Jagd auf ein Einhorn; Fries des Nordturms der Cathedrale de Strasbourg
Münstergeschichten,  Straßburger Spaziergänge

Von Einhörnern, Riesenfischen und Schlangen – der Nordturm des Straßburger Münsters – Teil II


Quizfrage!
Was ist schneeweiß bis rosarot, besitzt ein spiralförmig zulaufendes Horn und galoppiert mit regenbogenfarbiger Mähne und Schweif durch jedes Kinderzimmer?
Richtig! Das Einhorn! Seit einigen Jahren erlebt dieses mythische Wesen einen abstrusen Hype. Es bedient alle nur erdenklichen Fantasy-Spielwiesen, macht erwachsene Menschen regelmäßig am 01. November, dem International Unicorn Day, zum Affen – äh Einhorn, und der auf Kommerz getrimmten Marketingfantasie sind eh keine Grenzen gesetzt. Selbst vor der Lebensmittelindustrie machen die Verkaufsstrategen keinen Halt. Einhornlutscher, Einhorntorten, Einhornschokolade, Einhornsenf sind noch die harmlosen Varianten. Richtig übel wird es aber bei der pinkfarbigen Einhornbratwurst in Kombination mit dem gut & günstig Einhorn-Toilettenpapier mit Zuckerwatteduft.

Den Einhorn-Vogel hat allerdings ein inzwischen insolventes Eisenbahnunternehmen mit seinen Beförderungsbedingungen abgeschossen: „Abweichend von den Bestimmungen nach § 12 3. ist die unentgeltliche Beförderung von Einhörnern in Begleitung von jeweils mindestens einem Kind bis einschließlich 14 Jahren in Mehrzweckabteilen zulässig, sofern die Sicherheit der Mitreisenden hierdurch nicht gefährdet wird.“
Kommentar überflüssig. Beschäftigen wir uns stattdessen mit Quizfrage 2: Warum lasse ich an dieser Stelle dem ganzen Einhorn-Wahnsinn freien Lauf?

Wie das Einhorn in die Bibel kam

Illumination des Einhorns aus dem Aberdeen Bestiary
Aberdeen Bestiary: © University of Aberdeen

Ganz einfach. Nach Teil I über das Hochrelief-Fries am Nordturm der Cathédrale de Notre Dame de Strasbourg wollen wir uns heute seinem Fortgang widmen. Und damit kommen wir an dem Fabelwesen, das bereits um etwa 100 v. Chr. im Alten Testament seine Feuertaufe erlebte, nicht vorbei. Alsdann widmete der Physiologus dem Unicornis ein Kapitel, indem er es wie folgt beschrieb: „Es ist ein kleines Tier wie ein Böckchen, friedlich ist es und ganz sanft, doch der Jäger kann ihm nicht nahe kommen, weil es gar so stark ist. Ein Horn hat es mitten auf der Stirn.

Während des folgenden Jahrtausends kam es dann zu erheblichen Genmutationen. Nicht umsonst zeichnete das Aberdeen Bestiary ein vollkommen anderes Bild: „Der Monoceros hat den Kopf eines Hirsches, den Schwanz eines Ebers, die Füße eines Elefanten und den Körper eines Pferdes. Aus seinem Kopf ragt ein drei Meter langes Horn.

Kommen wir zu Quizfrage 3. Wie schaffte es das Einhorn in die Bibel?
Ein Übersetzungsfehler trägt Schuld daran. War in der hebräischen Bibel noch von einem „Re-en“ (vermutlich ein Auerochse) die Rede, verlor das imposante Vieh mit der Übersetzung ins Griechische ein Horn und wanderte fortan als Monokeros bzw. Unicornis durch die Heilige Schrift. Mit Luthers deutscher Übersetzung etablierte sich das Einhorn bis zur Ausgabe von 1912. Im Rahmen der ab den 1960-er Jahren groß angelegten Bibelrevisionen sprach man ihm dann wieder ein zweites Horn zu, wodurch es zum Wildstier mutierte. Schade, nicht?

Szene 4 – Der Rockstar unter den biblischen Tieren

Doch egal, ob Einhorn oder Wildstier, das heutige Permanent-gute-Laune-Tier war, wie wir später noch sehen werden, im Alten Testament nicht besonders beliebt. Erst ab dem 12. Jahrhundert setzte es in der höfischen Literatur als auch in der christlichen Kunst zur Trendwende an. Das Einhorn wurde in der Ikonografie salonfähig und wählte Kapitelle, Glasfenster, Archivolte und Chorgestühle zu seinen bevorzugten Aufenthaltsorten. Gleich zwei Mal begegnet es uns am Fries des Nordturms.

Einhornjagd am Fries des Nordturms der Cathedrale de Strasbourg

Das Einhorn des Physiologus ist, seinem Aussehen zum Trotz, ein gar wildes Tier. Keinem Jäger war bislang das Glück hold, es zu fangen. Nur eine List hilft, wofür man als Lockvogel eine Jungfrau benötigt. In ihrer Nähe wird das Fabelwesen plötzlich handzahm. Nun ist der geeignete Moment für den Jäger gekommen, das mystische Wesen mit der Lanze zur Strecke zu bringen. Da hilft auch der zögerlich hervorgebrachte Einwand durch die erhobene Hand der Jungfrau nicht.

Was über unseren Köpfen zunächst wie eine profane Jagdszene anmutet, ist ein Paradebeispiel christlicher Symbolsprache. Jeder Akteur bzw. jede Akteurin erhält eine bestimmte Rolle zugeteilt. Die Jungfrau vertritt selbstredend Maria Muttergottes, während das Einhorn für Jesus steht. Vertrauensvoll legt er seinen Kopf in ihren Schoß als Zeichen der Menschwerdung Gottes. Der Tötungsakt selbst nimmt das Thema der Passion Christi auf, bei der Jesus am Kreuz von der Lanze des römischen Centurio Longinus durchbohrt wird. Das bereitwillige Opfer des Einhorns spiegelt die bedingungslose Liebe zu Gott und die Erlösung von den Sünden wider. Und last but not least repräsentiert der Jäger das jüdische Volk, das Jesus verhaften und kreuzigen lässt.

Szene 5 – Ein anorektischer Jonas und der Walfisch

Mit Sicherheit gehört das Abenteuer des „kleinen“ Propheten Jona im Bauch des Walfischs zu den eindrücklichsten Lehrgeschichten des Alten Testaments. Deshalb ist es nur konsequent, dass sie im animalischen Reigen von Tod und Auferstehung am Straßburger Münster ihren gebührenden Platz erhält.

Um die Szene richtig einzuordnen, müssen wir im Buch des Propheten ein Kapitel zurückblättern. Gott beauftragte Jona, sich in die Stadt Ninive zu begeben, um ihr den Untergang zu verkünden. Zuviel Bosheit hatte sich dort breitgemacht. Doch Jona fürchtete sich davor, die tödliche Botschaft zu verkünden. Lieber machte er sich aus dem Staub und bestieg ein Boot, das ihn möglichst weit weg von Gottes langem Arm bringen sollte. Selbstverständlich blieb dem Allmächtigen die Aktion Hasenfuß nicht verborgen und er schickte einen unheilbringenden Sturm übers Meers. Das Boot drohte mit Mann und Maus zu kentern, also warfen die Fischer Jona über Bord. Augenblicklich ebbte das Unwetter ab. Jona hingegen wurde von einem Riesenfisch verschluckt. Drei Tage und Nächte verbrachte er im Bauch des Meeresungetüms, bis Gott seine Gebete erhörte und der Wal ihn wieder an Land spuckte.

An dieser Stelle steigen wir in die Szenerie am Nordfries ein. Ein hässlicher, abgemagerter, nackter Jona entsteigt dem Riesenmaul des Fisches. Die 72 Stunden im Bauch des Wals haben unübersehbar ihre Spuren hinterlassen. Von einer Wolke herab segnet Christus den Propheten für dessen Erkenntnis im wahrsten Sinne des Wortes den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Dies veranlasst Jona noch auf dem Weg zwischen Fischmaul und rettendem Ufer die Orantenhaltung als Bekenntnis des Glaubens anzunehmen. Eine Geste, mit der selbst für das einfache Volk die Parallele zu Jesu Kreuzigung, Tod und Auferstehung offenbar wird.

Jonas und der Wal am Fries des Nordturms des Muensters von Strassburg

Die üblen Tricks der Walfische

Die Entschlüsselung des zweiten Schauplatzes auf der linke Seite mit dem detailliert gestalteten Turm und der im Eingang stehenden, betenden Person gelingt mir leider nicht. Könnte hiermit die Stadt Ninive gemeint sein, in der Jonas nun doch das Wort des Herrn verkündet? Oder teilt der Prophet mit uns seine Vision im Bauch des Fisches (Jonas 2,8): „Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich an den HERRN, und mein Gebet kam zu dir in deinen heiligen Tempel.“?

Der Wal als Insel, Abbildung aus einem Bestiary des 12. / 13. Jahrhunderts
Bestiarium 12./13. Jh.;
© British Library Royal MS 4751

Wie dem auch sei, wir sollten auf jeden Fall nicht versäumen, die Rolle des Walfisches genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Physiologus lässt nämlich keine einzige gute Schuppe an dem Meerestier. Er unterstellt dem unersättlichen Monster, ein Meister der Irreführung und dem Teufel zu Diensten zu sein. Aus seinem riesigen Schlund, einem Abgrund so tief und dunkel wie die Hölle, lässt er einen verführerischen Duft entströmen. Angezogen von dem unwiderstehlichen Wohlgeruch schwimmen alle kleinen Fische ahnungslos auf das geöffnete Maul zu. Und schon schnappt die Falle zu. Im übertragenen Sinne stellt der Physiologus damit die moralisch schwachen Menschen an den Pranger. Nur zu leicht erliegen sie, den naiven Fischen gleich, den weltlichen Verführungen und fleischlichen Begierden. Was danach folgt, ist bekannt.

Aber das ist nicht das einzige Täuschungsmanöver, das der Wal auf Lager hat. Wenn ihm nach Gesellschaft ist, lässt er sich bewegungslos an der Meeresoberfläche treiben. Seine bucklige Gestalt verlockt die Seeleute an seinen vermeintlichen Gestaden anzulegen. Schnell ist ein Feuer entfacht, denn eine kleine Zwischenmahlzeit als auch ein wenig Müßiggang auf der täuschend echten Insel haben noch niemandem geschadet. Sobald jedoch die ersten Holzscheite glimmen, taucht der Wal in die Tiefen des Ozeans hinab und reißt alle mit sich in die Hölle.

Szene 6 – Moses und die eiserne Schlange

In der Bibel wimmelt es nur so von Schlangen. Über drei Dutzend Male finden sie bevorzugt im Alten, aber auch im Neuen Testament eine Heimat. Es ist die Rede von listigen, verfluchten, flüchtigen, Staub leckenden, beißenden und alten Schlangen, in denen der Satan die Gestalt eines Drachen angenommen hat. Die Schlange ist zugleich das erste Tier, das in der Schöpfungsgeschichte durch den Sündenfall mit negativen Wesenszügen besetzt wird. Auch im 4. Buch Mose spielt das Reptil die Hauptrolle. Davon erzählt uns das sechste Relief.

Moses führte auf Geheiß Gottes das Volk Israel durch die Wüste bis zum verheißenen Land Kanaan. Der Weg war beschwerlich, die Gefahren allgegenwärtig und die Entbehrungen immens. Die Unzufriedenheit wuchs mit jedem Tag. Meuterei war angesagt. Da entsandte Gott feurige Schlangen in die Wüste, die mit ihren Bissen ein verheerendes Massaker anrichteten. Angesichts der vielen Toten bereute das Volk seine schlechten Reden und bat um Gottes Barmherzigkeit. „Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine Seraph-[Schlange] und befestige sie an einem Feldzeichen; und es soll geschehen, wer gebissen worden ist und sie ansieht, der soll am Leben bleiben! Da machte Mose eine eherne Schlange und befestigte sie an dem Feldzeichen; und es geschah, wenn eine Schlange jemand biss und er die eherne Schlange anschaute, so blieb er am Leben.“ (4. Moses 21,8-9).

Trichterhüte zwischen Tradition und Diskriminierung

Selbstverständlich steckt auch hinter dieser plastisch umgesetzten Bibelstelle eine Botschaft an die Gläubigen. Des Rätsels Lösung liefert der Evangelist Johannes in Kapitel 3,14: „Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.“ Die eherne Schlange an der Stange nimmt demnach die Kreuzigung Jesu vorweg. Alle Menschen, die dieses Heilszeichen erkennen und zu Jesus am Kreuz aufblicken, finden darin ihre Erlösung.

Die Geschichte von Moses und der eisernen Schlange am Fries des Nordturms des Muensters von Strassburg

Trotz der Rettung vor den gift- und feuerspeienden Kriechtieren blicken die sechs betenden, knienden, sitzenden oder stehenden Gestalten am rechten Bildrand nach wie vor mürrisch drein. Freude über das Ende der Plage und das Massensterben sieht wahrlich anders aus. Ob es an ihrer trichterförmigen Kopfbedeckung liegt?

Was mich zunächst stark an Verschwörungstheoretiker, Querdenker oder Aliengläubige erinnert, die auf diese Weise ihr Gedankengut gegen kosmische Plagiatsversuche abzuschotten versuchen, war in der mittelalterlichen Ikonografie ein gängiges Attribut für jüdische Personen. Jedoch entwickelte sich der zur männlichen jüdischen Tracht gehörende, kegelförmige Hut mit Knauf durch die Verfügung Papst Innozenz III. im Jahr 1215, nach der sich Juden in der Öffentlichkeit durch ein bestimmtes Kleidungsaccessoire von den Christen zu unterscheiden hatten, zum stigmatisierenden Element. Während sich in vielen Teilen Europas ein gelber Ring oder spezielle Umhänge zur Kennzeichnung durchsetzten, waren es in Deutschland und Frankreich die konischen Judenhüte.

Halbzeit! Das Einhorn muss gefüttert werden. Danach geht der tierische Spaß am Nordturm des Straßburger Münsterturms im dritten und letzten Teil „Von allerlei Flugtieren und einem Happy End“ weiter.


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