Sangüesa und die Iglesia Santa María
Olite schläft noch, als ich mich an diesem kühlen Vormittag auf den Weg Richtung Nordosten mache. Sangüesa heißt mein heutiges Ziel. Eine der bedeutendsten mittelalterlichen Metropolen des Jakobswegs und gleichzeitig Grenzstadt zwischen den Königreichen Navarra und Aragón.
Eine Stadt, die 1122 von König Alfonso I. el Batallador neu gegründet wurde. Neu deshalb, weil sie schon existierte. Allerdings an einem anderen Ort. Und dieser andere Ort entsprach nicht den Vorstellungen des Herrschers über Aragón und Navarra. Er wünschte sich stattdessen eine gut zugängliche Vorzeigestadt in der fruchtbaren Ebene des Flusses Aragón. Sangüesa Nueva, neues Sangüesa, nannte Alfonso I. das zukünftige Aushängeschild seines Königreichs.
Rocaforte oder das alte Sangüesa
Das alte Sangüesa, Sangüesa Vieja, existiert noch. Mit besonderer Betonung auf „noch“. Auf dem nur einen Steinwurf entfernt liegenden Hügel pflegt es ein Schattendasein unter dem Namen Rocaforte. Und die Schatten von Rocaforte werden immer länger. Mit weniger als 40 Einwohnern, ist die einstige Bastion gegen die maurischen Eroberer, heute nicht mehr als ein absterbender Appendix des Industriegebiets von Sangüesa Nueva.
Nur noch die Burgruine auf dem runden Felsplateau erinnert an den bedeutenden Stellenwert, den Rocaforte im Mittelalter einnahm. Der erste navarresische Herrscher erblickte hier das Licht der Welt, und die Festung zählte im 10. und 11. Jahrhundert zu den strategischen Eckpunkten der christlichen Verteidigungslinie gegen die islamische Bedrohung. Doch mit Gründung von Sangüesa Nueva verblasste der Stern von Rocaforte zunehmend.
Franz von Assisi und das Wunder von Rocaforte
Selbst dem Heilige Franz von Assisi gelang es nicht, die traditionsreiche Ansiedlung vor dem Niedergang zu retten. Während seiner Pilgerschaft nach Santiago de Compostela, um das Jahr 1214, verweilte er längere Zeit in dem Städtchen am Jakobsweg um die Genesung eines erkrankten Mitbruders abzuwarten.
Der Prediger genoss die Ruhe und Abgeschiedenheit der wilden Landschaft. Deshalb unternahm er jeden Nachmittag einen ausgedehnten Meditationsspaziergang. Als er an einer Quelle Wasser schöpfte, überkam ihn plötzlich eine bleierne Müdigkeit. Und während er den Schlaf des Gerechten schlief, schlug sein Pilgerstab Wurzeln. Im Zeitraffer trieb ein stämmiger Maulbeerbaum aus, erblühte in voller Pracht, um anschließend die schönsten Früchte zu tragen. Als Francisco aufwachte und nach seinem Pilgerstab greifen wollte, entdeckte er die wundersame Verwandlung. Sogleich eilte er davon, um seinen Mitbrüdern von dem Mysterium zu berichten. Doch kaum hatte er sich auf den Weg gemacht, verdorrte der Baum in Sekundenschnelle. Erst als Franz von Assisi mit seinen Gefährten zurückkehrte, schossen neue Lebenskräfte durch den Stamm, die die Baumkrone schöner denn je erblühen ließ.
Aus Dankbarkeit für das Zeichen Gottes, gründete Francisco an Ort und Stelle das erste Franziskanerkloster auf spanischem Boden. Leider hatte es nur ein halbes Jahrhundert Bestand. Nachdem der König in Sangüesa Nueva das Konvent San Francisco, zu Ehren des Heiligen, aus der Taufe gehoben hatte, siedelten die Mönche um. Kirche und Klostergebäude blieben sich selbst und der Natur überlassen.
Im 18. Jahrhundert gab es einen gut gemeinten Versuch, das klösterliche Anwesen als auch das Dorfleben wieder in Gang zu setzen. Allerdings blieb der gewünschte Erfolg aus. Ich fürchte, bald erinnern nur noch vergilbte Dokumente in den Tiefen des Archivs des navarresischen Rechnungshofes an die Existenz von Rocaforte bzw. Sangüesa Vieja.
Sangüesa – Stadt ohne Fehl und Tadel
Die Geschichte von Sangüesa Nueva, der ersten Pilgerstation des Camino aragonés auf navarresischem Boden, ist ebenfalls schnell erzählt.
Mit der Renaissance des Jakobsweges und der Gunst des Königs entwickelte sich die frisch aus der Taufe gehobene Ansiedlung rasant zu einem Mekka der verschiedenen Glaubensgemeinschaften. Karmeliter, Dominikaner, Franziskaner und Mercedarier kümmerten sich sowohl um die Seelen der Bewohner als auch der Wallfahrer. Der König, damals noch derjenige von Aragón und Navarra, ließ sich einen Palast bauen und hielt des Öfteren Hof in Sangüesa. Noch heute zeugt das gut erhaltene, architektonische Erbe, darunter ein Dutzend Paläste und Adelshäuser, vier Klöster, fünf Kirchen sowie, sage und schreibe, zwölf Hospize vom Wohlstand der Stadt.
Im 13. Jahrhundert verschlechterte sich das Verhältnis der beiden Regionen zusehends. Sowohl Navarra als auch Aragón beharrte auf ihren eigenen König. Als Grenzstadt geriet Sangüesa deshalb häufig zwischen die Fronten. Dabei schlug das Herz der Sangüesinos immer für ihr kleines Königreich Navarra. Erfolgreich verteidigten sie ihren Grund und Boden gegen aragonische Übergriffe. In der Schlacht im nahe gelegenen Valdoluengo, gelang es ihnen sogar das feindliche Banner zu erbeuten. Als stolzes Symbol ihres Sieges zieren die roten Streifen der aragonischen Flagge heute noch das Wappen Sangüesas. Außerdem erhielt die Stadt vom König höchstpersönlich den Titel: „Sangüesa, la que nunca faltó“ verliehen, was frei übersetzt „Sangüesa, diejenige ohne Fehl und Tadel“ bedeutet.
Im Laufe des 16. Jahrhunderts beruhigte sich die politische Situation. Städtebau als auch Handel strebten durch die logistische Nutzung des Flusses Aragón einem neuen Höhepunkt zu. Noch ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand, dass man sich mit der ausgezeichneten infrastrukturellen Lage am Flussufer, den Teufel ins Bett geholt hatte.
Der schwärzeste Tag in der Geschichte von Sangüesa
Der 25. September 1787 ging als schwärzester Tag Sangüesas in die Annalen ein. Innerhalb von dreieinhalb Stunden schwoll der Fluss Aragón zu einem todbringenden Inferno an, überrollte die Ebene mit unvorstellbaren Wassermassen und riss 20% Prozent der Einwohner mit in den Tod. Nur ein Zehntel aller Gebäude konnte den Fluten standhalten. Der Rest wurde gnadenlos fortgeschwemmt. Tapfer wie die Sangüesinos bisher jede Schlacht geschlagen hatten, gaben sie auch in dieser schweren Stunde ihre Stadt nicht auf. Das Leben ging weiter.
Man versuchte sich, so gut als möglich mit den immer wiederkehrenden jahreszeitlich bedingten Überschwemmungen zu arrangieren. In den 50-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte sich schließlich die Regierung Navarras mit dem naturgegebenen Problem auseinander. Sie entschied sich für den Bau des umstrittenen Stausees von Yesa, der seitdem die Launen des Río Aragón bändigt.
Einst geleitete eine siebenbogige, romanische Brücke die Jakobspilger sicher stadtauswärts über den unberechenbaren Fluss. Seit Ende des vorletzten Jahrhunderts wurde sie durch eine unästhetische stählerne Überführung ersetzt, die nun den Verkehr von der Durchgangsstraße NA-132 direkt ins Zentrum führt. Spontan verleihe ich dem modernen Übergang den Tagespreis für den unansehnlichsten architektonischen Fauxpas der Region. Glücklicherweise sind mit der Beseitigung der steinernen Vorgängerversion, nicht auch die wundersamen Legenden, die sich um sie rankten, in der Versenkung verschwunden.
Der tapfere Edelmann Roque Amador
Die bekannteste davon erzählt von einem treuen Gefolgsmann des, von seinem eigenen Vater verfolgten Prinzen von Viana. Eins ums andere Mal fügte der Held dieser Geschichte den Häschern des Prinzen empfindliche Niederlagen zu, weshalb der Thronräuber-König ihn zum Staatsfeind Nummer Eins erklärte. Eine gnadenlose Hetzjagd begann, doch immer wieder konnte der loyale Ritter seinen Feinden entkommen. Erst nach Wochen des Versteckspiels kam es auf der Brücke von Sangüesa zum Showdown.
Von beiden Seiten eingekreist, sah der junge Draufgänger nur einen einzigen Ausweg, den Schergen des Usurpators zu entkommen. Er gab seinem Streitross die Sporen und flehte die Heilige Jungfrau um Errettung seines Seelenheils an. Dann unterschrieb er, mit einem halsbrecherischen Sprung über die Brückenbrüstung in die tosenden Fluten des Río Aragón, sein sicheres Todesurteil. Seine Verfolgern konnten nur noch ungläubig zuschauen, wie die Strömung den furchtlosen Rittersmann mit sich forttrug. Nur zu gerne hätten sie den Anhänger des Prinzen selbst zur Strecke gebracht um die Schmach der bezogenen Niederlagen zu tilgen. Nun lag sein Schicksal in höheren Händen. Und die höhere Instanz, die Jungfrau Maria, hatte wohl Erbarmen mit dem jungen Edelmann. Denn, oh Wunder, einige hundert Meter flussabwärts tauchten Ross und Reiter unversehrt aus den Fluten auf.
Der Name des couragierten Ritters war Roque Amador.
Und so liefert mir der unerschrockene Held den perfekten Brückenschlag zur berühmtesten Kirche in Sangüesa, Santa María la Real de Rocamador.
Die königliche Kirche – Santa María la Real
Der Baubeginn des romanischen Meisterwerks datiert ins 12. Jahrhundert. König Alfons I. erteilte den Auftrag, und unterstellte es der Schirmherrschaft des Johanniterordens. Seine Vollendung erlebte er nicht mehr. Die beiden Seitenschiffe, das Südportal und der achteckige Turm mit den gotischen Spitzbogenfenstern wurden erst in den beiden folgenden Jahrhunderten fertig gestellt.
Der für diese Zeit typische festungsartige Charakter vieler Gotteshäuser spiegelt sich auch in Santa María wider. Vom Zinnen gekrönten Turm mit der kecken Spitzhaube und dem umlaufenden Wehrgang konnte der herannahende Feind frühzeitig ausgemacht werden. Die dicken Kirchenmauern garantierten den Schutz suchenden Einwohnern physische Sicherheit und der Pfarrer seelischen Beistand.
Über die Jahrhunderte leistete Santa María den Gläubigern hervorragende Dienste. Dennoch konnten die ihr treu Ergebenen den langsam fortschreitenden Verfall nicht aufhalten. Die häufigen Überschwemmungen und das schutzlose Ausgeliefertsein gegenüber den Witterungseinflüssen hatte im Laufe der Zeit den Sandstein des Südportals zunächst Millimeter für Millimeter, dann Zentimeter um Zentimeter abgetragen. Hinzu kamen die Bürgerkriege im 19. Jahrhundert. Die in Sangüesa stationierten Truppen hatten die Kirche, mangels Alternativen, zur Kaserne umfunktioniert. Dies fügte der eh schon angeschlagenen Bausubstanz weiteren Schaden zu.
Und, nicht zu vergessen, der Fluch der Vogelexkremente mit ihren chemisch-aggressiven, zersetzenden Eigenschaften.
Eine beispiellose Restaurierungs- und Rettungsaktion
Es verging kein Jahrhundert, in dem nicht Ausbesserungs- oder Instandhaltungsarbeiten vorgenommen wurden. Das letzte groß angelegte Restaurierungsprojekt startete 2008, nachdem immer lauter und zahlreicher werdende Stimmen mit einer stoischen Beharrlichkeit den desaströsen Zustand von Santa María öffentlich anprangerten. Ein internationales Expertenteam aus Restauratoren, Architekten, Steinmetzen, Historikern, Mediävisten, Paläografen bis hin zu Chemikern, Biologen, technischen Zeichnern und Elektrikern nahm sich des stark angegriffenen Kulturguts an.
Nach einer erschöpfenden chemischen, lasertechnischen und manuellen Reinigung beschäftigten sich die Restauratoren in akribischer Detailversessenheit mit der Korrektur vorausgegangener, dilettantisch ausgeführter Arbeiten. Anschließend kümmerten sie sich um die Konservierung der Einzelreliefs des Südportals. Als weitere Maßnahme montierte man um das Portal einen Metallrahmen als Regen- und Windschutz. Die polychrome Fassade erhielt eine Behandlung mit Feuchtigkeit abweisenden Materialien. Zu guter Letzt wurde ein elektrostatisches Vogelabwehrsystem installiert. Dank des hingebungsvollen Einsatzes aller beteiligten Fachkräfte konnte ein Jahr darauf der erfolgreiche Abschluss der Operation gefeiert werden.
Weltanschauung für das einfache Volk
Ich muss gestehen, ich liebe dieses Südportal mit seinen mehr als dreihundert Steinskulpturen. Es ist mein absoluter Favorit unter all den unzähligen romanischen Kirchenportalen in Navarra. Der einzige Wermutstropfen ist seine ungünstige Lage direkt an der Hauptstraße. So hat man entweder die Wahl zwischen einer an der Fassade platt gedrückten Nase inklusive Genickstarre, oder man besitzt den Mut, als lebensmüdes Gafferhindernis auf der frequentierten Calle Mayor Auslöser eines dissonanten Hupkonzerts zu sein.
Das Portal entstand zwischen 1160 und 1200. Zu einer Zeit also, als die Calle Mayor noch ein schlichter Pilgerweg, und die wenigsten Menschen des Lesens oder Schreibens mächtig waren. Den Steinmetzen der Romanik und Gotik kam deshalb eine besonders anspruchsvolle Aufgabe zu. Sie mussten ihre Handwerkskunst nicht nur zum Prestige des Kirchengebäudes und der Lobpreisung Gottes einsetzen, sondern auch dem einfachen Volk moralische Botschaften auf verständliche und prägnante Weise vermitteln. Der Eingang ins Gotteshaus stellte folglich ein plakatives Manifest von Gut und Böse, von Moral und Tadel, von Himmelreich und Verdammnis dar.
Die Baumeister von Santa María la Real haben diesen Auftrag in Perfektion umgesetzt. Sie schufen auf der Repräsentationsseite der Kirche eine Bibel für Analphabeten mit den zentralen Themen Jüngstes Gericht und Erlösung. Um eine reale Verbindung der biblischen Gleichnisse zum irdischen Leben herzustellen, streuten sie zwischen die bildlichen Darstellungen des Alten und Neuen Testaments Figuren, mit denen sich die Menschen identifizieren konnten: Gottgläubige und Sünder, Helden und Bösewichter, Männer und Frauen niederen Standes, Handwerker, Landwirte, Bettler, Soldaten, Priester, Edelmänner, Spielmannsleute, Pilger und Narren, also die ganze Bandbreite der mittelalterlichen Gesellschaft.
Auch die Tierwelt durfte nicht fehlen. Die biblischen Kuh, Esel, Lamm, Schlange, Löwe sind ebenso präsent wie die schlimmsten Ausgeburten menschlicher Albträume, die mythologischen Mischwesen und Genunfälle. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt.
Vergebliche Selbstkasteiung
Jedes Mal, wenn ich vor der Südfassade von Santa María la Real stehe (das halbe Dutzend ist beinahe voll), bin ich gleichermaßen fasziniert. Jedes Mal entdecke ich noch ein Detail, das mich staunen, schmunzeln oder auch ratlos zurücklässt. Und dieses Staunen, Schmunzeln, Ratlos sein, möchte ich unbedingt mit Euch teilen.
Allerdings stehe ich dabei vor einem Riesenproblem. Stellt Euch ein endlos langes, all-you-can-eat Buffet vor, mit all Euren Lieblingsspeisen. Ihr dürft alle Köstlichkeiten stundenlang anschauen, aber nur so viel davon essen, wie auf einen Kuchenteller passt. Genauso fühle ich mich gerade. In diesem Portal sind so viele Botschaften und Symbole, so viele verschlüsselte Mitteilungen und so viele Geschichten zu den Geschichten versteckt, dass es den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.
Folglich musste ich eine Auswahl meiner persönlichen Highlights der monumentalen Bildergeschichte treffen. Doch selbst diese Auswahl ähnelte mehr einem riesigen Platz- denn einem Kuchenteller. Also hieß es weiter feilen, kürzen, verzichten. Das Ergebnis: ein vollgehäufter Kuchenteller, aber immer noch unverdaulich. Einfach des Guten zu viel. Schweren Herzens strich ich weiter. Am Ende hatte ich zwar einen gut proportionierten, aber wild durcheinander gewürfelten Kuchenteller. Nichts passte mehr zum anderen.
Schlussendlich habe ich mich deshalb doch für den vollgetürmtem Dessertteller entschieden, und überlasse Euch die Entscheidung, wie viel Ihr davon naschen möchtet. Je nach Lust und Laune, Eile oder Muse, Hunger oder Sättigungsgrad, könnt Ihr nun selbst auswählen, wie weit ihr mir auf der Entdeckungsreise durch die Spielwiese der mittelalterlichen Welt in Sangüesa folgen möchtet.
Eine mittelalterliche Entdeckungsreise des Portals von Santa María la Real
Am Portal der Marienkirche waren maßgeblich zwei Baumeister am Werk. Dies erklärt die augenscheinlichen Unterschiede in Ausführung, Darstellung und Motivwahl oder auch -wiederholung.
Der untere Portalabschnitt einschließlich Tympanon und über die Hälfte der Bogenzwickel tragen die Handschrift eines Künstlers namens Leodegarius. Seine und die Arbeiten seiner Werkstatt fallen in den Baubeginn bis etwa Mitte 1170. Inspiriert wurde er zweifellos durch die Kathedrale von Chartres, die als eine der Vorreiterinnen der Gotik, neue architektonische Maßstäbe setzte. Neben dem in einem angedeuteten Spitzbogen auslaufenden Giebelfeld zeigen sich die deutlichsten Parallelen bei den in Spanien erstmalig anzutreffenden Säulenstatuen. Weitere, typische Erkennungsmerkmale des französischen Steinmetz aus dem Burgund sind die horizontal ausgerichteten Figuren in den Gewölbebögen, sowie der streng vertikale Faltenwurf der Kleidung seiner steinernen Darsteller.
In den übrigen Fassadenabschnitten hat ein anderer Steinmetz seine Spuren hinterlassen. Seine Protagonisten besitzen eine kantige Gesichtsform mit abgeflachtem Kopf, markante Glubschaugen und lockige, wie dicke Wollfäden gemeißelte Haare. Diese Handschrift ist keine unbekannte. Sie gehört nämlich dem Meister von San Juan de la Peña . Der Steinvirtuose der Kapitelle im Felsenkloster San Juan de la Peña in Aragón trat 1190 die Nachfolge des Leodegarius an und vollendete das Portal binnen zehn Jahren.
So, jetzt ist alles vorab gesagt. Das Abenteuer kann beginnen.
Die Säulenstatuen
Petrus, Paulus und Judas
Auf der rechten Seite der Eingangspforte begrüßen mich der Apostel Petrus als Bekenner und Fels, auf dem Jesus seine Kirche bauen wollte. Neben ihm der Märtyrer Paulus mit seiner für ihn typischen Stirnglatze. Das unzertrennliche Duo mit den Heiligenscheinen überragt den an den Rand gedrängten Verräter Judas um Haupteslängen. Die lateinische Inschrift auf seiner Brust stigmatisiert ihn auf alle Ewigkeit: Iudas Mercator. Mercator, ein Kaufmann oder vielmehr eine käufliche Person? Auf jeden Fall ein Sinnbild für die verschlagenen, habgierigen Geldwechsler, denen die Jakobspilger im Mittelalter ausgeliefert waren.
Der gehängte Judas. Schmächtig, mit nacktem Oberkörper, die selbstgeknüpfte Schlinge um den Hals, mit der er sich selbst richtete, nachdem er seinen Irrtum erkannte. Eine außergewöhnliche, aber aufrüttelnde Darstellung an einem Gotteshaus. Meistens ist für Judas kein Platz unter den Aposteln. Und noch weniger im zivilen Leben vieler Länder des 21. Jahrhunderts, wo der Vorname Judas bis heute tabu ist.
Umso verwunderlicher, dass der Heilige Stuhl sich inzwischen mit der tragischen Figur des Judas ausgesöhnt hat. Anders wäre wohl kaum zu erklären, dass Radio Vatikan in den 70-er Jahren mit der Rockoper Jesus Christ Superstar auf Sendung ging. Ein Musical, das die konservativen Katholiken spaltete, warf es doch einen völlig anderen Blickwinkel auf die Triebfeder des Handelns von Judas Ischariot und versuchte eine ansatzweise Rehabilitierung des Apostels.
Die drei Marien oder Selbstmarketing im Mittelalter
Die gegenüberliegende Seite des Kircheneingangs steht ganz im Zeichen der Frauenpower. Die Schriftwerke, die die drei grazilen Figuren in ihren Händen halten, identifizieren sie eindeutig als die Büßerin Maria Magdalena, die Jungfrau Maria und Maria, Mutter des Apostels Jakobus.
Maria Magdalena nimmt dabei, wie Judas, die Außenposition ein. Zweifellos drängt sie ihre wenig ruhmreiche Vergangenheit als Dirne in die Außenseiterrolle. Doch im Gegensatz zum männlichen Sünderpendant Judas darf sie sich in ganzer Größe präsentieren. Schließlich wurde sie bekehrt und in den Kreis der Jünger Jesu aufgenommen.
Das höchste Ansehen unter den drei Marien gebührt selbstverständlich der Heiligen Jungfrau. Als deutlich sichtbares Attribut trägt sie deshalb eine Krone anstelle der einfachen Kopfbedeckungen ihrer Namensgenossinnen. In ihren Händen hält sie ein aufgeschlagenes Buch. Mit ihrem rechten Zeigefinger lenkt sie die Aufmerksamkeit des Betrachters auf eine wichtige Botschaft: Leodegarius me fecit (Leodegarius erschuf mich). Ein geschickter Winkelzug des Steinmetzes. Warum auch das eigene Licht unter den Scheffel stellen? Wenn es ums Geschäftliche geht, sind Promotion und Selbstmarketing das A und O. Mit demutsvoller Zurückhaltung zieht man keine Aufträge an Land.
Das Tympanon
Das Jüngste Gericht
Im Zentrum des Tympanons residiert Christus als Weltenherrscher. Als oberster apokalyptischer Richter fällt er das Urteil über die reale, spirituell-geistliche, biblische und irrationale Welt um ihn herum. Akustische Unterstützung erfährt er von vier Posaunen blasenden Engeln, die zum jüngsten Gericht rufen.
Dann fällt die Entscheidung, exakt wie in der Bibel, Matthäus 24, 31 und 25, 31-33 beschrieben: „Und er wird seine Engel senden mit hellen Posaunen, und sie werden seine Auserwählten sammeln von den vier Winden, von einem Ende des Himmels bis zum andern. Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.“
Folglich versammeln sich rechterhand des Pantokrators die bekleideten Gutmenschen. Sie sind die Seligen, die nichts zu fürchten haben. Doch auf der anderen Seite schaut es nicht gut aus für die Verdammten. Da drängen sich nackte Körper in einer rückwärtigen Schieflage aneinander. Der Vergleich mit wackelig aufgestellten Dominosteinen drängt sich förmlich auf. Einmal angestoßen, ist der Fall nicht mehr aufzuhalten, die Hölle wartet schon.
Der Wolf im Schafspelz
Meine Gedanken driften ab. Ich finde mich in der siebten Klasse auf dem Gymnasium wieder. Die Worte Schieflage und Hölle haben offensichtlich einen seit Jahrzehnten schlafenden Dämon in den Tiefen meines Unterbewusstseins geweckt. Vor meinem geistigen Auge und der Tafel im Klassenzimmer defiliert der gefürchtetste Französischlehrer der Schule.
Sein süffisantes Lächeln beim Betreten des Klassenraums versprach einmal mehr einen unangekündigten Vokabeltest. Das Zittern begann, denn der Vokabeltest verlief nach einem festen Ritual. Zuerst fiel der Name einer der weniger sprachbegabten Schülerinnen. Diese musste dann Stellung hinter dem aufgeklappten Tafelflügel beziehen, um sich dort der Tortur des Vokabeltests auszusetzen. Anschließend folgte die vernichtende Beurteilung vor der ganzen Klasse. Dass dabei meistens Tränen flossen, schien dem „Pädagogen“ eine unstillbare Befriedigung zu verschaffen.
Und so war es auch an diesem bewussten Tag, der sich offensichtlich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Der Lehrer der alten Schule gefiel sich in der Rolle, sein Opfer vor allen Mitschülern bloßzustellen. Demonstrativ nahm er das Klassentagebuch zur Hand, neigte es in einem 45 Grad Winkel, setzte eine Kreide am oberen Ende des Klassenbuches auf und sagte zu ihr: „Du bist eine Abstiegskandidatin. Das Klassentagebuch entspricht deiner schulischen Laufbahn. Es wird nicht mehr lange dauern, und Du bist unten angekommen.“ Dann ließ er der Kreide freien Lauf, die dem Gesetz der Schwerkraft folgend, abwärts rutschte und am Boden in unzählige Stücke zerbrach.
Noch heute krampft sich mein Magen beim Gedanken an den Wolf im Schafspelz (die ist keine zufällige Metapher) zusammen. Zwei lange Jahre musste unsere Klasse ihn ertragen. Rückblickend gesehen, eine kurze Zeitspanne, aber damals kam sie uns ewig vor. Seltsam, manche Erinnerungen verlieren sich nie und andere, an denen man für immer festhalten möchte, verflüchtigen sich ganz unbemerkt.
Ein Vorgeschmack auf die Hölle
Zurück zur Gegenwart.
Unterhalb der nackten Sünderschar prüft der Erzengel Michael mit der Seelenwaage, auf welcher Seite der Angeklagte im Jenseits wandeln darf. Die guten Taten werden mit einer Taube aufgewogen, während als Richtmaß der Verfehlungen ein schlangenähnliches Tier in der rechten Waagschale dient. Drei demutsvoll betende Herren haben die Prüfung bereits bestanden und dürfen ins Himmelreich einziehen.
Rechts davon wurde über das Schicksal von Adam und Eva schon längst der letzte Urteilsspruch gefällt. Für die Sünder bleibt nur der Weg in die Hölle. Eine Hölle, die angefüllt ist mit monströsen, gierig lechzenden Drachenköpfen. Unter ihnen auch Leviathan, der Teufel schlechthin. Ein Drachenungeheuer mit einem schlangenartigen Krokodilkörper. Mit hungrigen Mäulern und gebleckten Zähnen warten die Teufelsfratzen ungeduldig auf die nächste Opferfütterung.
Die Archivolte
Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft
Oberhalb des Vorsitzenden des Universums betreten wir mit den Archivolten den mittelalterlichen Mikrokosmos. Wir werden Zeuge eines unzensierten Schauspiels mit weit über einhundert profanen, religiösen, kriegerischen, realen, absurden, skurrilen, obszönen, abstoßenden aber auch amüsanten und sympathischen Darstellern. Und was auf den ersten Blick als heilloses Durcheinander anmutet, lässt bei einer genaueren Betrachtung ein raffiniertes Wertesystem erkennen.
Ein Geniestreich des Meister Leodegarius. In den innenliegenden Archivolten, die dem Weltenrichter am nächsten liegen, beherrschen biblische Figuren und gute, aufrichtige Seelen die Szenerie. Man trifft auf eine Auswahl der Jünger Jesu als auch auf ehrbare Handwerksberufe wie einen Schmied oder den für die Pilger unentbehrlichen Schuhmacher. Der Schlachtergilde muss im Mittelalter eine bedeutende Rolle zugekommen sein. Sie wird gleich von vier Metzgern vertreten, die dem Frischfleisch alias Ziege, Kaninchen oder Schwein mit den unterschiedlichsten Tötungswerkzeugen zu Leibe rücken. Selbstverständlich kommt auch der Klerus vom Mönch oder einfachen Priester über den Abt bis zum Bischof im Kreis der Tugendhaften nicht zu kurz.
Moralvorstellungen im Wandel
Nach außen hin entfaltet sich ein Panoptikum der niederen Stände, der sozial Rechtlosen und des fahrenden Volkes: Spielmänner, Gaukler, Jongleure, Musikanten mit der dreisaitigen Hirtengeige, der sogenannten Rabel, Tänzerinnen und Akrobaten. Alle haben sie hier ihre Bühne. Dazwischen gestreut, tummeln sich Gnome, Pilger mit Flügelohren, Soldaten, die personifizierte Habgier in Gestalt einer Frau mit prall gefülltem Geldsack um den Hals, Körper ohne Köpfe und Köpfe ohne Körper.
Doch damit nicht genug. Im äußersten Bogen spitzt sich die Lage zu. Das Laster der Wollust wird schonungslos mit einer auffallend hohen Frauenquote zur Schau gestellt. Ich entdecke gleich mehrere weibliche Wesen, die an ihren nackten Brüsten Kröten und Schlangen nähren, oder eine Meerjungfrau, die mit entblößtem Busen orientierungslose Seemänner zu verführen sucht. Das männliche Geschlecht, im doppeldeutigen Sinne, ist an dieser Stelle deutlich in der Unterzahl.
Im ersten Moment kommt mir der Gedanke, welches Entsetzen die Enthüllung des frevlerischen Portals bei allen Instanzen der Kirchenhierarchie ausgelöst haben musste. Doch das Entsetzen löst lediglich meine Moralbrille des 21. Jahrhunderts aus. Im Mittelalter erfüllte das Portal perfekt seinen Zweck. Das Volk bekam ein ungeschöntes Spiegelbild von Fehl und Tadel präsentiert. Die in Stein gebannten Illustrationen lehrten die Menschen, dass im alltäglichen Handeln nur ein schmaler Grat zwischen einem ehrbaren und einem sündigen Leben liegt. Insofern nahm niemand Anstoß an den frivolen Darstellungen.
Während der letzten 500 Jahre änderte sich diese Einstellung um 180 Grad. Die Präsentation nackter Menschen galt als anrüchig und verwerflich. Diese heuchlerische Moralvorstellung führte häufig zu irreversiblen Zerstörungen an romanischen und gotischen Kirchen. Als ob man durch das Zertrümmern geschlechtlicher Darstellungen, die menschliche Gemeinschaft zu globaler Keuschheit anhalten könnte.
Die Bogenzwickel
Von Denkern, Hitzköpfen und Mutigen
Wir arbeiten uns weiter nach oben. Die beiden Bogenzwickel setzen die Inhalte der Archivolte thematisch fort. Auf der linken Seite wird sowohl exzessiv der Wollust gefrönt, als auch hart gearbeitet. Possenreißer haben hier ihren Spaß, unterschiedliche Tierspezies freien Auslauf und dazwischen gibt es noch Platz für ein paar Bibelszenen.
Drei Figuren heben sich aus dieser illustren Gesellschaft besonders hervor. Da wäre auf halber Höhe eine breitbeinig sitzende Person, die ihre Zeit gerade auf einem Nachttopf verbringt. Nachdenklich stützt sie den Kopf auf ihrer linke Hand auf, während sie über Gott, die Welt oder ihr eigenes Schicksal sinniert.
Zwei Reihen darüber kämpfen mit einem windelartigen Lendenschurz bekleidete Männer gegeneinander. Ignoriert man ihre zipfelförmige Kopfbedeckung, haben sie durchaus Ähnlichkeit mit römischen Gladiatoren. Sie verkörpern die Sünde des Zornes und der Raserei. Mich fasziniert an diesem Bildnis die Pose der beiden Streithähne. Es ist, als ob sie einen kurzen Moment im Faustkampf innehalten, um nachzuschauen, welcher neugierige Zuschauer (nämlich ich) sie gerade beobachtet.
Über den beiden Hitzköpfen schwingt ein kopfloser Reiter unermüdlich seine Steinschleuder. Ganz offensichtlich hat er damit den Riesen niedergestreckt, der nun am Boden liegend, von seinem Schlachtross zermalmt wird. Auch wenn David im Alten Testament zu Fuß gegen Goliath kämpfte, die Botschaft des Reliefs bleibt die Gleiche. Einen überlegenen Gegner mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, ist in der Regel aussichtslos. Eine Chancengleichheit stellt sich nur ein, wenn man den Mut und die Kreativität aufbringt, mit unkonventionellen Methoden dem Feind gegenüberzutreten.
Wilde Kreaturen und gentechnische Unfälle
Der rechte Bogenzwickel stand lange Zeit im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit, weil die Figur des Schwertkämpfers Sigurd, der den Drachen Fafnir tötet, als Bindeglied der nordischen Heldensaga zu den aus ganz Europa herbeiströmenden Pilgerscharen interpretiert wurde. Inzwischen haben die Experten von dieser Auslegung Abstand genommen. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich nur um ein weiteres Gleichnis vom Kampf Gut gegen Böse handelt.
In der Nähe des Drachentöters findet gerade eine Konferenz großformatiger Fabelwesen unter Leitung des mächtigen Greif statt. In der christlichen Deutung attestiert man dem Mischwesen aus geflügeltem Löwen mit Raubvogelkopf ambivalente Eigenschaften. Er besitzt zwar die Stärke das Böse zu überwinden, kann jedoch den Hang zu sündhafter Habgier nicht unter Kontrolle halten.
Zu den beiden Greifen hat sich ein mutiertes Harpyien-Zwillingspaar gesellt. Normalerweise bewegen sich die Frauenköpfe auf den Vogelkörpern mit den riesigen Schwingen pfeilschnell wie der Wind. Da sie sich wohl kaum aus ihrer steinernen Starre befreien können, verpasste ihnen der kreative Steinmetz einfach einen Reptilienschwanz. Die fantasievolle Runde komplettieren ein weiteres schimärenartiges Zwitterwesen und, in dessen Windschatten, eine gar seltsame Kreuzung aus langhaariger Frauenbüste und raubtierähnlichem Hinterteil.
Jetzt heißt es für die bereits versammelten Kreaturen ausharren, bis die drei Kompagnons von der gegenüberliegenden Seite dazustoßen. Dann kann endlich das Fabeltier-Symposium starten. Doch weder die träge vor sich hinschlummernden Drachen, noch der Basilisk scheinen einen großen Drang zu verspüren, ihre angestammten Plätze zu verlassen.
Darüber bin ich persönlich froh, denn der Blick des Basilisken soll versteinern und sein Atem töten. Zwar wirkt die Missgestalt aus Hahn, Vogel und Schlange auf den ersten Blick nicht besonders bedrohlich, aber der äußere Schein trügt. Das Monstrum ist ein Sammelsurium sündhafter Wesenszüge. Wollüstig, missgünstig, hochmütig. Das Sinnbild des Antichristen schlechthin.
Die obere Galerie
Da wende ich mich lieber schnellstens dem obersten Abschnitt der Fassade zu. Hier herrschen christliche Ruhe und biblische Ordnung. Christus und die zwölf Apostel dürfen sich hier noch einmal von ihrer besten Seite zeigen, nämlich derjenigen des Meisters von San Juan de la Peña.
Im Vergleich zum geselligen Apostelreigen des Meisters Leodegarius im Türsturz, geht es im Obergeschoss wesentlich distinguierter, um nicht zu sagen unterkühlt zu. Umgeben von den treuen Evangelisten in Form ihrer geflügelten Sinnbilder Löwe, Adler, Stier und Mensch, hat der Pantokrator in einer zweistöckigen Galerie die Erzengel Michael und Gabriel sowie seine zwölf Jünger um sich geschart. Steif und unnahbar stehen sie da wie Zinnsoldaten. Dazu passt auch ihr Einheits-Outfit, weshalb ich nur Petrus, Paulus und Jakobus anhand ihrer typischen Erkennungsmerkmale Schlüssel, Stirnglatze und Pilgerstab erkennen kann.
Die Übrigen bevorzugen die Anonymität und ich eine neue Brille für meine Kurzsichtigkeit.
Meine persönlichen Protagonisten
Mein absoluter Favorit unter den 300 Steinfiguren ist ein winziger Soldat im rechten Bogenzwickel. In voller Rüstung mit Langschild und Helm, der nur Augen- und Nasenpartie freilässt, kämpft er allein auf weiter Flur gegen einen unsichtbaren Gegner. Er nimmt seinen Auftrag überaus ernst. Entschlossenen Schrittes, mit aufrechter Haltung zieht der Winzling in die Schlacht, obwohl er kaum in der Lage ist, seine überdimensionale Lanze zu halten. Ich hoffe, der Feind hat Mitleid mit ihm. Nur mit sich und seinem schweren Kampfgerät beschäftigt, bemerkt er gar nicht, welches Szenario sich hinter seinem Rücken abspielt. Ein Riesenwolf macht Jagd auf einen edlen Hirsch mit stattlichem Geweih. Wer weiß, ob der Achtender den unstillbaren Hunger des Raubtieres zu sättigen vermag, oder der kleine Soldat ebenfalls in Lebensgefahr schwebt?
Ein wenig neidisch bin ich auf den friedlich schlafenden Zeitgenossen am linken Stützpfeiler. Völlig sich selbst überlassen, genießt er unbeschwert den Müßiggang. Weit und breit ist niemand, der ihn antreibt. Er ist ganz sein eigener Herr. Hoffentlich erkältet er sich auf dem kalten Stein. Ob ich ihm bei meinem nächsten Besuch ein Kopfkissen und eine Decke mitbringen sollte?
Last but not least hat eine schaurige Erscheinung am Abschluss des rechten Türpfostens meine besondere Aufmerksamkeit gewonnen. Eine Bestie mit menschlichen Gesichtszügen, scharfen Reißzähnen und winzigen Widderhörnern zwischen dem gewellten Pony, verschlingt mit großem Appetit mehrere, hilflos strampelnde Opfer gleichzeitig. Verzweifelt versuchen sie sich, mit zappelnden Beinen, aus dem gierigen Maul zu befreien, doch der Menschenfresser hat kein Mitleid mit ihnen. Vielmehr hält er mit seinen wachsamen Augen schon nach weiterem Frischfleisch Ausschau.
Schlechte spanische Gewohnheiten
Bei der Suche nach den weiteren Sehenswürdigkeiten der Stadt, hoffe ich auf die Kompetenz des Tourismusbüros von Sangüesa. Allerdings gestaltet es sich schwierig, dessen Know-how auf die Probe zu stellen, denn die Eingangstüre ist fest verschlossen. Der halbstündliche Glockenschlag bestätigt, dass die offizielle Öffnungszeit längst überfällig ist. Ich versuche mein echauffiertes Gemüt mit dem Statement des spanischen Schriftstellers Francisco Gavilán zum Thema spanische Pünktlichkeit zu beruhigen: „In diesem Land hält sich niemand auch nur zufällig an vorgegebene Zeiten. Die Uhr ist also ein nutzloses Instrument. Normalerweise dient sie uns dazu festzustellen, ob wir uns noch mehr verspäten können, als wir es ohnehin schon tun.“ (aus: Malas costumbres españolas; Schlechte spanische Gewohnheiten).
Nun gut, vertrete ich mir eben ein wenig die Beine auf der Calle Mayor und versuche dann erneut mein Glück. Aber selbst nach zweimaligem Abgehen der von leer stehenden Geschäften geprägten Hauptstraße, rüttle ich vergeblich an der Türe des Oficina de Turismo. Da inzwischen mein Magen knurrt, entscheide ich mich spontan für ein kulinarisches Alternativprogramm. Zum Glück bietet die einzige Cafeteria am Platz eine stattliche Auswahl an köstlich belegten Broten. Also lasse ich mir eine sättigende Lunchbox für mein spontan einberufenes Picknick schnüren.
Auf einer Parkbank in Flussnähe mache ich es mir und meinen bocadillos gemütlich. Ich sinniere noch über die ausdrucksstarke Bilderwelt des Santa María-Portals nach, als ich verblüfft feststelle, dass das mit Schweinefilet und gerösteten grünen Paprika belegte Weißbrot im Handumdrehen meiner Heißhungerattacke zum Opfer gefallen ist. Der erste Appetit ist gestillt, jetzt kann es mit aufgetankten Energiespeichern zum Fremdenverkehrsbüro zurückgehen. Offene Türen – Fehlanzeige. Meine Toleranzgrenze – überschritten. Die Parkzeit – abgelaufen. Also ziehe ich weiter und suche mir, wie das Monster am Türpfosten, ein neues touristisches Opfer auf meiner Reise durch Navarra.
Sangüesa (Comunidad Foral de Navarra), Februar 2011
Gut zu wissen
Adresse
Oficina de Turismo
Calle Mayor 2
ES-31400 Sangüesa
Stadtrundgänge
Sangüesa besitzt sowohl ein reichhaltiges klerikales als auch feudales architektonisches und kulturhistorisches Erbe. Deshalb schlägt das Tourismusbüro zwei verschiedenartige Rundgänge vor.
Die Route der kirchlichen Sehenswürdigkeiten schließt neben dem Besuch von Santa María la Real zwei weitere Stadtkirchen, zwei Klöster, das ehemalige Pilgerhospital, zwei Kapellen und eine ländliche-romanische Kirche ein. Die sogenannte zivile Route führt an nicht weniger als acht feudalen Stadthäusern bzw. Adelspalästen und den Überresten eines ehemaligen Stadttores vorbei.
Selbstverständlich lassen sich beide Optionen auch problemlos kombinieren, zumal sich der mittelalterliche Stadtkern von Sangüesa durch überschaubare Kompaktheit auszeichnet.
Winterliches Mysterienspiel – Misterio de Reyes
Wer die kalten Winter in Navarra nicht scheut, kann jedes Jahr am 6. Januar Zeuge eines der fünf in Spanien noch praktizierten Mysterienspiele werden. Das Theaterstück in Versform thematisiert die Ankunft der Heiligen Drei Könige zur Anbetung des Christuskindes. Halb Sangüesa beteiligt sich an der Freiluft-Aufführung, die ein Kapuzinermönch 1900 ins Leben rief.
In der Nähe
Rocaforte
Folgt man den Hinweisschildern in das Industriegebiet von Sangüesa, erreicht man nach etwa zwei Kilometern den Ortseingang von Rocaforte. Neben dem Besuch der gotisch ländlichen Kirche Santa María kann man sich auf die Suche nach den Überresten des einstigen Verteidigungsbollwerks machen. Etwas abseits, am nordöstlichen Abhang von Rocaforte, trifft man auf die Ruinen des ehemaligen Franziskanerklosters.
Castillo Javier
In weniger als 10 Kilometern Entfernung trifft man auf die Burg von Javier, das Fotomodell unter den Befestigungsanlagen Navarras. Sie ist gleichzeitig Geburtsort des heiliggesprochenen Missionars Francisco Xavier, dem Mitbegründer des Jesuitenordens.
Kloster San Salvador de Leyre
Während der Abt Virila vor mehr als 1000 Jahren in der Sierra de Leyre eine Antwort auf die Frage nach der Ewigkeit suchte, fand ich im Kloster San Salvador de Leyre nicht nur eine außergewöhnliche romanische Krypta, sondern auch erstaunliche Fakten zur Grablege der Könige von Navarra.
Sos del Rey Católico
Die kleine Ortschaft mit dem mittelalterlichen Stadtkern ist zwar nur knappe 13 Kilometer von Sangüesa entfernt, liegt aber bereits in der Nachbarregion Aragón. Schon im Mittelalter war Sos del Rey Católico eine strategisch wichtige Grenzfestung zwischen den Königreichen Navarra und Aragón. Berühmtheit erlangte sie jedoch erst durch den Katholischen König Ferdinand II. und eine Kuh. Außerdem lässt es sich in den historischen Gemäuern des Paradores wunderbar nächtigen.