Der Mann auf der Balustrade
Wie jeden Tag machte sich Erwin von Steinbach auf die Runde durch seine Großbaustelle. Die Umsetzung seiner Baupläne an der Kathedrale von Straßburg erzielten gute Fortschritte, doch die Arbeiten mussten fortlaufend überwacht werden. Vertrauen war gut, Kontrolle besser, denn das Münster sollte als Meisterstück seiner Karriere in die Annalen eingehen. Bisher lief im Großen und Ganzen alles zur Zufriedenheit des Dombaumeisters. Vor einigen Jahren hatte es zwar einen großen Rückschlag durch einen Brand gegeben, der das Dach des Hauptschiffs samt Glocken und Orgel zerstörte, doch ansonsten waren zum Glück keine weiteren außergewöhnlichen Unglücksfälle oder Verzögerungen eingetreten.
Erwin von Steinbach liebte diese morgendlichen Rundgänge. Die Stadt erwachte gerade erst. Die ersten Bauern und Händler zog es mit ihren beladenen Karren in Richtung Marktplatz, Mägde eilten mit ihren noch leeren Körben am Arm hinterher und die Arbeiter in der Münsterbauhütte bereiteten sich auf ihr heutiges Tagwerk vor. Doch plötzlich zerriss ein an- und abschwellendes Gejammer die Idylle. Eilends lenkte der Dombaumeister seine Schritte ins südliche Querschiff, woher die mittlerweile in eine Schimpftirade ausgeartete Ruhestörung zu ihm drang. Meister Erwin befürchtete schon das Schlimmste, als er einen stattlich gekleideten Mann vor dem Engelspfeiler stehen sah. Mal die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, dann wieder den Blick starr nach oben gerichtet und die Säule kritisch umrundend, lamentierte der ungebetene Gast lautstark vor sich hin.
Erwin von Steinbach, der Engelspfeiler und sein größter Kritiker
„Geht es Euch nicht gut? Kann ich Euch helfen?“, sprach Erwin den Fremden an. Und schon polterte der Mann erneut los: „Seht Euch doch diese Säule an! Nie, nie, nie im Leben wird sie das schwere Gewölbe tragen können. Sie ist einfach viel zu dünn. Alles wird zusammenbrechen. Ihr müsst sie dicker machen, stabiler. Hat denn unsere Kirche nicht schon genug Schicksalsschläge erlitten? Feuer, Blitzschlag und wieder Feuer. Kein Kelch ging an ihr vorüber. Und nun das! Seht Euch doch die Säule an! Niemals wird das gut gehen! Zu allem Unglück habe ich auch noch ein beträchtliches Scherflein zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria in diese bauliche Katastrophe gesteckt. Ach herrje, alles umsonst! Ich sage Euch, nie, nie, niemals wird der Pfeiler halten. Das wird alles kein gutes Ende nehmen.“
Endlich schien dem Mann die Luft auszugehen. Meister Erwin kochte innerlich bereits über. Dieser anmaßende Besserwisser kam ihm gerade recht. Dennoch beherrschte er sich und fragte den Mann mit ruhiger Stimme: „Aber gefällt sie Euch denn nicht? Ist sie nicht wunderschön und anmutig? Habt ihr nicht Christus unseren Herrn, den Weltenrichter, ganz oben bemerkt und darunter die Engel mit ihren klingenden Trompeten? Und schaut her, hier unten tragen die vier Evangelisten die Heilsbotschaft in die Welt hinaus. Habt Ihr je eine schönere Säule gesehen?“
„Keine Frage, natürlich gefällt sie mir“, antwortete der Mann. „Sie schmückt unsere Kirche ungemein, aber trotzdem. Was hilft die Schönheit, wenn alles über uns einstürzt? Nie, nie, niemals wird…“. Bevor das Gejammere wieder von vorne losging, fiel Meister Erwin dem Mann ins Wort. „Kommt mit mir, wir werden sicher eine Lösung für das Problem finden“. „Das fehlte mir gerade noch. Ein unbelehrbarer Miesepeter. Doch der wird seine Lektion lernen“, dachte Erwin bei sich.
Der Mann auf der Balustrade
Er führte den Mann in seine Werkstatt und hieß ihn Platz nehmen. „Ha, jetzt kommt meine große Stunde. Endlich braucht der große Dombaumeister meinen Rat“, spekulierte der notorische Nörgler. Doch stattdessen mahnte ihn MaÎtre Steinbach zu schweigen und still zu sitzen. Er griff sich einen Gesteinsblock, hämmerte, meißelte und schliff wie wild darauf herum, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war.
Anschließend nahm er den Stein, begab sich mit dem neugierigen Mann im Schlepptau auf die Cantoria gegenüber der Engelssäule und setzte sein Werk auf der Balustrade ab. „Oh, das bin ja ich“, staunte der Fremde. „Aber was mache ich nur hier oben?“ „Ganz einfach“, erklärte Erwin. „Von hier oben habt Ihr den besten Blick auf den herrlichen Engelspfeiler. Und Ihr werdet solange hier ausharren, bis die Säule zusammenbricht. Macht es Euch bequem, bleibt guten Mutes und habt noch schöne Tage!“
Nun, der Engelspfeiler steht immer noch, das Gewölbe ist nie eingestürzt und auch der Dauergast auf der Balustrade neben der astronomischen Uhr hat sich seither keinen Zentimeter wegbewegt. Vermutlich denkt er sich noch heute: „Hätte ich mich mal mit meiner Schimpftirade nur nicht so weit aus dem Fenster gelehnt. Reden ist Silber, aber Schweigen ist Gold.“
Der Dolchstoß für die Legende
Doch wie viel Wahrheit steckt tatsächlich in der Legende, die Ludwig Schneegans seines Zeichens Stadtarchivar, Historiker und Unterbibliothekar 1852 in seinen Straßburger Münstersagen veröffentlichte?
Beginnen wir mit dem Engelspfeiler. Er entstand zwischen 1225 und 1240. Der Leiter der Münsterbauhütte, Erwin von Steinbach, lebte jedoch von 1244 bis 1318. Und die Sängerempore über der Kapelle des Heiligen Andreas schuf Hans Hammer um das Jahr 1485. Zu einer Zeit also, da Erwin Steinbach bereits 187 Jahre nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Folglich lässt sich selbst mit einer Extraportion gutem Willen die Zeitrechnung nicht so zurechtbiegen, als dass sich in der netten Geschichte auch nur ansatzweise ein wahrer Kern findet. Da braucht es zur vollständigen Desillusionierung nicht einmal mehr das Argument des Stilbruchs. Denn dass der natürlich dargestellte Mann auf der Balustrade keine Ähnlichkeit mit den fein herausgearbeiteten und idealisierenden Figuren von Erich von Steinbach besitzt, kann kaum geleugnet werden. Damit ist leider eines klar. Die Legende bleibt nichts weiter als eine Legende. Allerdings ist sie so gekonnt erzählt, dass sie sich bis heute durchgesetzt hat und immer noch von jedem Münsterführer gerne zum Besten gegeben wird.
Dombaumeister Hans Hammer als anonymer Dauergast im Münster(?)
Wer verbirgt sich also hinter dem seit über einem halben Jahrtausend von seinem Beobachtungsposten unermüdlich auf die Engelssäule starrenden Mann? Beide Arme bequem auf der Balustrade abstützend, sinniert er über den ungewöhnlichen Stützpfeiler. Künstlerische Anerkennung als auch Zweifel sprechen aus seinem Blick. Dabei outen ihn sowohl seine Kennermiene als auch seine standesgemäße Kleidung als Meister der Dombauhütte. Na, habt Ihr schon eins und eins zusammengezählt?
Ja, richtig! Aller Wahrscheinlichkeit nach haben wir hier ein Selbstporträt des Dombaumeisters Hans Hammer vor uns, der auch die außergewöhnliche Kanzel für den Prediger Geiler von Kaysersberg im Mittelschiff schuf. Belege für diese Theorie gibt es zwar nicht, aber Gegenargumente auch nicht. Es sei denn, Ihr möchtet wie Ludwig Schneegans mit einer mindestens so wunderbar zusammengestrickten Geschichte meinem Gedankengebäude einen gewichtigen Zweifel aufsetzen.
Gut zu wissen
Adresse
Cathédrale Notre Dame de Strasbourg / Liebfrauenmünster Straßburg
Place de la Cathédrale
F-67000 Strasbourg
Öffnungszeiten und Eintritt
Der Zutritt zum Straßburger Münster ist kostenfrei.
Aktuelle Informationen zu den Öffnungszeiten finden sich auf der Website der Kathedrale.
Das südliche Querhaus
Neben dem Mann auf der Balustrade und den beiden Hauptattraktionen des Straßburger Münsters im südlichen Transept, der Astronomischen Uhr sowie dem einzigartigen Engelspfeiler, fällt an der Westwand zur Katharinenkapelle ein mysteriöser Steinkreis ins Auge. Was es damit auf sich hat, erfahrt ihr in Kürze in einem anderen Blogbeitrag.
Weitere Werke des Dombaumeisters Hans Hammer
Mit der virtuosen Kanzel des berühmten Predigers Geiler von Kaysersberg setzte sich der Steinmetz und Dombaumeister Hans Hammer schon zu Lebzeiten ein Denkmal. Daneben gestaltete er auch die Laurentiuskapelle im nördlichen Seitenschiff und erbaute die kleine „Schatzkammer“ an der Außenwand des Südschiffs als Archivraum für die Dombauhütte.
Weitere Kunstwerke von Hans Hammer gibt es in der heute protestantischen Kirche Saint-Pierre -le-Jeune zu bewundern.
Nach seinem Ausschluss aus der Dombauhütte im Jahr 1490 musste sich Hans Hammer nach anderen Tätigkeitsfeldern umschauen. Dank seiner vielfältigen künstlerischen Fähigkeiten einerseits und den unzähligen Straßburger Sakralbaustellen andererseits, fand er problemlos ein Engagement in der nur 500 Meter Luftlinie vom Münster entfernt liegenden Jung-Sankt-Peter-Kirche. Hier wurde er mit der Anfertigung der Dreifaltigkeitskapelle sowie des darin aufgestellten Taufsteins beauftragt.