Kanzel des Predigers Johann Geiler von Kaysersberg im Muenster in Strassburg
Münstergeschichten,  Straßburger Spaziergänge

Die Kanzel des Geiler von Kaysersberg und das Münstermaskottchen


Als ich vor Kurzem mal wieder auf Entdeckungstour im Straßburger Münster unterwegs war, hörte ich einen älteren Mann zu seiner Frau sagen: „Geh schon mal vor, ich muss nur noch kurz meinem kleinen Freund Guten Tag sagen“. Anschließend verschwand er hinter der vierten Säule auf der Nordseite des Mittelschiffs. Seltsamerweise konnte ich an dieser Stelle niemanden entdecken. Halluzinierte der Mann etwa? Aber dann erkannte ich, dass er nur das putzige Münstermaskottchen am Aufgang zur Kanzel begrüßte. Ich war erleichtert und gleichermaßen von dieser treuherzigen Geste angetan, dass ich mir gleich vornahm, den nächsten Blogartikel diesem extravaganten Kunstwerk, seinem virtuosen Baumeister, als auch dem wortgewaltigen Tugendprediger Geiler von Kaysersberg und natürlich seinem vierbeinigen Winzling zu widmen.

Eine außergewöhnliche Kanzel für einen neuen Stern am Predigerhimmel

Die Kanzel im Straßburger Münster ist bei Weitem kein schlichter Predigerstuhl. Nicht nur, weil sie künstlerisch zu den absoluten Meisterwerken der Spätgotik zählt, sondern weil sie auch untrennbar mit einem der berühmtesten Kirchenmännern seiner Zeit, Dr. Johann Geiler von Kaysersberg, verbunden ist. Man spricht deshalb im Münster auch nicht einfach nur von „der Kanzel“, sondern immer von „der Kanzel des Geiler von Kaysersberg“.

Der Priester und promovierte Theologe war nämlich mehr als nur ein Verkünder von Gottes Wort. Er war ein begnadeter Prediger und seine Gottesdienste legendär. Jede Gemeinde, jede Diözese im Heiligen Römischen Reich riss sich um ihn. Der große Coup gelang jedoch Straßburg. Als Geiler dem emsigen Werben des Straßburger Ammeisters Peter Schott endlich nachgab, ab 1486 den Domprediger-Posten zu übernehmen, veranlasste man umgehend den Bau einer neuen Kanzel im Mittelschiff der Kathedrale. Was also hatte Geiler von Kaysersberg an sich, dass sich die Kirche dafür in extra Unkosten stürzte?

Johann Geiler von Kaysersberg

Als im März des Jahres 1445 in dem kleinen Bürgerhaus der Familie Geiler in Schaffhausen ein kräftig schreiendes Bündel Mensch das Licht der Welt erblickte, ahnten die stolzen Eltern wohl kaum, dass sich hier bereits eine große Predigerkarriere ankündigte. Oder etwa doch? Tauften sie deshalb ihren Sprössling nach diesem ersten aufsehenerregenden Auftritt auf den Namen des Evangelisten Johann(es)?

Wie auch immer. Nach dem frühen unglückseligen Tod des Vaters bei einem Bärenangriff übernahm der im elsässischen Kaysersberg wohnende Großvater die Vormundschaft für den erst fünfjährigen Jungen. Zehn Jahre später nahm Johann Geiler von Kaysersberg, wie er sich nun nannte, in Freiburg das Studium an der Artistenfakultät auf. Nach erfolgreichem Magister Artium-Abschluss blieb er der Universität noch für zwei Jahre als Dekan erhalten, bevor er sich 1470 zum Priester weihen ließ. Anschließend begab er sich zum Theologiestudium nach Basel, das er fünf Jahre später mit dem Doktortitel abschloss.

Anschließend folgte er dem Ruf an die Freiburger Universität, wo er sich jedoch bald eingestehen musste, dass der zwar angesehene, aber wenig aktive und vielmehr administrativ und repräsentativ überladenen Posten des Rektors absolut nicht seinem Naturell entsprach. Also hing er seine Universitätskarriere an den Nagel. Als dies publik wurde, standen die renommiertesten Bistümer Schlange um den charismatischen Prediger. Nach einem kurzen Intermezzo in Würzburg zog es Johann Geiler von Kaysersberg nach Straßburg. Zunächst hielt er seine flammenden Reden von der Kanzel der Lorenzkirche aus, bis er 1486 das Engagement als Domprediger übernahm. Ganze 33 Jahre blieb er dem Münster und seiner Gemeinde treu, bis er 1510 verstarb.

Klerus und Volk gleichermaßen am Pranger

Prediger Johann Geiler von Kaysersberg

Die Posaune des Straßburger Münsters, wie Geiler gerne von seiner Gemeinde genannt wurde, nahm auf der Kanzel kein Blatt vor den Mund. Er sah sich sowohl als Wächter der Tugend als auch Chefankläger der sündigen Gesellschaft. Und damit ihn seine Gemeinde sehr wohl verstand, gab er seine Predigten nicht mehr auf Lateinisch, sondern in verständlichem Pfarrerdeutsch zum Besten. Dabei entwickelte er eine plastische, mitunter derbe und spöttische Bildsprache. Er verpackte das Wort Gottes in lebensnahe Erzählungen, verständliche Gleichnisse oder Allegorien, in denen sich das einfache Volk wiederfand. Aber auch Kirche und Klerus blieben von seiner Kritik nicht verschont. Er prangerte den Kauf, Missbrauch als auch die Verweltlichung der Ämter an und hielt den Priestern den Spiegel ihres liederlichen Lebens vor. Die Verwahrlosung ihrer Sitten und Moral machten nicht einmal vor der Kollektenumleitung in die eigenen Taschen halt.

Kaiserlicher Hofkaplan und päpstliche Ungnade

Häufig wurden seine mitreißenden Reden mitgeschrieben und ohne sein Wissen oder gar seine Zustimmung weiterverbreitet. So hat sich unter anderem folgende Geschichte zum unkritischen Opportunismusgebaren der Menschen erhalten.

Es war einmal ein gänzlich mittelloser, einsamer Priester, der eines Tages durch ein Zeichen Gottes zum Bischof gewählt wurde. Als sich das Ereignis herumsprach, fanden sich plötzlich jede Menge Kleriker und Normalsterbliche ein, um sich in seiner Nähe und seinem Glanz zu sonnen. Jeder verhielt sich so, als ob er der beste Bekannte, der engste Freund des Bischofs sei. Da fragte der neu ernannte Würdenträger jeden Einzelnen nach seinem Geburtsdatum. Vielleicht schummelte hier der ein oder andere Anwesende um ein paar Jahre, aber grundsätzlich gaben alle ihr korrektes Alter an. Immer wieder schüttelte der Bischof den Kopf und sagte zu den Vorgetretenen: „Es tut mir leid, aber ihr könnt definitiv nicht mein Freund sein. Gestern noch, als ich arm und einsam war, hatte ich keinen einzigen Freund. Also können nur diejenigen zu meinen Freunden zählen, die noch keinen Tag alt sind.“

Während Kaiser Maximilian I. die Ansichten Geilers schätzte und ihn 1501 zum Hofkaplan ernannte, standen die hohen Geistlichen in Rom seinen Schriftwerken ablehnend gegenüber. Öffentliche Kritik schmerzte und untergrub die Autorität des obersten Kirchenherrn. Statt selbstkritischer Auseinandersetzung ließ Papst Paul IV. die Schriften des Straßburger Predigers noch 50 Jahre nach dessen Ableben auf den Index der verbotenen Bücher setzen. Pressefreiheit war im 16. Jahrhundert ein Fremdwort, Vetternwirtschaft bei den Päpsten und ihren Angehörigen dagegen nicht.

Doch zurück zur Kanzel.

Die Kanzel des Geiler von Kaysersberg – ein wahrer Hingucker

Als ich das rosa Sandstein-Marmorwunder im Münster zum ersten Mal bewunderte, traute ich meinen Augen kaum. Ein wahrhaftiges Wimmelbild aus über 50 Makro- und Mikroskulpturen breitete sich vor mir aus. Exzessiver gotischer Flamboyant in seiner Vollendung. Opulent überladen und doch so filigran. Bögen, Nischen, Säulen, Fialen, Baldachine mit und ohne biblische Heilsbringer, Heilsverkünder, tetramorphe Gestalten oder Märtyrer füllen jeden Zentimeter des sechseckigen Kanzelkorbs ist aus.

Der Kanzelschmuck diente der bildlichen Untermalung des von oben herab verkündeten Wort Gottes, doch konnten sich die Gläubigen angesichts des raffinierten Maßwerks und des Skulpturenreichtums überhaupt auf die Predigt konzentrieren? Ich wäre bestimmt kein guter Zuhörer gewesen, denn ständig hätte ich nur darüber nachgegrübelt, welche Kunstfertigkeit ein Steinmetz besitzen musste, um ein derart luftig-leichtes und zugleich so fein herausgearbeitetes steinernes Klöppeltuch zu zaubern.

Engel mit Schweisstuch der heiligen Veronika; figuerliches Detail der Kathedrale in Strasbourg

Im Zentrum des Kanzelkorbs findet sich selbstverständlich die Kreuzigungsszene mit der Jungfrau Maria zur Linken und dem Apostel Johannes zur Rechten. Weiter entfernt haben sich acht Apostel mitsamt den Instrumenten ihres Martyriums oder ihrer besonderen Attribute positioniert. Unter verschnörkelten Miniaturbaldachinen leisten ihnen lockige Engelsfiguren mit den Werkzeugen der Passion Gesellschaft. Manche davon sind leider schon zur Unkenntlichkeit verdammt. Zum Glück hat wenigstens der Himmelsbote mit dem Schweißtuch der Veronika und dem darauf abgebildeten Antlitz Jesu alle Widrigkeiten der Zeit überstanden.

Kreuzigungsszene am Kanzelkorb der Kathedrale in Strasbourg

Erntehelfer im Weinrankendickicht und die Zensurenpolizei

Ebenso faszinierend präsentiert sich der am Oberlauf des Geländers und um den Kanzelkorb herumlaufende Fries aus knorrigen Weinranken. Nicht wundern, wenn es aus dem verworrenen Blattwerk-Dschungel plötzlich raschelt, fiepst und piepst. Fleißige Erntehelfer sind zwischen den Rebstöcken unterwegs. Man kann heimliche Naschkatzen ertappen, die sich an den Trauben vergreifen, Welpen beim Versteckspiel zwischen den Weinblättern beobachten, mit Totenköpfen um die Wette grinsen oder mit dem Ornithologie-Lexikon anrücken, um die am Fries zwischengelandeten Vögel zu bestimmen.

Ursprünglich gab es am Fuß des Geländers ein weiteres dekorativen Schmuckband. Allerdings mit allerhand gewagten Szenen, die deutliche Zweifel am untadeligen Leben des Klerus aufkommen ließen. Das ging dem Großdekan dann doch zu weit und er sorgte 1764 für die Entfernung der seinem Berufsstand schadenden Propaganda. Bereits ein Jahrhundert zuvor schritt die katholische Zensurenpolizei an einem Pfeiler gegenüber der Kanzel zur Tat. Eine in klerikale Gewänder gehüllte Tierprozession machte hier die Diener Gottes zum öffentlichen Gespött. Ein No-Go für die scheinbaren Moralhüter und Verdunklungsspezialisten. Schnellstens wurde am Pfeiler reinen Tisch gemacht und der allegorische, in Stein gemeißelte Vorwurf entfernt.

Kurzzeitig hatte ich die beiden Wächter an der Kanzeltüre in Verdacht, sich zum Werkzeug der katholischen Säuberungsaktionen gemacht zu haben. Dann allerdings verwarf ich den Gedanken wieder, nachdem ich gesehen hatte, wie leidenschaftlich sie mit ihrer Aufgabe als Zugangskontrolleure zum Wort Gottes beschäftigt sind. Doch die beiden Bodyguards des Predigers Geiler von Kaysersberg sind nicht die einzigen Aufpasser an der vergoldeten Kanzeltüre.

zwei Soldatenfiguren an der Kanzeltuere im Strassburger Muenster

Hoch oben an den Ziertürmen der seitlichen Einfassung wacht eine weitere Person akribisch über das Geschehen zu ihren Füßen. Ob sich hier der Baumeister selbst verewigt hat, um sein Aufgabenfeld stets im Blick zu haben? Aber was macht dann die kopflose Gestalt auf der Sockelposition unter ihm? Hütet sie den Eingang zur unter ihr angedeuteten Geheimtüre?

Der Heilige unter der Treppe – Alexius von Edessa

die Legende des heiligen Alexius am Treppenaufgang zur Kanzel im Muenster zu Strassburg

Weiter geht es mit unserem Kanzel-Erkundungsgang unter dem Aufgang zur Treppe. Ein Mann in zweifacher Ausführung und eine Frau sitzen hier nämlich nicht grundlos. Ihre Platzierung ist keine Bestrafung, sondern hat eine tiefer gehende Bedeutung. Alexius von Edessa, die für immer entschlafene Figur auf der Strohmatte mit der Schriftrolle in der Hand und der Pilgertasche über sich, war einst ein wohlhabender römischer Senatorensohn. Er wuchs in einem behüteten Elternhaus auf, wurde christlich erzogen, beruflich standen ihm alle Möglichkeiten offen und er war gerade im Begriff, eine wunderhübsche Frau zu heiraten. Es mangelte ihm also an nichts. Dennoch erschien ihm das bürgerliche Leben nicht erstrebenswert. Also bat er seine Frau um Verständnis, übergab ihr Ehering und Gürtel und verließ sie noch in der Hochzeitsnacht. Seine Flucht vor dem Zorn oder Gram der Eltern verschlug ihn weit nach Osten bis vor die Kirchenpforte von Edessa.

Dort harrte er 17 lange Jahre aus, lebte von Almosen, die er trotz seiner eigenen Not mit den Ärmsten der Armen teilte und war dennoch glücklich. Eines Tages jedoch forderte eine göttliche Erscheinung den Pfarrer von Edessa während des Gottesdienstes auf, den Heiligen unter ihnen zu ihm zu führen. Dabei zeigte er auf die ausgemergelte Gestalt auf der Kirchentreppe. Da fiel es allen wie Schuppen von den Augen. Fortan kamen Gläubige aus nah und fern, um den Heiligen zu verehren. Doch Alexius suchte das Weite.

Eine großartige Symbolik

Über Um- und Irrwege gelangte Alexius zurück nach Rom, wo er an die Türe seines Elternhauses klopfte. Doch weder seine Mutter, sein Vater noch seine Verlobte erkannten in dem heruntergekommenen Bettler ihren Sohn bzw. Angetrauten. Sein Vater hatte immerhin Mitleid mit dem armen Mann. Er ließ ihn in einem Verschlag unter der Treppe des Elternhauses wohnen und durch die Dienerschaft bewirten.

Diese hassten den elenden Untermieter und schikanierten ihn nach allen Regeln der Kunst. Statt ihn mit Essen zu versorgen, schütten sie Putzwasser und Küchenabfälle über ihn aus, doch Alexius ließ alle Demütigungen stoisch über sich ergehen. 17 weitere lange Jahre. Dann schwanden seine Kräfte von einem Tag auf den anderen und er kehrte ins Himmelreich ein. Als sein Vater und seine Angetraute ihn tot unter der Treppe fanden, hielt Alexius ein Schriftstück in der Hand, in der er sich und seine Geschichte zu erkennen gab.

Welch anrührende Geschichte und welch großartige Symbolik die Figurengruppe unter dem Kanzelaufgang zu platzieren!

Das Münstermaskottchen oder Geilers Hund

So, jetzt haben wir es beinahe geschafft. Es fehlt nur noch unser Besuch beim Münstermaskottchen.

Über 500 Jahre wacht der kleine Hund, gut versteckt im dekorativen Wirrwarr der Kanzeltreppe, nun schon über die ewige Ruhe seines Herrchens. Wehmütig lässt er die guten alten Zeiten Revue passieren. Wie viel aufregender war es noch, als er Geiler von Kaysersberg immer zu seinen Predigten begleiten durfte. Aufmerksam behielt er die Gläubigen zu Füßen der Kanzel im Auge. Und wenn er entdeckte, dass dem einen oder anderen die Augen besonders schwer wurden, bellte er gerne mal kurz in die Runde. Manches Mal benutzten ihn die Gottesdienstbesucher aber auch als stille Post. Wenn Geiler bei der Predigt mal wieder kein Ende fand, zogen sie an seiner Leine. Daraufhin tippelte er dermaßen ungeduldig um sein Herrchen herum, bis dieser Mitleid hatte und sich den Rest von Gottes Wort für die kommende Woche aufhob.

der Hund des Predigers Geiler von Kaysersberg an der Kanzeltreppe im Muenster zu Strassburg

Nie wich er auch nur einen Schritt von Geilers Seite. Selbst im Winter begleitete er ihn auf die Kanzel, um sich dann zu seinen Füßen zusammen zu kuscheln, damit der Prediger sich nicht erkältete. Kann man sich eine treuere Seele vorstellen als diesen Winzling? Wohl kaum. Nicht umsonst ist das Münster deshalb Heimat unzähliger in Stein gemeißelter Vierbeiner. Dass man seinen Herrn, seine Freunde und ihn selbst mitunter spöttisch als Domini canes bezeichnete, störte ihn kaum. Vielmehr war er stolz darauf, zu den Hunden des Herrn zu gehören. Zwar war dies nicht unbedingt ein schmeichelhaftes Wortspiel auf die Dominikaner (lateinisch Dominicani) als Wachhunde der Heiligen Schrift, aber immerhin trat der Orden, dem auch Geiler von Kaysersberg angehörte, überzeugend für die Reinerhaltung des christlichen Glaubens ein. Dass dieser religiöse Eifer während der Inquisition groteske, ja geradezu barbarische, menschenverachtende Züge annahm, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Turbulente Zeiten für die Kanzel

Im Laufe der Geschichte sah Geilers anhänglicher Gefährte noch viele Prediger und Glaubensrichtungen die Treppen hinauf- als auch wieder hinuntersteigen. Die einen hielten sich länger, andere kürzer, manche kamen sogar wieder. Auf die Katholiken folgten die Protestanten, bis König Ludwig XIV. ein staatsreligiöses Machtwort sprach und die Katholiken wieder Herr im Hause sein durften. Aber nur bis die Französische Revolution aus dem Münster einen Tempel der Vernunft machte und alle religiösen Handlungen zur res non grata verurteilte. Nach dem atheistischen Zwischenspiel kamen nach dem Motto „aller guten Dinge sind drei“ wieder die Katholiken zum Zug.

Glaubenstechnisch war nun Ruhe eingekehrt, allerdings hatte die Kanzel in den turbulenten Zeiten enorm gelitten. Beschädigte oder entwendete Figuren wurden, so gut es ging, durch Reproduktionen ersetzt. Manchmal nicht immer stilecht. Als Schutzmaßnahme, aber sehr zum Verdruss aller Kunstinteressierten, installierte man ein rundumlaufendes Schutzgitter vor den Kanzelfuß. Dafür montierte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts den stilwidrigen Schalldeckel, der noch keine hundert Jahre zuvor hinzugefügt wurde, wieder ab. Spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960-er Jahren geriet die Kanzel komplett ins Hintertreffen. Seitliches Abkanzeln der Gläubigen war aus der Mode gekommen, der Pfarrer sollte seine Predigt nun zentral vor dem Hauptaltar halten.

Hans Meiger van Werde alias Hans Hammer

Bleibt abschließend noch zu klären, welches Künstlergenie dem Sandstein und Marmor dieses immense figürliche als auch dekorative Repertoire entlockt hatte.

Mit bürgerlichem Namen hieß der Schöpfer der Kanzel Hans Meiger van Werde. Bekanntheit erlangte er allerdings als Hans Hammer. Irgendwann zwischen den Jahren 1440 und 1445 in Franken geboren, zog es ihn 1471 das erste Mal nach Straßburg. Außer dem Eintrag im Logenbuch der Steinmetz-Bruderschaft bleibt es zunächst still um den Zugewanderten. Ebenso wenig ist bekannt, warum er der Stadt sieben Jahre später wieder den Rücken kehrte, um sich dieses Mal auf Wanderschaft und Jobsuche in Wien und später in Ungarn zu begeben.

Urkunde Ernennung Hans Hammer zum Meister der Dombauhütte in Strassburg
Ernennungsurkunde von Hans Hammer zum Baumeister der Kathedrale 1486

Fakt ist lediglich, dass er 1482 nach Straßburg zurückfand. Die Kathedrale war offiziell schon längst fertiggestellt, was aber nicht hieß, dass damit jegliche Bautätigkeiten abgeschlossen waren. Wie bei einem Eigenheim gab es ständig noch etwas zu verschönern, auszubessern oder anzubauen. Inzwischen war Hans Hammer in seiner Zunft auch kein unbeschriebenes Blatt mehr, sodass er im selben Jahr nicht nur die Bürgerrechte zugesprochen bekam, sondern auch zum Leiter der Dombauhütte ernannt wurde.

Copyright – Hans Hammer und ein Rätsel für Querdenker

Mit dem Bau der Kanzel wurde Hans Hammer 1484 beauftragt. Ein Jahr später war das Meisterwerk vollendet. Die Jahreszahl ist übrigens nicht nur unter der Treppe, sondern auch auf einer kleinen Plakette des Treppenzugangs zu finden. Wer jetzt meint, darauf nicht die Zahl 1485 entziffern zu können, sollte ein wenig um die Ecke denken. Eine halbe Acht kann nämlich auch eine Vier sein. Dann noch schnell den Taschenspiegel gezückt, und die fünf hat sich ebenfalls eingefunden.

Übrigens, wenn man die Kanzel eingehender betrachtet, stellt man durchaus verschiedenartige Stile als auch Qualitätsunterschiede in der Finesse der Ausführung fest. Zwar lag die Verantwortung und Hauptarbeit in den Händen des Leiters der Dombauhütte, jedoch kam er aufgrund des Zeitdrucks nicht umhin, einige Arbeiten zu delegieren. Hauptsache die Kanzel war rechtzeitig fertiggestellt, bevor der promovierte Theologieprofessor Geiler von Kaysersberg seine neue Stelle antrat.

Eine neue Anstellung musste sich auch Hans Hammer nach achtjähriger Münsterbautätigkeit suchen. Es stellte sich nämlich heraus, dass er mit derselben Position in Mailand geliebäugelt hatte. Ein gravierender Verstoß gegen den Dombauhütten-Kodex, was den Meister seine Stellung kostete. Zum Glück war 1513 der Fauxpas vergessen, verjährt oder verziehen. Hans Hammer übernahm erneut die Leitung der Steinmetzbruderschaft und stellte sich bis zu seinem Tod 1519 aufopferungsvoll in den Dienst des Straßburger Münsters.

Der beste Beobachtungsposten im Münster und der nie gebaute Turm

Hans Hammers vielfältige gestalterische Qualitäten kann man noch an weiteren Stellen im Münster bewundern. Seine Werke zeichneten sich durch einen enormen Detaillierungsgrad sowie höchste künstlerische Ansprüche aus. Versteckte Botschaften oder mystische Symbole gehörten dagegen nicht zu seinem Stil. Seine Bildsprache war immer geradeheraus, trotz seines Hangs für ausschweifende Verzierungen.

Drei Jahre nach Vollendung der Kanzel gestaltete der Meister der Dombauhütte den sogenannten Petit Trésor an der Außenwand des Südschiffs. Der zweistöckige Anbau wurde von der Dombauhütte völlig zurecht als kleine Schatzkammer bezeichnet, denn er diente als Dokumentenarchiv für alle mit dem Bau des Münsters in Zusammenhang stehenden Pläne, Bauzeichnungen und Verträge.

Während seines zweiten Karriereabschnitts am Straßburger Münster zeichnete Hans Hammer für die ehemalige Sankt-Martins- und heutige Laurentiuskapelle verantwortlich. Um dem Münster ein harmonisches Erscheinungsbild zu geben, entschied er parallel zur bereits Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen Kapelle für die Heilige Katharina im Süden ein entsprechendes Pendant auf der Nordseite zu schaffen.
In diese Schaffensperiode fällt vermutlich auch Der Mann auf der Balustrade, der von seinem privilegierten Aussichtsposten fasziniert die Engelssäule im südlichen Querhaus im Blick behält. Neben Geilers Mini-Hush-Puppy die zweite ungewöhnliche Figur, mit der der fränkische Steinmetz bis heute für Gesprächsstoff sorgt. Doch die Legende dazu muss noch ein wenig warten.

Musterbuch des Baumeisters und Steinmetz Hans Hammer

Hammers im Musée de l’Œuvre Notre-Dame (Frauenhausmuseum) ausgestellten Original-Bauzeichnungen eines verspielten, Maßwerk-überladenen Südturms blieben dagegen eine unvollendete Vision auf Papier. Aufgrund statischer Probleme mussten die Arbeiten am Südturm immer wieder abgebrochen und schließlich gänzlich aufgegeben werden.

Einen umfassenden Einblick in das Talent und Genie des Steinmetz, Architekten und Baumeisters Hans Hammer liefert sein handschriftliches Buch über „Maschinen beim Münster zu Straßburg gebraucht werden“. Es lohnt wirklich, das  digitalisierte Exemplar der Herzog August Bibliothek in Wolfbüttel zu durchstöbern.


Gut zu wissen

Streicheln und Füttern verboten!

Museum Œuvre Notre-Dame 

Noch ein Meisterwerk des Leiters der Dombauhütte Hans Hammer

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert