Simson reisst dem Loewen das Maul auf; Holzfigur an der Orgel im Strassburger Muenster
Münstergeschichten,  Straßburger Spaziergänge

Skandale, Roraffen und Münsterschwalben in der Kathedrale von Straßburg


Am frühen Vormittag, ist es noch stiller als sonst im Münster. Unter der Woche finden zu früher Morgenstunde kaum Besucher in das Straßburger Aushängeschild. Ich und die Kathedrale, wir sind quasi unter uns. Abgesehen von den ganzen Heiligen, Königen, Bischöfen, Propheten und anderen Akteuren des Alten und Neuen Testaments. Kaum vorstellbar, welch illustres Treiben noch vor einem halben Jahrtausend, kaum dass die Stadt aus der Nachtruhe erwacht war, im Innern herrschte.

Während man heutzutage am Eingang auf eine Handvoll Regeln des guten Anstands bzw. Abstands aufmerksam gemacht wird und bei Missachtung höchstens einen strafenden Blick kassiert, wurde man im ausgehenden Mittelalter gehörig zur Kasse gebeten. Allerdings besaß das Fehlverhalten damals auch ein ganz anderes Kaliber. Ungehörig. Unfassbar. Ungeheuerlich ist nur eine bescheidene Auswahl an Ausdrücken für all die skandalösen Vorgänge, deren regelmäßiger Zeuge das Liebfrauenmünster war. Doch wie kam es überhaupt dazu, dass sich hinter den rosafarbenen Sandsteinmauern Sodom und Gomorrha breitmachten?

Die Kathedrale von Straßburg – ein Gotteshaus in weltlicher Hand

Werfen wir einen kurzen Blick zurück in das Jahr 1262. Schon seit geraumer Zeit brodelte es zwischen den vom König eingesetzten Fürstbischöfen und dem Magistrat der Straßburg. Ein ständiges Tauziehen um Macht, Rechte und Pflichten, das in der Schlacht von Hausbergen eskalierte. Der tapfere Ritter Reinhold Liebenzeller trug für die Stadt den Sieg davon, während Bischof Walter von Geroldseck das Feld räumen musste. Straßburg erklärte sich daraufhin selbst zur Freien Reichsstadt, womit auch ein Besitzerwechsel der Kathedrale einherging. Der Bischof war außen vor, also übernahm das Domkapitel die Aufsicht über die Stiftung und den Bau des Münsters.

Wie sich schnell herausstellte, war dies keine gute Wahl. Denn wer besetzte diesen Posten?
In der Regel traf man hier auf Söhne aus Adelsgeschlechtern, die entweder in der Erbfolge weit hinten lagen oder keine besondere Eignung für die Kriegslaufbahn zeigten. Dies hieß allerdings nicht, dass ihr vorbildlicher Lebenswandel oder eine ausgeprägte christliche Geisteshaltung sie für die Aufnahme ins Domkapitel qualifizierte. Vielmehr zählten weltlicher Status und das nötige Kleingeld.

Vor allem die gut gefüllten Geldbörsen hätten dem weiteren Baufortschritt der Kathedrale gutgetan. Stattdessen fokussierten sich die Mitglieder des Domkapitels darauf, ihre eigenen Taschen zu füllen. Konsequenterweise nahm 1282 die Stadt das Heft als Bauherr selbst in die Hand. Zwar kam die Fertigstellung des Münsterbaus nun in Fahrt, doch hatte die Übernahme der Eigentümerschaft durch einen weltlichen Träger auch ihre Schattenseiten.

Cathedrale Notre Dame de Strasbourg

Predigten zwischen Magistratssitzungen, Verkaufsverhandlungen und Bewerbungsgesprächen

Fraglos trug der Magistrat als neuer Hausherr des Münsters sein Scherflein zum Verfall der Sitten im Gotteshaus bei. Man dachte wohl, dass sich ein solcher Prachtbau auch hervorragend als Zweitsitz der weltlichen Dreifaltigkeit, Exekutive, Legislative und Jurisdiktion eignen würde. So waren die Priester häufig gezwungen, den Gottesdienst zu unterbrechen, weil die Verkündung einer neuen städtischen Verordnung keinen Aufschub duldete. Zeitpunkt und Ort waren dafür geradezu ideal. Die Gemeinde war bereits versammelt und der Lettner bot eine ideale Bühne.

Der Ammeister wartete auch nicht das Ende der Messe ab, wenn er in dringlicher Angelegenheit eine Zusammenkunft des Magistrats für erforderlich hielt. Kurzerhand trommelte er die Mitglieder im Kirchenraum zusammen und führte an Ort und Stelle die Ad-hoc Besprechung durch. Selbst gerichtliche Ladungen stellten die Gerichtsdiener während der Predigt zu.

Erst auf Drängen der kirchlichen Vertreter, denen unter diesen Umständen ein geordneter Gottesdienstablauf unmöglich war, ließ sich der Magistrat auf einen Kompromiss ein. Per Verordnung des Jahres 1485 wurde festgelegt, dass der Ammeister zur Erledigung akuter Amtsgeschäfte die Münsterwerkstatt zur Verfügung gestellt bekam.

Die Straßburger Kathedrale erfreute sich jedoch nicht nur bei den Stadtverordneten großer Beliebtheit. Ihre zentrale Lage bot sich als idealer Treffpunkt für alle Arten von Geschäftemachern an. Weinhändler führten unter dem Kirchendach ihre Verkaufsgespräche, Kaufleute besiegelten ihre Handelsabschlüsse und selbst die Handwerker aus der benachbarten Münsterbauhütte unterhielten hier eine florierende Jobbörse. Selbstredend, dass auch die Schar der Hausierer vom üppigen Kundenpotenzial profitierten wollte. Dazu gesellten sich die Händler aus den Krämerbuden vor dem Münster, die nicht zögerten, mit ihrem tragbaren Tand und Plunder aufmerksamkeitsheischende Runden im Innern zu drehen.

Jean-Laurent Goetz, Aufriss des Muensters und der Goetz-Galerien, 1772
Jean-Laurent Goetz, Aufriss des Münsters und der Goetz-Galerien, 1772. Tusche, Aquarell auf Papier. Straßburg, Fondation de l’Œuvre Notre-Dame

Tierische Gäste im Münster

Zu allem Übel standen den ganzen Tag über die Seitentüren des Gebäudes offen. Eigentlich als niederschwelliges Angebot für Personen gedacht, die der Seelsorge oder Sündenvergebung bedurften, entwickelte sich daraus ein öffentlicher Durchgang. Eine ideale Abkürzung, um von der Bruderhofgasse (Rue des Frères) zum Fronhof zu gelangen. Dabei sah man schon mal geschulterte Ferkel oder Möbel durch das Kirchenschiff huschen.


Generell schlossen die Kirchgänger ihre Haustiere nicht vom Genuss des kirchlichen Segens aus. Bellende, winselnde, kläffende Hunde gehörten daher ebenso zum Alltagsbild im Sakralbau wie abgerichtete Falken oder Habichte. Diese gängige Praxis betraf nicht nur das Straßburger Münster. Wie zahlreiche Werke flämischer Künstler bezeugen, schien dies, unabhängig von der Konfession, in ganz Europa verbreitet gewesen zu sein.

Sebastian Brants Narrenschiff mit Kurs auf Narragonien

Ein beredtes Zeugnis dieser Unsitten hinterließ Sebastian Brant (1458 – 1521) in seiner Moralsatire „Das Narrenschiff“. Der Schriftsteller mit Doktortitel in kanonischem Recht landete mit dem 1494 erstmals gedruckten Werk in Versform einen wahren Verkaufsschlager. Erst Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ löste „Das Narrenschiff“ als am häufigsten gedrucktes Werk in deutscher Sprache ab.

Ganz offensichtlich gab es in der mittelalterlichen Gesellschaft auf dem Weg zur Renaissance einen immensen Nachholbedarf an sittlichem Benehmen, Anstand, Ethik und Untadeligkeit. Deshalb hielt Brant mit seinem Schiff und über einhundert menschlichen Unzulänglichkeiten an Bord Kurs auf Narragonien. Unterwegs bekam jede menschliche Schwäche den Spiegel vorgehalten. In diesem Sinne widmet sich Kapitel 44 dem unziemlichen Verhalten während des Gottesdienstes:

Grafik aus Sebastian Brant das Narrenschiff

Lärm in der Kirche

Wer Vogel und Hund zur Kirche führt
Und andre Leute im Beten beirrt,
Derselbe den Gauch [Falke] wohl streicht und schmiert.

Man braucht nicht fragen, wer die seien,
Bei denen die Hund‘ in der Kirche schreien,
Während man Messe hält, predigt und singt,
Oder bei denen der Habicht schwingt*.
Und läßt seine Schellen** so laut erklingen,
Daß man nicht beten kann noch singen.
Da muß behauben man die Hätzen***, 
Das ist ein Klappern und ein Schwätzen!
Durchhecheln muß man alle Sachen
Und Schnippschnapp mit den Holzschuhn machen
Und Unfug treiben mancherlei. […]

* [mit den Flügeln schlägt]
** [man pflegte dem Habicht eine Schelle umzuhängen]
*** [hier: Falken]

Kathedralenschaulaufen – ein en-Vogue-Volkssport

Doch damit nicht genug. Brant ging in Kapitel 91 auch mit dem gottesdienstlichen Hauptstörfaktor Mensch hart ins Gericht.

Grafik aus Sebastian Brant das Narrenschiff

Vom Schwätzen im Chor

Im Chor gar mancher Narr auch steht,
Der unnütz schwätzt und hilft und räth,
Deß Wagen und Schiff vom Land bald geht.

Er blieb daheim das ganze Jahr
Oder nähm‘ zum Gänsemarkt den Lauf
Und schlüg‘ die Klapperbank dort auf,
Als daß er in der Kirche will
Sich stören und noch andre viel.
Was er sonst nicht verrichten kann,
Das schlägt er in der Kirche an, […] 
Von denen darf ich gar nicht drucken,
Die in den Chor nur grade gucken
Und zeigen sich zum Präsentiren
Und suchen wieder bald die Thüren. […]

Für heutige Verhältnisse ein unvorstellbares Gebaren. Im Münster herrschte ein heilloses Durcheinander. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Die Messe diente lediglich als Kulisse für ein Sehen und Gesehen werden. Ein scheinheiliges Mittel zum Zweck, um Klatsch und Tratsch auszutauschen, dem anderen Geschlecht schöne Augen zu machen oder die neueste Mode vorzuführen. Das „schouwelieren“, sprich das Kathedralen-Schaulaufen, gehörte damals zum angesagten Zeitvertreib.

„In den Kirchen nicht schwetzen“

Vonseiten der Obrigkeit gab es nur halbherzige Versuche, dem Fehlverhalten entgegenzuwirken. Eine Verordnung aus dem Jahr 1454 verbot das Hand in Hand-Flanieren bei einer Strafzahlung von 30 Schilling. Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Dementsprechend setzte man das Bußgeld immer weiter herab. Schlussendlich untersagte man das Spazieren, die Grüppchenbildung und Gespräche nur noch während des Gottesdienstes. Im Gegenzug gestand der städtische Erlass allen Händler und Kaufleuten zu, den Kreuzgang für Ihre geschäftlichen Unterredungen zu nutzen. Immerhin wurde so der Ablauf der Messe nicht gestört. Allerdings war dies nicht mehr als ein kleiner Achtungserfolg für den bekannten Münsterprediger Geiler von Kaysersberg. Dieser verlangte unmissverständlich von der Stadt: „in den Kirchen nicht schwetzen, der Ammeister kein Geschäft“.

Ein aufschlussreiches Bild zeichnet ebenfalls die 1538 erlassene Verordnung. Demnach war für die Eltern ein Strafmaß von 30 Schilling fällig, sobald der Nachwuchs dabei erwischt wurde, wie er mit Steinen und Schleudern Jagd auf im oder am Münsterbau nistende als auch umherfliegende Schwalben machte. Anscheinend gingen dabei öfters wertvolle Glasfenster zu Bruch oder kunstvolle Skulpturen erlitten erheblichen Schaden.

Die Münsterschwalben – eine besondere Spezies

Sandsteinfigur einer Muentsreschwalbe
Münsterschwalbe
14. Jh., inv. MOND 284; ©Photo M. Bertola

Darüber hinaus hatte sich der Magistrat noch mit einer ganz anderen Schwalbenspezies auseinanderzusetzen. Während die Kirchen- bzw. Mehlschwalben ihre ornithologische Daseinsberechtigung hatten, ging es bei den „Münsterschwalben“ nicht um Flugtiere mit Federkleid. Gemeint waren leichtvertige frowe, die ihre Dienste in und um die Kathedrale herum anboten.

Selbst der Klerus akzeptierte die Spontziererinnen, wie die Dirnen auch bezeichnet wurden, als notgedrungenes Übel. Immerhin war es allemal besser, dass sich die Männer im Freudenhaus herumtrieben, als junge oder verheiratete Frauen anzugehen. Damit alles seine Ordnung hatte, legte die Sittenverordnung der Stadt in einem öffentlichen Verzeichnis genau fest, in welchen Straßen bzw. Häusern die Prostitution erlaubt war.

„Verordnung die öffentlichen Weibsleute betreffend“ 1471. Stadtordnungen, vol. 2, fol. 78.

Unsere herren meister und rat und die XXI haben erkant als hienoch geschriben stot: des ersten als vormals geboten ist, das alle hushelterin, spontziererin und die so offenlich zur unee sitzent oder bülschaft tribent, wo die in der stat sessent, soltent ziehen in Bickergasse, Vinckengasse, Gröybengasse, hünder die muren oder an ander ende, die inen zugeordent sint, do ist erkant daz das doby bliben soll.“

Die Frauenhäuser waren in der Regel im Privatbesitz einer hushelterin der bösen Sachen. Sie achtete auch darauf, dass die dirnen und öden frowen sich an die vorgeschriebene Kleiderordnung hielten. Der Rock musste unbedingt drei Finger über dem Boden enden und durfte weder aus Seide gefertigt noch mit Eichhörnchenfell verziert sein. Auch goldene Spangen, Gürtel und Korallenschmuck waren verboten, um Verwechslungen mit ehrbaren Frauen auszuschließen.

Der Fisch stinkt immer am Kopf

Stadtverordnung Strassburg 1514

Wie diverse Polizeiverordnungen von 1471 bis 1514 belegen, hielten sich die spontziererinnen nicht an die Regeln. Häufig belagerten sie während Gottesdienst und Messe die Stufen des Altars an, wovon sie um die beste Aussicht eiferten, um mit potenziellen Kunden in Blickkontakt zu treten. Wurden sie bei den unmissverständlichen Anbandelungsversuchen erwischt, kamen sie vor das Siebnergericht. Offensichtlich besaßen die vom siebenköpfigen Geschworenengericht verhängten Geldstrafen keine ausreichend abschreckende Wirkung. Deshalb sah man sich 1521 sogar gezwungen, die frivolen Münsteraktivitäten mit Gefängnisaufenthalt zu belegen.

Da fragt man sich natürlich, was machte in all dieser Zeit der Klerus? Warum lehnte er sich nicht gegen all die ungebührlichen Verhaltensweisen auf? Dafür gibt es nur eine Erklärung. Der Fisch stinkt immer am Kopf.

Mit Johann von Lichtenberg wurde 1365 der vorerst letzte rühmliche Fürstenbischof von Straßburg beerdigt. Seine Nachfolger wie Friedrich von Blankenheim oder Wilhelm von Diest bekleckerten sich wahrlich nicht mit Ruhm, sondern brachten Schimpf und Schande über ihr Amt. Moral als auch Finanzen des Hochstifts gerieten immer weiter in Schieflage. Die „fürstlichen“ Angelegenheiten beanspruchten das Hauptaugenmerk der Bischöfe. Sie vernachlässigten ihre klerikalen Aufsichtspflichten, zumal sie ab 1414 ihren Sitz von Straßburg nach Zabern (Saverne) verlegt hatten. Ihre Aufgaben delegierten sie deshalb an die Domherren, die wiederum die Vikare dafür einspannten, die christliche Botschaft in die Gemeinde hineinzutragen.

Unglücklicherweise hegten diese unterbezahlten Priester keine Ambitionen, ihr Amt mit Übereifer auszufüllen. Nicht nur, dass sie die Predigten als seelenlose Pflichtübung betrachteten. Vielmehr hatten sie sich auch der Trägheit und Disziplinlosigkeit verschrieben. Wie ließe sich ansonsten argumentieren, dass sage und schreibe 160 Stiftermessen nicht gelesen wurden? Kollektive Demenz?

Bacchus und Venus halten Einzug im Liebfrauenmünster

Mit guter Regelmäßigkeit füllten sich im Mittelalter in den Nächten des 14. und des 29. Augusts sowie des 7. Septembers die bereits fertiggestellten Bauabschnitte des Münsters mit einheimischen als auch durchreisenden Gläubigen. Gemeinsam gedachten sie in aller Feierlichkeit Mariä Himmelfahrt, der Weihung des Münsters als auch Mariä Geburt. Viele harrten bis zum Morgengrauen aus, um mit ihren Fürbitten der Gnade Gottes und Mariä teilhaftig zu werden.

Beeindruckt von dieser gottgefälligen Hingabe, befand es im Jahr 1299 der Straßburger Bürger und Münsterpfleger Ellenhard für besonders edelmütig, die Betenden mit einer großzügigen Weinspende für ihre Ausdauer zu belohnen. Allerdings ging der Schuss nach hinten los. Zwar zog diese Aktion in den besagten drei Nächten noch mehr Besucher in die Kathedrale, doch das Durchhaltevermögen der Anwesenden galt kaum noch dem Gebet als vielmehr dem Konsum des Rebensafts. Aus den anfänglich zur Verfügung gestellten 184 Litern wurde bald das Doppelte. Später erhöhte sich der Ausschank sogar auf ein Fuder, was 1100 Litern entsprach. Der Einfachheit halber platzierte man nach Fertigstellung der Katharinenkapelle Mitte des 14. Jahrhunderts ein Fass auf dem Altar, aus dem sich jedermann und jedefrau reichlich bedienen durften. 

Ein anschauliches Bild dieser Saufgelage mit Mehrwert hinterließ der bekannte Theologe Jakob Wimpfeling in seinem Werk Catalogus episcoporum Argentinensium. In der 1507 angefertigten Chronik der Bischöfe von Straßburg missbilligte er aufs Schärfste „die Orgien von Bacchus und Venus“, zu denen die feierlichen Andachten seit der gut gemeinten Spende verkommen waren. Erst Geiler von Kaysersberg gelang es dem weinseligen Brauchtum einen Riegel vorzuschieben.

Der Roraff – eine Münsterfigur mit Tradition

Das nächtliche Kirchweihfest war nicht der einzige Missstand, den der charismatische Prediger verurteilte. In seiner 21 Artikel umfassenden Bittschrift an den Straßburger Rat forderte er in Punkt 16: „Den Miszbrauch des Roraffen im Münster abschaffen“. Vergeblich. Der Roraff war seit Jahrhunderten die Hauptattraktion der Straßburger Kathedrale. Eine Institution mit Tradition. Ihre Abschaffung wäre einem Sakrileg gleichgekommen. Heute steht die legendäre Münsterikone immer noch an ihrem angestammten Platz. Allerdings schweigend. Nur noch Insider wissen um ihre schillernde Vergangenheit. Also ist es an der Zeit, den Roraff noch einmal zurück ins Rampenlicht zu holen. Dazu begeben wir uns zur großen Orgel im Mittelschiff, wo drei sonderbare Gestalten die Blicke auf sich ziehen.

Am konisch zulaufenden Ende des Orgelgehäuses bezwingt der biblische Simson mit der wallenden Mähne den Löwen. „Da kam der Geist des Herrn über Simson, und Simson zerriss den Löwen mit bloßen Händen, als würde er ein Böckchen zerreißen“ (Richter 14,6). Abgesehen von der Platzierung und der äußerst naturalistischen Darstellung von Simsons Mienenspiel ab, haben wir es hier mit einer beliebten, allegorischen Darstellung des Triumphes Jesu über den Tod zu tun. Also an und für sich nichts Ungewöhnliches. Erst wenn man das Fernglas oder Teleobjektiv zückt, entdeckt man den eigentlichen Clou. Die bemalte Holzfigur ließ sich nämlich zum Leben erwecken. Über Drähte stand sie mit den Pedalen der Orgel in Verbindung. Dadurch konnte der auf dem Löwen reitende Simson das riesige Maul der Bestie beliebig oft aufreißen und wieder verschließen.

Auch die beiden Konsolenfiguren rechter- und linkerhand der Orgel waren in der Lage, einfache Marionetten-Kunststücke vorzuführen. Unter dem westlichen Baldachin wartet ein Herold mit Beinlingen in den Stadtfarben rot und weiß auf seinen Einsatz. Wurde die Orgel in Betrieb genommen, hob und senkte er fleißig seine Fanfare. Wer genau hinschaut, kann auf der Standarte die Schutzheilige des Münsters erkennen.

Die Messe als Kasperletheater

Kommen wir zur Figur auf der rechten Seite. Darf ich vorstellen? Der Roraff.
Ein ungepflegter, verwilderter Geselle mit struppigem Haar und Bart sowie einer rot-weißen Narrenkappe auf dem Kopf. Einstmals pries er in seiner erhobenen Rechten einen typisch elsässischen Verkaufsschlager an. Und das mit ziemlichem Erfolg, wie seine prall gefüllte Börse verrät. So eine Predigt zog sich schon mal in die Länge, da war der ein oder andere Messebesucher doch froh, wenn der Bretzelmann mit einem kleinen Imbiss zur Stelle war. Ein wenig Eigenwerbung und Effekthascherei mit sich dabei bewegendem Kopf, Arm und Mund sowie musikalischer Untermalung war ihm deshalb gegönnt.

Eigentlich eine harmlose Darbietung, über die sich Geiler von Kaysersberg wohl kaum dermaßen echauffiert haben mochte. Allerdings hatte es der Bretzelmann faustdick hinter den Ohren. Immer an Pfingsten, wenn die Kathedrale vor Besuchern überquoll, pflegte er seinen ganz großen Auftritt. Während des Gottesdienstes fing er plötzlich an, unschickliche Lieder zu singen, riss derbe Zoten, verspottete die Priester, zog über die Bauern her, lachte aus heiterem Himmel oder brüllte wüste Beschimpfungen in die faszinierte Runde. Das einfache Volk amüsierte sich prächtig. Der Prediger kam kaum noch zu Wort und die Messe artete in ein einziges Kasperletheater aus.

Der Bretzelmann hat ausgedient

Kein Wunder, wollte Geiler von Kaysersberg den Roraff aus dem Weg geschafft haben. Aber die Stadtoberen weigerten sich beharrlich. Schließlich sponsorten sie ja das Spektakel mit einem Schilling Trinkgeld für denjenigen, der sich im Unterbau der Orgeltribüne versteckte und den Possenreißer gab.

Da dieses Geheimnis um den Roraff nun gelüftet ist, bleibt nur noch eine Frage zu klären. Wie kam der Bretzelmann in luftiger Höhe überhaupt zu seinem Namen? Nun, in der ersten Silbe versteckt sich das Wort röhren, sprich brüllen, während der Affe ganz sich selbst ist. Ein talentierter Nachahmer primitiver menschlicher Verhaltensweisen.

Spätestens mit der Einführung der Reformation dürften die aktiven Tage des Roraffen gezählt gewesen sein. Ende des 17. Jahrhunderts erinnerte sich kaum noch jemand an den lautstarken Störenfried. Man munkelt, sein Dauerkonkurrent um die Münsterkrone, der Hahn der Astronomischen Uhr, habe ihm mit seinem mechanischen Gekrähe und Flügelschlagen den Rang abgelaufen. Oder hatte der Gockel sogar noch ein wenig nachgeholfen und die Drähte des Roraffen durchgeschnitten? Ich fürchte, darauf wird sich keine Antwort finden.


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Quellen

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