Pilgermonument auf dem Alto del Perdón
Navarra,  Spanische Erinnerungen

Sierra del Perdón


Wo sich der Sternenweg mit dem Weg des Windes kreuzt

Eine schwarze Leinwand. Nur das schneidende Pfeifen des Windes und schwerfälliges Hufgetrappel ist zu vernehmen. Eine tiefe Stimme verkündet in getragenem Tonfall:
„Der Weltraum – unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200. Dies sind die berühmten Abenteuer des Edelmannes Don Q. und seines Stallburschen Sancho P. Seit über 300 Jahren treiben sie in den verstaubten Bücherregalen der klassischen Weltliteratur ihr Unwesen, auf der Suche nach den absurdesten Einfällen und den aussichtslosesten Abenteuern. Viele Lichtjahre von der Realität entfernt, dringen die beiden unfreiwillig komischen Helden in Galaxien vor, um neue Welten und erneuerbare Energien zu erforschen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.“

Zwei altbekannte Helden auf ökologischer Mission

Das Hufgetrappel verstummt. Zwei Personen rücken vor der Kulisse eines Bergkammes ins Blickfeld. Der Größere von Beiden zu Pferde, der Untersetzte auf einem Maultier. In ihren samtenen, dunkelroten Pluderhosen mit den silberglänzenden Brustpanzern sind sie völlig aus der Zeit gefallen.

Sie bringen ihre Vierbeiner zum Stehen. Der schlaksige Anführer hebt zu sprechen an: „Schau mein treuer Gefährte, es ist Zeit, meine Irrtümer einzusehen und meine Fehler einzugestehen. Einst ritt ich in der trockenen Landschaft der Mancha todesmutig gegen die bösewichtigen Riesen an, um sie vom Angesichte der Erde zu vertilgen. Doch ich tat ihnen wahrlich unrecht. Entbrannt in Liebe zu meinem angebeteten Edelweib, waren meine Sinne wohl verwirrt. Ich wollte Deinen, ach so wahren Worten, keinen Glauben schenken. So sehr war ich darauf bedacht, das Herz meiner Geliebten durch eine heldenhafte Tat im Sturm zu erobern. Doch heute steht mir nicht mehr der Sinn danach, mich in ein gefährliches Schlachtengetümmel zu stürzen, um Glück, Ruhm und Ehre zu finden. Nein, heute bin ich um einiges weiser. Dank Dir, mein Freund.

Zukünftig werde ich mich in den Dienst der Wissenschaft stellen. Ich werde mir meine Sporen in den Gefilden des Naturschutzes und der regenerativen Energien verdienen. Es verschafft mir ein erhebendes Gefühl einen nachhaltigen Beitrag für die Unermesslichkeit der Zukunft zu leisten. Ich und du, wir werden die Welt verändern. Viele hundert Jahre lang sah ich den Wald vor lauter Bäumen nicht und dabei sollte schon meine erste Begegnung mit den kraftstrotzenden Riesen unsere Bande schicksalhaft für immer vereinen.“

Landschaft mit Windraedern vom Alto del Perdón aus gesehen

Überblende.
Sodann holt der Sprechende mit einer weiten Armbewegung aus, um den Blick auf die „Riesen“ zu lenken. Die Kamera folgt seiner Bewegung und schwenkt auf einen mit Windrädern gespickten Höhenzug, die Spalier stehen für die braven Helden des 17. Jahrhunderts: Don Quijote und sein Knappe Sancho Pansa.

Scherenschnitt Don Quijote und Sancho Panza

Navarra und die erneuerbaren Energien

Na gut, jetzt ist die Fantasie mit mir durchgegangen, aber so oder ähnlich stelle ich mir das perfekte Drehbuch für einen Werbespot vor, der den Windgeneratoren als Energiequelle der Zukunft zu noch mehr Rückenwind verhilft.
Allerdings muss erwähnt werden, dass Navarra bereits seit Jahren in ganz Europa eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien einnimmt. Beinahe 80% ihres Energiebedarfes deckt die Region aus regenerativen Quellen und dreiviertel davon produzieren die Windgeneratoren. Navarra, eine Autonome Gemeinschaft des Fortschritts, der Visionen, der ökologischen Verantwortung? Ich entdecke eine völlig neue Seite an der kleinen Provinz.

Bisher haben tief verwurzelte Traditionen und streng gläubig praktizierter Katholizismus, angereichert mit reichlich Heiligen- und Märtyrerverehrungen, mein Bild von Navarra geprägt. Dazu dichte Wälder, vereinsamte Dörfer, wunderschöne Kirchen, verfallene Burgen, archaische Riten und eine stolze, tausende Jahre zurückreichende Geschichte.

Doch jetzt nehme ich hier oben, auf dem knapp 1000 Meter hohen Bergkamm der Sierra del Perdón, eine weitere Facette wahr. Ein grünes Bewusstsein, das zukünftig vielleicht auch Konzerne, den Verwaltungsapparat und den einen oder anderen Einwohner sensibilisiert und zum Umdenken anregt?
Keine Frage, es ist schwer alt hergebrachte Gewohnheiten abzulegen. Und wenn es sich nur um den im permanenten Dauereinsatz befindlichen Fernsehapparat in der Eckkneipe handelt. Oder um den laufenden Automotor, während der Besitzer für einen Kaffee und ein kurzes Schwätzchen in der nächstgelegen Bar verschwindet. Aber wenn es im Großen bereits funktioniert, warum dann nicht auch im Kleinen?

Die Parade der Windräder auf dem Alto del Perdón

Vor der Haustüre Pamplonas stehe ich nun Auge in Auge mit den ganz in weiß gehüllten Giganten, umtost von schneidend kalten Böen. Ich fühle mich wie David im Angesicht des ökologischen Goliaths. An einer Perlenkette aneinandergereiht, durchpflügt eine Armee von vierzig schlanken Windgeneratoren mit ihren multiplen raumgreifenden Armen stoisch den navarresischen Himmel.

Windraeder auf der Sierra del Perdón

Die Aussicht ist atemberaubend. Die von der Autovía del Camino untertunnelte Bergkette trennt den grünen Norden Navarras mit den schneebedeckten Pyrenäen, von der in trockenes ockerbraun getauchten Landschaft der Zona Media. Fasziniert von den gegensätzlichen Landstrichen führen mich meine Schritte unentschlossen im Zick-Zack-Kurs zwischen dem Nord- und Südhang des Alto de Perdón, des „Berges der Läuterung“, hin- und her. Dabei kommt mir der einsame Pilger in den Sinn, der auf dem Jakobsweg von Pamplona nach Puente la Reina die Sierra del Perdón überquerte und just an dieser Stelle eine gar wundersame Begegnung hatte.

Landschaft mit Blick auf die schneebedeckten Gipfel der Pyrenaeen vom Alto del Perdón aus gesehen

Der Teufel hat vielerlei Gestalt

Die stetig ansteigende Strecke hatte die letzten Kräfte wie auch Wasservorräte des Pilgers aufgebraucht. Er war kurz davor, ohnmächtig zusammenzubrechen als eine obskure Gestalt im Pilgerumhang erschien. Sie bot sich bereitwillig an, ihm den Weg zu einer nahe gelegenen Quelle zu zeigen. Allerdings nicht aus Nächstenliebe, sondern gegen eine winzige Gegenleistung, nämlich die Seele des Reisenden in Not. Bei diesem unmoralischen Tauschhandel wurde dem armen Mann sofort bewusst, dass er es hier mit dem Teufel in persona zu tun hatte. Vehement lehnte er die angebotene Hilfe ab. Lieber wollte er sterben, als seine Seele dem Teufel zu überlassen. Also musste der Satan ohne erfolgreichen Abschluss seiner Mission von dannen ziehen. Mit einem höhnischen „wir werden uns bald wiedersehen“ ließ er den Pilger zurück.

Die Sonne erlosch langsam über den Bergen, während die Lebensgeister des Pilgers immer schwächer wurden. Er spürte bereits wie der nahende Tod mit eisiger Kälte an seinen Gliedern hochkroch, da näherte sich eine weitere Gestalt in Pilgerkluft. Der Wallfahrer wähnte sich bereits im Delirium, als er von dem Unbekannten aufgehoben und zu besagter Quelle getragen wurde. Der Fremde holte eine Jakobsmuschel hervor und flößte ihm damit das flüssige Labsal ein. Mit jedem Schluck kehrten die Kräfte zurück und der Pilger erkannte, dass ihm der Heilige Jakobus höchstpersönlich zu Hilfe geeilt war. Überschwänglich bedankte er sich bei seinem Retter. Gestärkten Glaubens setzte er seinen Weg nach Santiago de Compostela fort.

Die ewige Pilgergruppe

Der Teufel lässt sich heute nicht blicken. Wahrscheinlich ist ihm die bunt zusammengewürfelte, 14-köpfige Pilgergruppe, der ich auf dem Höhenzug begegne, nicht ganz geheuer. Ganz offensichtlich haben sie sich zufällig zusammengefunden, denn gemeinsam ist ihnen nur das Symbol der Jakobsmuschel auf Umhängen oder Rucksäcken. Ansonsten muten sie wie eine Zeitreise durch die Geschichte der Pilgertradition an. Allen voran, als Tempomacher, ein forsch ausschreitender Einzelkämpfer. In seinem Windschatten folgt ein Wallfahrer mit Pilgerumhang, Stock und Schlapphut. Nur wenige Schritte dahinter ein Pärchen, das sich gemeinsam gegen den auf der Anhöhe tosenden Wind stemmt. Mit Kind und Kegel (sprich Diener, Magd, Packesel und Hund) reisen die nächsten Herrschaften, zu denen ein Edelmann mit Bundhosen, Dreispitz und Zopf Kontakt hält, während, mit einigen Metern Abstand, zwei jugendliche Wallfahrer mit geschulterten Rucksäcken die Nachhut bilden.

Ungeachtet ihrer gesellschaftlichen, Standes- und Altersunterschiede bilden sie eine eingeschworene Gemeinschaft. Man spürt, sie haben sie alle ein festes Ziel vor Augen, dem sie unbeirrbar entgegenstreben – Santiago de Compostela. Aber ihr dynamisch ausholender Schritt, die Haare, Kopftücher und Schals, die im Wind flattern oder ihre Umhänge, die sich durch die dazwischenfahrenden Luftwirbel bauschen, täuschen. Seit seiner Ankunft auf dem Gipfel im Jahr 1996 ist der Pilgerzug nämlich keinen Meter vorangekommen.

Verständlicherweise. Denn das lebensgroße, stählerne Kunstwerk, das auf so gelungene Weise Tradition und Moderne vereint, ist eine Spende der Betreiberfirma des Windparks. Es zollt den Tausenden und Abertausenden Pilgern Respekt, die Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr die Gebirgskette der Läuterung erklimmen.

“Donde se cruza el camino del viento con el de las estrellas”
Wo sich der Weg des Windes mit dem Sternenweg kreuzt

lautet die poetische Inschrift auf dem Pilgerdenkmal. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Pilgermonument auf der Sierra del Perdón mit Windraedern im Hintergrund

Sierra del Perdón (Comunidad Foral de Navarra), Februar 2011

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