Obanos am Jakobsweg
Ihr Etappenziel in weniger als drei Kilometer Entfernung bereits vor Augen, beschleunigen viele Pilger ihren Schritt durch das kleine Städtchen Obanos am Jakobsweg. Für sie gilt es, so schnell als möglich Puente la Reina zu erreichen, wo offiziell der navarrische Teil des Jakobsweges auf den Camino aragonés trifft und sich zu einem einzigen, dem Camino Francés vereinigt.
Dabei gerät häufig in Vergessenheit, dass in Obanos nicht nur die erste Demokratiebewegung Spaniens in ihren Anfang nahm, sondern auch ein Geschwisterpaar seit über 50 Jahren das Gemeindeleben für eine Woche komplett auf den Kopf stellt.
Die Legende von Felicia und Guillén
– ein Drama in 5 Akten –
Felicia, Tochter des Herzogs von Aquitanien hegte den sehnlichen Wunsch, eine Pilgerreise zum Grab des Heiligen Jakobus zu unternehmen. Ihre Eltern lehnten dieses Vorhaben zunächst strikt ab, insbesondere als sie erfuhren, dass die Tochter ohne Hofstaat und bar aller Bequemlichkeiten, sondern nur mit ihrem Bruder Guillén den weiten Weg auf sich nehmen wollte. Doch Felicia ließ nicht locker. Immer und immer wieder versuchte sie ihre Eltern von der Wallfahrt zu überzeugen. Und je länger die Mutter darüber nachgrübelte, umso mehr setzte sich ein nicht ganz uneigennütziger Hintergedanke in ihr fest. So eine Pilgerreise sorgte für Ruhm und Ansehen in den höchsten Kreisen. Insofern war sie für die ehrgeizigen Heiratsplänen, die sie für ihre beiden Kinder hatte, durchaus von Nutzen. Als sie ihrem Mann ihre Überlegung mitteilte, ließ auch er sich umstimmen.
Akt I
So machten sich Felicia und Guillén alsbald auf den beschwerlichen Weg. Nach entbehrungsreichen Wochen kamen sie sicher in Santiago de Compostela an. Sie besuchten das Grab des Apostels, beteten für das Wohl ihrer Familie als auch für eine gesunde Rückkehr. Einige Tage später traten sie wieder den Heimweg an. Je mehr sie sich der französischen Grenze näherten, desto stärker wurde Felicia von einer starken inneren Unruhe erfasst. Immer häufiger ertappte Guillén seine Schwester, wie sie mit traurigem Gesicht abwesend in die Ferne starrte. Um zu erfahren, was sie quälte, stellte er sie zur Rede. Felicia gestand unter Tränen, dass der Gedanke an die Rückkehr an den Hof sie krank mache. Sie wollte ein einfaches Leben im Dienste Gottes führen. Kranke und Pilger pflegen, Armen und Bedürftigen unter die Arme greifen und jedem helfen, der ihrer Unterstützung bedarf.
Als Guillén dies hörte, war er bestürzt. Er liebte seine Schwester abgöttisch. Er hätte wirklich alles für sie getan, aber diesen plötzlichen Sinneswandel konnte er nicht akzeptieren. Er verbot ihr jede weitere Überlegung in diese Richtung und trieb die weitere Heimreise mit Nachdruck voran. Felicia war bitter enttäuscht, dass ihr Bruder ihre Berufung nicht verstand. Es zerriss ihr fast das Herz, dass sie ihn würde verlassen müssen, doch ihre Entscheidung stand fest. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, denn es waren nur noch wenige Tagesreisen bis zurück nach Aquitanien.
Akt II
Wie gerne hätte Felicia sich von ihrem Bruder verabschiedet und ihn für ihr Verhalten um Verzeihung gebeten. Doch ihr Bruder würde sie nicht ziehen lassen, dessen war sie überzeugt. Schon in der nächsten Nacht schlich sie sich heimlich davon. Als Guillén am darauffolgenden Morgen erwachte und das leere Nachtlager neben sich sah, ahnte er das Schlimmste. Er kannte Felicia nur zu gut. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war sie nicht davon abzubringen. Umgehend machte er sich auf die Suche nach seiner Schwester, doch ergebnislos. Auch in den nächsten Tagen fragte er jeden Pilger, jeden Händler, jeden Bauern auf dem Feld nach seiner Schwester. Aber ein ums andere Mal erhielt er nur ein verneinendes Kopfschütteln.
Unverrichteter Dinge kehrte er alleine an den Hof seiner Eltern zurück, um ihnen das Geschehene zu berichten. Danach musste er monatelang die schlimmsten Vorwürfe über sich ergehen lassen, seine Schwester in einem fremden Land im Stich gelassen zu haben. Den anfänglichen Anschuldigungen folgten heftige Beschimpfungen, bis ihn seine Mutter schlussendlich keines Blickes mehr würdigte. Während seine Freunde ihn als Versager verspotteten, schenkten ihm die Damen des Hofes, die ihn einest umschwärmten, nur noch ein mitleidiges Lächeln oder wandten sich verächtlich von ihm ab.
Am meisten allerdings schmerzte ihn mit ansehen zu müssen, wie sein Vater unter dem Verlust seiner einzigen Tochter litt. Niemals würde er in der Lage sein, ein glückliches Leben zu führen, solange er seinem Vater nicht wieder aufrichtig in die Augen schauen konnte. Er fühlte sich schuldig, nichtsnutzig, unwürdig. Es gab nur einen Ausweg. Er musste sich abermals auf die Suche nach Felicia machen, und er würde nicht eher aufgeben, bis er sie gefunden hatte.
Akt III
Felicia indes hatte im Valle de Egües, östlich von Pamplona, eine Stellung als einfache Magd angenommen. Tag und Nacht schuftete sie auf dem Feld, in den Ställen, im Haus, doch ihr einfaches Leben schmerzte sie nicht. Jeden Lohn, den sie erhielt, teilte sie mit den Ärmsten der Armen, jede freie Minute verbrachte sie mit Krankenbesuchen, der Pflege vorbeiziehender Pilger oder der tatkräftigen Unterstützung bedürftiger Witwen. Ihr mildtätiges Wesen sprach sich in kürzester Zeit nicht nur im Tal, sondern auch weit darüber hinaus herum. Die Lobreden auf die selbstlose, aufopfernde Dienstmagd drangen bis zu Guillén vor, der darin zweifelsfrei die Züge seiner Schwester wiedererkannte.
Die Spur führte ihn zu einem Bauerhof nach Amocáin. Aus der Ferne entdeckte er sie, mit gebücktem Rücken, in verschlissenen Kleidern, mühsam den trockenen Ackerboden bearbeitend. Unendliche Traurigkeit überfiel ihn bei ihrem Anblick. Er war fest entschlossen, seine Schwester aus ihrer unwürdigen Lage zu befreien und mit nach Hause zu nehmen.
Als er sich ihr näherte und sie ihn erkannte, fiel sie ihm überglücklich in die Arme. Lange saßen sie an diesem Abend zusammen und feierten das Wiedersehen. Als Guillén am nächsten Morgen den Anlass seines Besuches zur Sprache brachte, war Felicia wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte gehofft, dass ihr Bruder, nach so langer Zeit, endlich ihre Berufung akzeptiert hätte. Ruhig und gelassen erklärte sie ihm, dass ihr Platz auf Erden genau an diesem Ort sei, bei diesen Menschen, die sie bräuchten und nirgendwo sonst. Hier fühlte sie sich mit ihrem Wirken Gott so nah, wie sie es am Hofe nie sein könnte.
Akt IV
Guillén wusste nicht mehr ein noch aus. Er fühlte sich machtlos angesichts der Uneinsichtigkeit Felicias. Auf keinen Fall würde er ein zweites Mal „mit leeren Händen“ nach Hause zurückkehren. Er redete sich in Rage, tobte, drohte ihr sie gewaltsam aufs Pferd zu setzen und zurück nach Frankreich zu bringen. Vergeblich. Felicias Starrköpfigkeit raubte ihm den Verstand. Rasend und von Sinnen zückte er seinen Dolch und tötete seine Schwester im Affekt.
Als sie blutüberströmt niedersank, erwachte Guillén aus einer tiefen Trance. Noch im selben Augenblick bereute er seine grausame Tat und floh. Ziellos irrte er umher, bis er am nächsten Morgen auf einen Mönch traf. Er musste unbedingt sein Gewissen erleichtern und den Mord beichten. Der Ordensbruder vergab ihm die Todsünde. Dafür sollte Guillén zur Buße unverzüglich eine weitere Pilgerreise nach Santiago de Compostela antreten.
Auf seinem Rückweg beschloss der Untröstliche fortan in der Nähe des Grabes seiner Schwester als Eremit sein Dasein zu fristen. Demütig zog er sich in die Wallfahrtkirche von Arnotegui bei Obanos zurück. Den Rest seines Lebens widmete er dem Gebet, der Meditation und den vorbeiziehenden Pilgern. Als er starb, wurde er, trotz seiner schwerwiegenden Verfehlung in der Vergangenheit, für seine aufopfernden karitativen Dienste als Heiliger verehrt. Seine sterblichen Überreste wurden, abgesehen von seinem Kopf, in luftiger, windumtoster Höhe in der Nähe der Kapelle Nuestra Señora de Arnotegui begraben. Seinen Schädel brachten die Einwohner von Obanos als Reliquie in die Pfarrkirche San Juan Bautista hinunter, wo er heute noch in der Sakristei aufbewahrt wird.
Akt V
Felicia ihrerseits
wurde nach ihrer Ermordung von den Herrschaften des Hofes, auf dem sie
gearbeitet hatte, neben der Dorfkirche von Amocáin beerdigt. Eines Tages
entdeckten die Kirchgänger eine weiße Nelkenblüte, die sich durch den Sarg
einen Weg an die Oberfläche gebahnt hatte. Die Einwohner öffneten den Schrein
und standen dem vollkommen intakten Leichnam Felicias gegenüber. Aus ihrem
Herzen, der noch frischen Wunde, entspross die zart duftende Blüte.
Umgehend informierten die Dorfbewohner den Bischof, der dies als Wunder
einstufte und den Leichnam in eine Eichentruhe ins Innere der Kirche umbetten
ließ. Wenig später war die Truhe verschwunden und die Einwohner als auch der
Bischof in hellste Aufregung versetzt. Ein Bauer entdeckte den Schrein inmitten
eines nahe gelegenen Felds. Trotz vereinter Anstrengungen vermochten die
Dörfler die Holzkiste nicht von der Stelle zu bewegen. Der Bischof, ein
besonders cleverer Zeitgenosse, erteilte die Anweisung den Schrein an einen
Esel festzubinden, den Gottes Wille an den Ort lenken würde, der als letzte
Ruhestätte der Märtyrerin dienen sollte. Gesagt, getan. Der Esel setzte sich,
begleitet von einer feierlichen Prozession, in Gang und hielt erst im zwölf
Kilometer entfernten Labiano an. Dort brach er erschöpft zusammen. An Ort und
Stelle errichteten die Anhänger der heiligen Felicia eine Kapelle, die heute
noch Ziel einer alljährlich im Juni stattfindenden Wallfahrt ist.
Ein archaisches Ritual
Die Geschichte von Guillén und Felicia ereignete sich im Spätmittelalter. Seither wurde sie von Generation zu Generation mündlich überliefert. In der kleinen Gemeinde Obanos, die keine drei Kilometer von Puente la Reine entfernt liegt, wird die Legende der beiden Heiligen, die nie eine offizielle Kanonisierung von Seiten der katholischen Kirche erfuhren, alljährlich gebührend gefeiert. A la española selbstverständlich. Also nicht bieder, bedrückt und in Ehrfurcht erstarrend, sondern als Event. Eine Mischung aus katholischen, archaischen, heidnisch anmutenden und feuchtfröhlichen Elementen. Ganz nach dem Motto, lebe hier und heute, mache das Beste daraus. Bete, glaube und trinke.
Und so öffnet der Pfarrer jedes Jahr zum Patronatsfests den Reliquienschrein Guilléns. Der aus Gründen der Konservierung mit Silber überzogene Schädel wird zur Segnung mit Rotwein übergossen und die Flüssigkeit anschließend in einem darunter aufgestellten Gefäß aufgefangen. Um den äußeren Schein zu wahren oder das Budget für dieses ungewöhnliche Ritual in vertretbarem Rahmen zu halten, wird der Wein mit Wasser verdünnt. Der Pfarrer verteilt anschließend die gestreckte Flüssigkeit an die Schlange stehenden Gläubigen, die sich von ihr eine wundersame Heilung erhoffen. Nein, dies ist kein Märchen aus 1001 Nacht, dies ist Spanien im 21. Jahrhundert. Manchmal hilft es eben, sich die Welt schön zu trinken.
Das Mysterienspektakel
Doch damit nicht genug. Seit 1965 hat die Verehrung um das aquitanische Geschwisterpaar eine neue Dimension erreicht. Eine Woche lang rückt die kleine Ortschaft im Valle de Valdizarbe ins Rampenlicht von ganz Navarra. Anlass ist das vom Pfarrer von Obanos ins Leben gerufene Mysterienspiel. Das ursprünglich nur von Laien aufgeführte Spektakel nahm im Laufe der Jahre monumentale Ausmaße an. Die aktive Teilnahme von knapp 400 einheimischen Amateur- und Hobbymimen, und damit der Hälfte der Einwohner von Obanos, brachte das Gemeindeleben in der Woche der Spielzeit komplett zum Erliegen. Das ambitionierte Vorhaben einer jährlichen Inszenierung musste alsbald wieder aufgegeben werden.
Es folgte eine langanhaltende Unterbrechung, die dem Überdenken des Konzeptes und der Beschaffung von Spenden- und Fördergeldern diente, bis zur Jahrtausendwende an eine Wiederaufnahme des Misterio de Obanos gedacht werden konnte. Da es für die Organisatoren keinen Kompromiss hinsichtlich des einzigartigen Einsatzes von Mensch und Material gab, einigte man sich, aus praktischen und kostentechnischen Erwägungen heraus, darauf, das religiöse Drama nur noch in geraden Jahren zum Besten zu geben. Inzwischen werden auch hauptberufliche Schauspieler für die Hauptrollen engagiert, denn die zweistündige Freiluftaufführung verlangt einiges an Kondition und Professionalität ab. Nur zu gerne wäre ich einmal in eines der über eintausend, von ortsansässigen Näherinnen in Handarbeit hergestellten, historisch authentischen Kostümteile geschlüpft, um mich unter die unzähligen Statisten zu mischen.
Das erste Saatkorn der Demokratie – freie Menschen für ein freies Vaterland
Über der alles dominierende Heiligenverehrung in Obanos gerät die politisch-historische Rolle des kleinen Städtchens am Jakobsweg fast völlig in Vergessenheit. Das Emblem, welches am Rathaus an der Plaza de los Fueros prangt, legt jedoch Zeugnis von der besonderen Rolle Obanos in der navarresischen Geschichtsschreibung ab.
Die linke Hälfte des dreigeteilten Wappens zeigt einen Ritter zu Pferde und in voller Montur, die rechte Seite ein aufgeschlagenes Buch mit dem klassischen Freiheitssymbol, dem Lothringerkreuz, umringt von zwölf Händen, die einen Eid darauf schwören. In der Mitte darunter eine Fleur-de-Lys als Ausdruck der Verbundenheit zu den Tugenden der Jungfrau Maria. Umrahmt wird das Wappenschild von der lateinischen Devise Liberate patriae gens libera – ein freies Vaterland bedarf freier Menschen.
Dies war der Leitspruch der ersten Demokratiebewegung in ganz Spanien, und das bereits im 13. Jahrhundert. Angehörige des Rittertums, Bauern, Kleriker sowie das gerade aufkommende Bürgertum aus Händlern und Handwerkern waren der selbstherrlichen, rücksichtslosen und korrupten Machenschaften der monarchistischen Gesellschaft und vor allem des Hochadels überdrüssig geworden. Neben den wirtschaftlichen Belastungen durch Abgaben und Frondienste, schürten die korrupte Rechtsprechung, Amtsanmaßungen und Machtmissbrauch die Unzufriedenheit der niederen und mittleren Gesellschaftsstände. Sie schlossen sich deshalb in Obanos zur sogenannten Junta de los Infanzones, einer Art gleichberechtigter Ständevertretung zusammen, die sich für die Bewahrung ihrer Rechte, die Implementierung persönlicher Freiheiten und die Abschaffung von Unterdrückung, Ausbeutung und Willkür erfolgreich einsetzte.
Eine mittelalterliche Bilderbuchkulisse
Es herrscht eine ungewöhnliche Stille an diesem frühen Morgen. Die Plaza de los Fueros ist verwaist. Ein perfektes Bühnenbild nur ohne Akteure. Eine mittelalterliche Bilderbuchkulisse, picobello herausgeputzt. Die schmalen Gassen lupenrein gefegt, zu beiden Seiten gesäumt von herrschaftlichen Patrizierhäusern mit wuchtigen Familienwappen auf den sandgestrahlten Fassaden. Das Dorf ist jederzeit bereit für den nächsten Auftritt im legendären Mysterienspiel.
Der zehnte Glockenschlag ist soeben verklungen. Noch immer stehe ich mutterseelenallein auf dem kleinen Hauptplatz vor der Kirche. Aber nur mutterseelenallein, nicht gottverlassen allein. Auf einem Steinsockel erhebt sich nämlich ein schmales, nachtschwarzes, schmiedeeisernes Kreuz an dem ein noch schmälerer, schmiedeeiserner Christus hängt. Eine anorektische Figur mit hervorstehenden Rippen, Armen und Beinen dünn wie Streichhölzer, dazu eine viel zu schwere Königskrone. Ein schlichtes Kunstwerk mit ausgesuchter Symbolkraft. Die Wahl der Farbe als Ausdruck der Trauer. Die Physiognomie des Gekreuzigten als Zeichen, dass ein Einzelner, selbst wenn es sich um Gottes Sohn handelt, nicht in der Lage ist, die schwere Last der Schuld, die wir Menschen auf uns geladen haben, zu tragen. Die Bevorzugung der Königs- anstelle der Dornenkrone als Sinnbild des himmlischen Reich Gottes.
Die Kapelle der Señora de Arnotegui
Vorbei am Zinnen bewehrten Spitzbogentor neben der neogotischen Pfarrkirche San Juan Bautista lasse ich die letzte Gemeinde auf dem aragonischen Jakobsweg hinter mir. Ich überquere die NA-6064 in südlicher Richtung, um dem Wegweiser zum 2,5 Kilometer entfernten Rückzugsort des Heiligen Guillén zu folgen.
Der Weg zur Wallfahrtskirche von Arnotegui ist bereits Buße genug für jeden Wallfahrer. Da bedarf es keiner weiteren Für- oder Abbitten. Denn egal ob mit zwei oder mit vier Pferdestärken, Muskelkraft und gute Ausdauerfähigkeit sind gefordert. Muskelkraft zum Bewältigen des steilen Anstiegs beziehungsweise zum Bändigen des ständig ausbrechenden Lenkrads auf der Schotterpiste und Ausdauer angesichts der dünnen Höhenluft als auch der unzähligen Kurven.
Bereitwillig nehme ich diese Strapaze auf mich, ist sie doch geradezu belanglos hinsichtlich der Belohnung, die mich erwartet. Eine romanische Kapelle mit Namen „Jungfrau der Weinrebe“, die Gebeine des Heiligen Guillén, Stationen seines Lebensweges als Wandmalerei und die Figur der Namengebenden Jungfrau mit Kind aus dem 13. Jahrhundert.
Endlich oben angekommen, stehe ich vor einem sorgfältig restaurierten Bruchstein-Bau mit schmalen Fenstern und einem Glocken tragenden Dachreiter. Die südliche und westliche Außenmauer der Kapelle sind komplett in einen Befestigungsgürtel integriert, der erst im 19. Jahrhundert zur Zeit der Karlistenkriege entstand. Liberale Truppen schätzten die strategische Lage des Hügels, um sich hier zu verschanzen, ihre Munitions- und Pulvervorräte zu lagern und den Zugang zur Karlisten-Hochburg Puente la Reina zu kontrollieren. Daher auch der etwas abseits stehende Miniatur-Geschützturm, der dem Ermitaño, dem heutigen, nebenberuflichen Wächter der Kapelle, als Unterschlupf dient.
Beim Streunen durch die von Ginster und Rosmarin dominierte Vegetation außerhalb der Kapellenumfriedung stoße ich auf ein unbeschriftetes, rudimentär zusammengenageltes Holzkreuz aus zwei dicken Ästen sowie eine steinerne, von Flechten überzogene Stele zu Ehren Mariä Himmelfahrt. Zwei verlassene Gedenkstätten ohne Gedenkende.
Eine verschlossene Türe kann auch eine Belohnung sein
Mal schauen, ob es um die Señora de Arnotegui besser bestellt ist, oder ob diese genauso einsam ist in ihrer Kirche? Vergeblich rüttle ich an der Holztüre. Die Wallfahrtskirche ist verschlossen. Von wegen der frühe Vogel fängt den Wurm. Erst ab drei Uhr nachmittags öffnet der Ermitaño Lázaro die Pforten der Kapelle. So steht es in großen Lettern angeschlagen an der massiven Eingangstüre. Verfl… noch eins.
In diesem Moment verwünsche ich alle Reiseführer der Welt, alle Informationsfaltblätter, alle Tourismus-Auskunftsbüros, mich inbegriffen. Warum werden einem diese kleinen, aber immens wichtigen Details permanent vorenthalten? Ich komme doch nicht alle Tage nach Navarra. Sind diese Öffnungszeiten denn eine Selbstverständlichkeit? Nein! Ist die Wallfahrtskapelle der Nabel der Welt? Nein! Sind Fremde unerwünscht? Kaum anzunehmen. Um nichts unversucht zu lassen, klopfe und rüttle ich an der Tür des Ermitaño. Vergeblich. Kein Laut, keine Bewegung ist hinter der Holztür oder durch die schmalen Fensterschlitze auszumachen.
Ich kann meinen Zorn kaum in Zaum halten. Zum Glück weht hier oben ein frischer Wind, der meinen Unmut schnell abkühlt und mich für den Rundblick auf den Farbkasten der Natur im Tal begeistert: intensiv gelb leuchtende Rapsfelder, grasgrüne Hänge, ockerfarbene Kahlflächen, durchzogen von blutroten Erdklumpen frisch umgegrabener Äcker und dazwischen tiefgrüne Waldflächen. Langsam beginne ich zu begreifen. Hier ist sie also, meine Belohnung. Die Natur in ihrer ganzen Bandbreite und Schönheit. Es bedurfte schlicht und einfach einer verschlossenen Türe, um mir die Augen für die Wunder der Schöpfung zu öffnen.
Weitere Anregungen für Erkundungslustige
Wallfahrtskirche San Salvador
Folgt man dem Jakobsweg trifft man am Ortsausgang von Obanos auf die gut erhaltene Kapelle im romanischen Stil. Das Innere beherbergt ein außergewöhnliches Werk des einheimischen Künstlers Koke Ardaiz. Es handelt sich um ein geschnitztes Gemälde, das in der Form eines Comics die Legende von Guillén und Felicia bildreich darstellt.
Ermita de San Lorenzo
Die über 1000 Jahre alte Wallfahrtskirche ist schon von der Landstraße Pamplona – Puente la Reina auszumachen. Im Kreisverkehr an der Abzweigung nach Obanos, folgt man der entgegen gesetzten Ausfahrt zur Winzergenossenschaft Orvalaiz. Von dort führt ein Feldweg zur Wallfahrtskirche, die, deutlich sichtbar, im letzten Jahrhundert unter zu Hilfenahme von baulichen Überresten einer anderen Kirche der Umgebung wieder Instand gesetzt wurde. Eine Zeitlang hielten sich auch Franziskanermönche darin auf. Bemerkenswert ist, neben ihren erstaunlichen Ausmaßen, die über der einfachen Eingangstür eingemeißelte Figur des Christus am Kreuz.