Jahre vergangen sind, seit Estella eine städtische Einheit darstellt. Zuvor bestand der Marktflecken aus drei ethnologisch sowie wirtschaftlich völlig unterschiedlichen und untereinander stark rivalisierenden Vierteln.

Da gab es zunächst die unbedeutende Ansiedlung Lizarra auf der Anhöhe nördlich des Flusses Ega. 914 durch König Sancho Garcés den Händen der maurischen Invasoren entrissen, lebten in und um die kleine befestigte Anlage ausschließlich leibeigene Bauern und Vasallen des Königs. Neidisch blickten sie auf die nicht weit entfernt liegenden Dörfer Puente la Reina sowie Villatuerta. Beide hatten, neben den Klöstern Zarapúz und Irache vom Aufschwung der Pilgerbewegung profitiert. Ihre Einwohner erfreuten sich des königlichen Schutzes, wirtschaftlicher Vorteile und steuerlicher Vergünstigungen. Die Bürger waren frei und kamen schnell zu Wohlstand. Lizarra hingegen war nicht mehr als ein unbedeutender Flecken im Königreich Navarra.

Das Jungfrauen-Wunder

Mit einem verschmitzten Augenzwinkernd verrät mir Pater Mathéo, dass sich die trübselige Situation Lizarras im Jahre 1085 schlagartig verändert hatte. Aufmerksame Schäfer sahen während ihrer Nachtwache auf den Bergen vor dem Weiler einen wundersamen Sternenregen niedergehen. Schnell entschlossen folgten sie dem hell leuchtenden Himmelsschauer zu einer verborgenen Höhle. Beim Betreten fanden sie eine wunderschöne Statue der Jungfrau Maria mit Kind vor. Das Wunder sprach sich schnell herum, sogar Bischof und König wurden in Kenntnis gesetzt. Beide hielten es für angebracht der Figur einen angemessenen Platz in einer prächtigen Kirche zuzueignen, doch kurioserweise ließ sich die Jungfrau keine Spanne oder Elle weit von der Stelle bewegen. So entschieden sich Monarch und Kirchenoberhaupt für den Bau einer kleinen Wallfahrtskapelle am Fundort. Man weihte sie der Virgen del Puy in Anlehnung an den französischen Begriff für das bergige Vulkangestein, von dem Lizarra umgeben war.

Plötzlich war der Ort des Jungfrauenwunders in aller Munde, das Interesse für den kleinen Marktflecken geweckt. Fünf Jahre später erfolgte die lange herbeigesehnte offizielle Stadtgründung mit der gleichzeitigen Verleihung des hoch begehrten Fuero durch König Sancho Ramírez höchstpersönlich. Die Stadt hieß ab sofort Estella, abgeleitet vom lateinischen Stella, dem schicksalhaften Sternenregen. Damit hätten die Lizarreser eigentlich glücklich sein müssen, bemerkt Mathéo. Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen, egal ob mit bewusster oder zufälliger jungfräulicher Hilfe. Doch die Stadtgründung hatte einen Pferdefuß.

Das Viertel San Nicolás

Dem König schwebte ein weiteres Wirtschafts- und Pilgerzentrum innerhalb seines Königreichs vor. Dazu bedurfte es der Ansiedlung von Händlern, Handwerkern, Klerikern, Stadtverwaltern, Geldwechslern sowie einer Garnison zu deren Schutz. Die einfache Landbevölkerung aus Lizarra, die nur den Tauschhandel kannte, erfüllte diese Ansprüche nicht. Somit musste ein neues Stadtviertel aus der Taufe gehoben werden. Als geographischer Ausgangspunkt diente die Ebene am südlichen Flusslauf Ega, die gleichzeitig den Vorteil eines Schutzbietenden Felsgesteins im Rücken besaß. Es war die Geburtsstunde des Viertels San Nicolás.

Sehr zum Unmut der Bewohner von Lizarra, durften sich auf dem neuen Gemeindegebiet nur französische Zuwanderer, darunter auch Juden, niederlassen. Und diese strömten angesichts der vielversprechenden wirtschaftlichen Möglichkeiten in Scharen aus dem Limousin und der Auvergne in die geschützte Tallage. Das Herz des neuen Handelszentrum bildete die Rúa de las Tiendas, die Straße der Geschäfte, in denen fortan Geldstücke das Zahlungsmittel der Wahl darstellten.

Sogar der Jakobspilgerweg wurde nach Estella umgeleitet. Da er erst beim Kloster Irache wieder seine ursprüngliche Route aufnahm, geriet das bis dato direkt an der Strecke gelegene Benediktinerkloster Zarapúz plötzlich ins Abseits. Die Mönchsgemeinschaft von San Juan de la Peña, zu denen Zarapúz gehörte, ließ sich jedoch nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen. Immerhin bedeuteten die Pilgerscharen gutes Geld. Kaum ein Vorbeiziehender verzichtete auf die Chance, das Spendensäckel des Klosters gegen eine kleine Absolution zu füllen. Der König hatte ein Einsehen mit den klagenden Mönchen und sprach dem Kloster als Entschädigung ein Zehntel der königlichen Einkünfte aus den Geschäftstätigkeiten des neuen Stadtviertels zu.

grün: ursprünglicher Jakobsweg
gelb: umgeleitete Route ab dem 12. Jhdt.

Fasziniert lausche ich dem Bericht Mathéos, würde es mich nur nicht diese enorme Kraftanstrengung kosten, die Augen offen zu halten. Doch ich schäme mich, ihn um eine kurze Pause zu bitten. Und so fährt er detailgenau mit der Beschreibung des Viertels San Nicolás fort.

Die sieben Meter lange Urkunde

Ich erfahre, dass man das Viertel San Nicolás nach der gleichnamigen Kirche mit angeschlossenem Pilgerhospiz, in welchem ich Unterschlupf fand, benannte, bevor es vor exakt 14 Jahren umfirmiert wurde. Das neue Gotteshaus San Pedro war 1256 zur Hauptkirche Estellas aufgestiegen, und folglich löste ein Heiliger den anderen in der Namensgebung des Stadtbezirks ab.

Bald kann ich mir ein anschauliches, lebendiges Bild des tagein tagaus geschäftig lauten Viertels machen. Ich weiß, dass die Rúa de las Tiendas Pilgerweg und Hauptschlagader zugleich ist. Und ich weiß auch, dass  im letzten Jahrhundert, außer dem Palast der Könige an der Plaza San Martín, sage und schreibe fünf Kirchen auf dem neuen Gemeindegebiet errichtet wurden. San Nicolás, das zweitälteste Gotteshaus, informiert mich Mathéo eifrig, bildet zusammen mit dem Stadttor Puerta de Castilla die westliche Begrenzung des Viertels. Die beiden anderen Kirchen, Santa Maria Jus del Castillo und Santo Sepulcro, markieren derzeit den östlichen bzw. südlichen Abschluss des stetig wachsenden Stadtviertels.

In feierlichem Ton verkündet er, dass alle Könige Navarras bisher den Fuero von Estella, den wirtschaftlichen Freifahrschein, uneingeschränkt bestätigt und sogar erweitert hätten. Er selbst war Zeuge bei der öffentlichen Unterzeichnung der über sieben Meter langen Pergamentrolle durch König Teobaldo I., den Vater des aktuellen Königs, der ebenfalls seinen Eid darauf geschworen hatte. Ein zutiefst ergreifendes Erlebnis, von dem er immer noch zehrt.

Mathéos sonore Stimme geleitet mich behutsam in den Schlaf hinüber. Ich ahne, wie er mir ein weiteres Mal die fiebersenkende Tinktur verabreicht, bevor er sich mit einem kurzen Nachtgebet verabschiedend zurückzieht. Morgen, so verspricht er mir, wird er die Beschreibung seines Stadtviertels fortsetzen. Und wenn ich darüber hinaus noch Interesse habe, versichert er, wäre es ihm ein Vergnügen, mir Einblicke in die außergewöhnlichen Kirchenbauten, die Befestigungsanlagen und die Entwicklung der anderen beiden barrios zu vermitteln.

16. Februar

Ein neuer Morgen, ein neuer Tag, aber offensichtlich kein guter. Meine Pilgerkluft ist schweißgetränkt und krampfartiger Husten schüttelt meinen geschwächten Körper. Mein Brustkorb schmerzt bei jedem Atemholen. Ein metallisch schepperndes Röcheln entsteigt meiner Kehle. Jede Bewegung bereitet mir Pein. Als ich die Augen aufschlage erkenne ich Pater Mathéo neben meiner Bettstatt. Seine Sorgenfalten und seine zum Gebet gefalteten Hände sind mir nicht entgangen. Zu spät wendet er sich ab, um geschäftig Holzscheite auf der Feuerstelle nachzulegen. Mein Zustand scheint sich keineswegs gebessert zu haben. Teilnahmslos lasse ich das Wechseln der Wadenwickel über mich ergehen, schlucke den gallebitteren Saft hinunter und kaue auf auswurffördernden Süßholzwurzeln herum.

Ich zähle die Stundenschläge und bete zu Gott. Möge er mir wieder auf die Beine helfen, damit mein Auftrag nicht umsonst war. Immer wieder taste ich nach der unter meinem Gewand versteckten Reliquie. Nur um sicher zu gehen, dass sie noch an ihrem Platz ist. Bilde ich es mir nur ein oder brennt mir die Reliquie des erstberufenen Apostels tatsächlich eine tiefe Wunde in mein Fleisch? Eine drängende Mahnung, meinen Weg fortzusetzen?

Als die Abenddämmerung heraufzieht, kommt Pater Mathéo zurück. Draussen muss es geschneit haben. Geräuschvoll klopft er seinen Umhang und seine Schuhe ab, die kleine Wasserlachen auf dem lehmigen Boden hinterlassen. Nachdem er seine Einkäufe gewissenhaft verstaut hat, setzt er sich zu mir. Diesmal versuche ich ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, aber es scheint wenig überzeugend. Statt es zu erwidern, blickt er mich durchdringend aus melancholischen Augen an. Ich kann ihm nichts vormachen. Da er momentan nicht mehr für mich tun kann, als zu beten, dass die therapeutischen Maßnahmen anschlagen, schlägt er vor, in unserem Zeitvertreib fortzufahren. Ohne meine Antwort abzuwarten, nimmt er den Faden seiner gestrigen Erzählung wieder auf.

Die Iglesia San Pedro de la Rúa

Unsere virtuelle Reise startet bei der Kirche San Pedro de la Rúa, die zum festen Bestandteil des städtischen Verteidigungsgürtels gehört. Vor meinen Augen lässt Mathéo die bereits beeindruckenden Dimensionen der Wehrkirche entstehen, obwohl der Bau noch nicht abgeschlossen ist. Das Hauptschiff mit dreigeteiltem Chor, die überhohe Gewölbedecke, ein kunstvoller Kreuzgang und das symbolkräftige Portal sind schon seit mehreren Jahrzehnten der Stolz des Frankenviertels. Nur an den Seitenschiffen wird noch fleißig gehämmert und gemeißelt.

Offenkundig übt der Eingangsbereich eine magische Anziehungskraft auf Pater Mathéo aus. Fast jede freie Minute, so gesteht er, eilt er die wenigen Schritte bis zur Kirche, um jede Einzelheit der arabisch inspirierten Pforte zu bewundern. Für ihn ist das Portal der symbolische Eingang zum Paradies, der Übergang von der irdischen Welt in den Schoß Gottes. So bin ich kaum erstaunt, als er mir jede künstlerische Finesse des Figurenschmucks auswendig beschreibt.    

Mit leuchtenden Augen teilt er sein außergewöhnliches Erlebnis der Erleuchtung mit mir: das Christusmonogramm über der Eingangspforte mit den vertauschten Buchstaben Alpha und Omega. Diese winzige Absonderlichkeit gab ihm den Schlüssel zum Verständnis der Weltordnung in die Hand. Sie offenbarte ihm, dass sich das kosmische Rad permanent weiterdreht, wodurch das Leben ein einziger Kreislauf ist. Diese Erkenntnis macht Pater Mathéo glücklich, denn sie bestätigt seine Hoffnung auf ein Leben über den Tod hinaus.

Anschließend unternimmt Pater Mathéo mit mir einen Spaziergang durch die Welt der Fabelwesen auf den Kragsteinen. Wir bewegen uns zwischen kuriosen Harpyien und grausamen Greifen, erschrecken uns vor gefährlichen Drachen und machen zusammen mit einem Zentaur bewaffnete Jagd auf einen weiblichen Hybrid mit gespaltenem Fischschwanz. Überdeutlich kann ich dem Wortschwall meines vielseitigen Pflegers entnehmen, wie hingerissen er von der Genialität des Steinmetz ist, der diese aussagekräftigen Figuren in Szene gesetzt hat. 

Der Festungsgürtel

Es ist spät geworden. Als Pater Mathéo zum Überblick über die einzelnen Elemente der wirkungsvollen Verteidigungslinie von Estella ansetzt, gleite ich bereits wieder in einen dumpfen Dämmerzustand hinüber. Nur einzelne Wortfetzen erreichen mich noch, so dass ich bald nicht mehr weiß, ob ich noch zuhöre oder bereits träume.

Ich werde entführt in den ausgeklügelten Befestigungsring, dessen Bollwerke über einen hohen Schutzwall miteinander in Verbindung stehen. Alle drei ragen sie rechterhand des río Ega in die Höhe, denn feindliche Angriffe sind nur aus dem Süden, aus Kastilien zu befürchten. Aber die Einwohner haben nichts zu befürchten, denn die von einem tiefen Graben umgebene Verteidigungslinie gilt als uneinnehmbar.

Die Festungen tragen die Namen Castillo Zalatambor, Belmecher und Atalaya. Zalatambor, die mächtigste der Burganlagen, wird vom König genutzt, wenn er in Estella weilt. In ihrem Schatten erstreckt sich das Stadtviertel San Pedro, während Belmecher zum Schutze der weiter östlich gelegenen Judengemeinde Elgacena dient. Zur Absicherung der Südflanke ist die vorgelagerte Festung Atalaya angedacht. Zusätzlich können die beiden Wehrkirchen San Pedro de la Rúa, und San Miguel auf der anderen Seite des Flusses, als Rückzugsort genutzt werden. Darüber hinaus besitzt jeder Bezirk einen eigenen Mauergürtel mit befestigten Zinnentürmen und Einlasstoren. Pater Mathéo hat mich überzeugt. Estella ist eine absolut sichere Stadt.

rot: befestigtes Stadtviertel San Pedro de la Rúa;
blau: Viertel San Miguel
grün: Viertel San Juan

Und vor allem ist es eine überaus beeindruckende Stadt. Ich meine bereits jeden Winkel, jede Straßenecke, jedes Gebäude zu kennen. Nur zu gerne würde ich aufstehen und die Schönheiten, die ich in aller Ausführlichkeit porträtiert bekomme, mit eigenen Augen sehen. Aber ich darf meinen Auftrag nicht aus den Augen verlieren. Ich muss meinen Weg nach Santiago de Compostela fortsetzen. Vielleicht morgen. Oder übermorgen. Wäre ich nur nicht so schwach und müde. Unendlich müde…

17. Februar

Kräftezehrende, kurz aufeinanderfolgende Hustenanfälle hielten mich fast die ganze Nacht wach. Stets war Pater Mathéo zur Stelle, um mir das Abhusten des gelblich-grünen Auswurfs zu erleichtern. Doch die Qual nimmt kein Ende. Jeder Atemzug gleicht einem Messerstich bis tief in meine Eingeweide. Der heiße Tee, den er mir schluckweise reicht, verschafft nur wenig Linderung. Verzweiflung und Panik ergreifen von mir Besitz. Meine Kräfte schwinden mehr und mehr, mein Körper glüht in einem verzehrenden Feuer und Pater Mathéo steht Ratlosigkeit und tiefes Bedauerns ins Gesicht geschrieben. Kann dieses, mein Schicksal Gottes Wille sein? Hat Er vergessen, auf welch ehrenvolle Mission Er mich entsandte? Habe ich sie bis hierher nicht zu seiner Zufriedenheit erfüllt? Warum nur erlegt Er mir diese schwere Prüfung auf?

Soll ich mich Pater Mathéo anvertrauen, mich zu erkennen geben und die Beichte ablegen? Was, wenn dies eine vorschnelle Entscheidung ist und ich sie später bereuen muss? Meine Gedanken kreisen nur noch um die Frage, wie ich sicherstellen kann, dass diese einmalige Reliquie sicher ihren Bestimmungsort erreicht. Ich hoffe auf ein Zeichen, einen Wink Gottes.

Als ich wieder zu mir komme, ist es bereits Mittag. Pater Mathéo weicht nun nicht mehr von meiner Seite. Geschäftig wechselt er die kühlenden Umschläge, stellt meine Füße in Eiswasser und wickelt mich anschließend in Berge von Schafsdecken ein. Er heizt das Feuer an, hält Tee und Suppe am Köcheln, alles begleitet von einem unermüdlichen Reigen an Stoßgebeten. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, aber in meinem Innern weiß ich, er ist mit seinem Latein am Ende.

Mit einer zaghaften Geste bitte ich ihn, seinen Schemel wieder an meine Bettstelle zu rücken und seinen gestern unterbrochenen Bericht fortzusetzen. Er lässt sich nicht zweimal bitten. Immerhin kann er mir wenigstens auf diese Art und Weise Zerstreuung verschaffen. 

die Palmada

Gemeinsam haben wir in den vergangenen Tagen und Nächten fast alle Lieblingsplätze seines Viertels vor unserem inneren Auge vorbeispazieren lassen. Es fehlt nur noch ein Abstecher zur Iglesia de Santo Sepulcro, die über die Hütten der Gerber, die sich zur Ausübung ihres Handwerks in Flussnähe niedergelassen haben, wacht. Ihre Fassade muss, so höre ich aus den schwärmenden Worten von Pater Mathéo heraus, ein besonderes Schmuckstück sein. Doch bevor er sich in der akribischen Beschreibung von Santo Sepulcro verliert, möchte er mir die beiden anderen Stadtviertel jenseits des Flusses Ega vorstellen.

Über eine einbogige Brücke betreten wir das Viertel San Miguel, benannt nach der auf einem Hügel thronenden Pfarrkirche. San Miguel besitzt ebenfalls schon relativ lange das Sonderrecht des Fuero, jedoch mit dem Unterschied, dass sich hier vor allem Navarresen niederlassen durften. Auch in diesem Bezirk ist der Warenumschlag die bestimmende Triebfeder des Wachstums. 

Ein Stichwort, das Mathéo abschweifen lässt. Er will mir unbedingt die Bedeutung der sogenannten Palmada erklären. Eine Steuer, mit der jeder Händler bei Durchquerung der Stadttore  belegt wird. Sie umfasst das Maß einer Hand, was nicht besonders viel erscheint. Wie man sich täuschen kann. Zur Veranschaulichung greift Pater Mathéo in die neben der Feuerstelle aufgestellten Säcke mit Mehl, Hafer, Weizen und Leinsamen. Jede Handvoll lässt er in eine große Tonschale gleiten, die sich schnell bis zum Rand füllt. „Da kommt an einem Tag einiges zusammen, denn die Steuer wird auf jeden Sack erhoben, egal ob dieser voll oder bereits halbleer ist. Zum Glück ist noch keiner auf die Idee gekommen, die vielen kleinen Säcke durch weniger, dafür aber größere zu ersetzen. Dies würde die Steuereinahmen unseres Viertels nämlich deutlich schmälern.“ Kaum ist der Gedanke ausgesprochen, bekreuzigt sich Mathéo und bittet um Verzeihung für seine unchristliche Einstellung.

17. Februar Fortsetzung

Ich kann ein schwaches Schmunzeln nicht unterdrücken. Pater Mathéo ist nicht nur ein geduldiger Priester und Krankenpfleger, an ihm ist bestimmt auch ein cleverer Kaufmann verloren gegangen. Und leider einer, der sehr mitteilungsbedürftig ist. Dies bereitet mir Kopfschmerzen und meine Gedanken wieder schweifen ab. Was, wenn ich den Kampf gegen das Fieber und die Lungenentzündung nicht gewinne? Inzwischen habe ich volles Vertrauen zu Pater Mathéo gefasst. Ich bin mir sicher, er würde meine Mission pflichtbewusst zu Ende führen. Doch könnte er das Geheimnis auf dem langen, bevorstehenden Weg für sich behalten? Oder würde mir, würde uns, seine Schwäche zum Verhängnis werden?

Die Stadtviertel San Miguel und San Juan

Seine Stimme holt mich aus der Grübelei zurück. Er entschuldigt sich, dass er mir keine Einzelheiten über die Hauptkirche von San Miguel erzählen kann, denn bedauerlicherweise führen ihn seine Ausflüge nicht sehr häufig auf die andere Flussseite. Außerdem bereitet ihm der steile Anstieg auf den Hügel La Mota große Mühe. Auf jeden Fall berichtet Mathéo, dass der Bau des festungsähnlichen Gotteshauses Mitte des 12. Jahrhunderts initiiert wurde. Allerdings zog er sich über viele Jahre hin, sodass gleich drei Baumeister Gelegenheit hatten der figurenreichen Nordfassade ihren Stempel aufzudrücken. 

Weiter geht es westwärts in den dritten und jüngsten Gemeindebezirk Estellas. Ich glaube, unser Rundgang, auch wenn er nur in Gedanken stattfindet, hat Pater Mathéo selbst ein wenig ermüdet. Nicht mehr als zwei Sätze widmet er dem Viertel San Juan. Zudem, über Konkurrenz spricht man nicht gerne, denn dazu hat sich der multikulturelle Stadtteil aus Navarresen und Franken rund um die Kirche und den Plaza de los Fueros über die letzten Jahre gemausert. Es ist mittlerweile das schnellst wachsende Viertel Estellas, sowohl im Hinblick auf die Bevölkerungszahl als auch auf die wirtschaftliche Blüte, gibt Pater Mathéo neidvoll zu.

Der Codex Calixtinus

Ich spüre, dass sich unsere gemeinsame Reise durch alle Viertel, Besonder- und Eigenheiten von Pater Mathéos Heimatstadt Estella dem Ende zuneigt. Doch offensichtlich möchte er noch eine Tatsache loswerden, die ihm besonders am Herzen liegt. Mit stolz geschwellter Brust verkündet er, dass Estella die einzige Stadt auf navarresischem Boden sei, die im berühmten Codex Calixtinus lobenswert erwähnt wird.

Es handelt sich dabei um etwa einhundert Jahre alte handschriftliche Aufzeichnungen des französischen Priesters Aymeric Picaud  während seiner Pilgerschaft nach Santiago de Compostela. Für viele Pilger, dies des Lesens mächtig sind, gilt dieses Brevier als Maß aller Dinge. Doch leider lässt es weder an den Bewohnern noch den Dörfern Navarras nur ein gutes Haar. Mit einer Ausnahme: Estella.

Mathéo kränken die beleidigenden Äußerungen über Navarra deshalb wenig. Er übergeht sie mit einer gespielter Gleichgültigkeit, lassen sie doch das Bild, das sein Landsmann von Estella zeichnet, in einem umso günstigeren Licht erscheinen: „Estella, das durch gutes Brot, vorzüglichen Wein, den Überfluss an Fleisch und Fisch sowie durch viele weitere Güter hervorsticht. In Estella fließt die Ega, deren Wasser mild, rein und ausgezeichnet ist.“

17. Februar – letzter Eintrag

Ich kann mich nicht mehr auf die Worte von Pater Mathéo konzentrieren. Sie verschmelzen zu einem einzigen Klumpen in meinem Kopf, aber sein Singsang wirkt beruhigend auf uns beide. Er scheint zu glauben, dass solange sein Redefluss nicht abbricht, mir nichts zustößt. Ein aussichtsloser, verlorener Kampf. Was können Worte schon gegen das vorherbestimmte Schicksal, gegen den Willen Gottes ausrichten? Worte verhallen, kaum dass sie ausgesprochen sind. Sie werden fortgetragen wie ein Blatt im launischen Herbstwind. Vielleicht besitzen sie Macht im Duell von Philosophen, aber im Ringen um Leben und Tod sind sie zu leichtgewichtig. Worte defilieren einfach vorbei, wie die Straßen und Bauten Estellas, die ich nie mit eigenen Augen gesehen habe und vielleicht auch ….

Ich muss erneut eingenickt sein. Als mich ein weiterer Hustenanfall weckt, glaube ich zu ersticken. Verzweifelt, mit letzter Anstrengung ringe ich nach Luft, doch lediglich ein schwaches Röcheln entsteigt meiner Kehle. Ich spüre wie Pater Mathéo sich über mich beugt, versucht mich aufzurichten, um mir das Atmen erträglicher zu machen. Seine stummen Tränen benetzen mein Gesicht und mit einer zärtlichen Geste drückt er meine Hände, als aus weiter Ferne eine Stimme meinen Namen ruft. Sie verheißt mir ewigen Frieden, Seelenheil und Glückseligkeit.  

Wie die Geschichte ihren Lauf nahm

So oder ähnlich mögen die letzten Tage und Stunden des Bischofs von Patras ausgesehen haben, der im Jahre 1270 in Estella verschied. Er hatte den Auftrag, das Schulterblatt des Apostels Andreas, der im griechischen Patras auf dem Peloponnes gekreuzigt worden war, sicher nach Santiago de Compostela zu bringen. Die wertvolle Reliquie sollte dort einen würdigen Platz in der Kathedrale zugeteilt bekommen. Um von Wegelagerer und Räubern verschont zu bleiben, reiste der Bischof inkognito in armseligem Pilgeroutfit und ohne Begleitung.

Nach über einem Jahr harter und entbehrungsreicher Wanderschaft erreichte er Estella, wo er unerwartet verstarb, ohne dass er seine Identität oder seine Mission jemandem hätte anvertrauen können. Neben anderen mittellosen Pilgern wurde er auf dem Friedhof der Kirche San Pedro de la Rúa beerdigt.

Als der Kirchendiener mehrere Nächte hintereinander auf ein Leuchten über der frischen Grabstelle aufmerksam wurde, grub man den Leichnam wieder aus. Und siehe da, ein Bischofsring, Teile des Bischofsstabes, die Reliquie des Heiligen Andreas und ein versiegeltes Dokument traten zutage. Das Schriftstück wies den Verstorbenen als Bischof der griechischen Stadt Patras aus und bestätigte die Echtheit des mitgeführten Heiligenknochens. Daraufhin beerdigte man den Bischof seinem Stand entsprechend in einem steinernen Sarkophag im Kreuzgang der Kirche San Pedro de la Rúa. Der Reliquienschrein mit den Überresten des Apostels fand seine letzte Ruhestätte in der ihm geweihten San Andrés-Kapelle im linken Seitenschiff des Tempels. Die Kathedrale von Santiago de Compostela erreichten sie bis heute nicht.

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