Kreisumfang der Marienglocke an der Wand des Suedquerhauses im Strassburger Muenster
Münstergeschichten,  Straßburger Spaziergänge

Der mysteriöse Kreis im Südquerhaus


Würde man die Laufwege der vier Millionen Touristen jährlich im Straßburger Münster grafisch darstellen, wäre das Ergebnis keine Überraschung. Die überwiegende Mehrheit zieht es zuerst ins südliche Querhaus zur berühmten Astronomischen Uhr und dem einmaligen Engelspfeiler. Vielleicht bemerkt der ein oder andere aufmerksame Besucher noch den Mann auf der Balustrade des Sängerchores oder das Wandfresko über der Andreaskapelle. Damit ist dann meistens die Begutachtung des Südquerhauses abgehakt.

Engelspfeiler und Astronomische Uhr im Strassburger Muenster

Wer sich jedoch genau umschaut, erkennt auf der nackten Wand gegenüber der Astronomischen Uhr einen mysteriösen Kreis von beachtlicher Größe eingeritzt. Zwar ist der Kreis heute sowohl auf den ersten, zweiten als auch dritten Blick nicht weiter als eben ein Kreis, dennoch erzählt er uns eine wenig bekannte Geschichte von eitlem Streben und gnadenlosem Scheitern.

Der Glockenwettstreit

70 Jahre lang führte die Totenglocke (Cloche du Saint Esprit) im Straßburger Münster die Rangliste der größten freischwingenden Glocken im Heiligen Römischen Reich an, bevor sie die ruhmreiche Gloriosa im Erfurter Dom 1497 vom Thron stieß. Fortan galt die Glorreiche mit ihren 11 Tonnen Gewicht, einem Durchmesser von 2,56 Metern und mit einer Abklingdauer von dreieinhalb Minuten als Maß aller Dinge in Sachen Glockengießkunst des Mittelalters.

Der Ehrgeiz des Straßburger Münsterstifts war geweckt. 1519 beauftragte man deshalb Jörge Guntheim von Spire (Speyer) mit der Herstellung einer weiteren Glocke für das Münster, die die Gloriosa an Umfang und Klang bei Weitem übertreffen sollte. Unverzüglich richtete der Glockengießer auf dem Fronhof, dem heutigen Schlossplatz, seine Werkstatt samt Ofen ein. Noch im selben Jahr, am 13. Dezember, war das Wunderwerk zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria vollbracht.

Laut einem historischen Bericht aus dem 17. Jahrhundert brachte die neue Glocke 420 Quintal (ca. 21 Tonnen) auf die Waage, also gute 10.000 Kilogramm mehr als die Erfurter Konkurrentin. Auch mit ihrem Durchmesser von 11 Fuß (ca. 3,2 Meter) bei einer Höhe von knapp vier Metern schlug sie die Gloriosa um Längen. Da spielte es keine Rolle, dass für das verwendete Kupfer und Zinn die Stadt mit 1800 Gulden bzw. 1032 Gulden enorm tief in die Taschen des Münsterstifts greifen musste. Ganz zu schweigen von den Extraausgaben für die zwei Klöppel, einen für den Gebrauch im Winter und einen für die wärmere Jahreszeit. Hinzu kamen die großzügigen Spenden der Straßburger Bürger, die die Mutter Gottes mit reichlich Silbermünzen und Goldringen ausstatteten, die miteingeschmolzen, der Glocke einen besonders himmlischen Klang verliehen.

Das kurze Dasein der Marienglocke

Nun hatte Straßburg zwar wieder die Nase vorn auf dem Glockenthron, doch hatte man die Rechnung ohne den Wirt bzw. die Glockenstube im Mittelbau der Westfassade gemacht. Diese musste nämlich weiter ausgebaut und verstärkt werden, um das Schwergewicht aufnehmen zu können. Knappe zwei Jahre später, am 27. August 1521, fand in einer großen Zeremonie die offizielle Weihung der Marienglocke statt, sodass sie anschließend an ihrem Bestimmungsort aufgehängt werden konnte. Wenige Tage später ließ sie anlässlich des Geburtstags der Namenspatronin das erste Mal ihren Glockenschlag vernehmen, der bis ins weite Umland hinein hallte. Sage und schreibe 16 Mann waren von Nöten, um die neu gekrönte Königin aller Glocken in Gang zu setzen.

Allerdings sollte die Freude der Straßburger an ihrer Marienglocke nicht lange anhalten. Nicht einmal vier Monate später ertönte sie bereits zum letzten Mal. Beim Geläut zur Großen Messe am Weihnachtstag 1521 erhielt sie vermutlich durch die enorme Kälte einen irreparablen Riss und verstummte für immer. Erst Jahre später nahm die Dombauhütte die Marienglocke ab und zerschlug sie, um die Einzelteile ressourcenschonend wieder einschmelzen zu können. Nur die beiden Klöppel behielt man vorerst auf. Sie bekamen einen Ehrenplatz im südlichen Querhaus gegenüber der Astronomischen Uhr.

Der Kreis schließt sich – doch unzählige Fragen bleiben 

Mit dem Exkurs in das kurze Erdendasein der legendären Marienglocke schließt sich jetzt sprichwörtlich der Kreis um den mysteriösen Kreis an der äußeren Nordwand der Katharinenkapelle. Er markiert nämlich nichts anderes als den Umfang der einst größten Glocke des Straßburger Liebfrauenmünsters.

Damit ist auch schon alles gesagt, was nur halbwegs einer ernsthaften historischen Überprüfung standhält. Seine Entstehung liegt ebenso sehr im Dunkeln, wie der in Stein geritzte Ring selbst ein sprichwörtliches Schattendasein gegenüber Engelspfeiler und Astronomischer Uhr führt. Das hält mich natürlich nicht davon ab, trotzdem der Frage nachzugehen, warum der Durchmesser des Kreises mit etwa 278 Zentimetern dermaßen eklatant vom überlieferten Zeugnis abweicht. Ein knapper halber Meter ist ja kein vernachlässigbarer Rundungsfehler.

Inschrift an der Wand des Suedquerhauses im Strassburger Muenster

Fakt ist, dass das Kreisrund erst nach 1666 in die Wand eingemeißelt wurde. Also weit über ein Jahrhundert nach dem dramatischen Glockenmalheur. Den Beweis dafür liefert eine entsprechend datierte Inschrift auf der Wand, die vom Kreisbogen geschnitten wird. Hatte man womöglich zum damaligen Zeitpunkt keine genaue Kenntnis mehr des richtigen Glockenumfangs oder war der Steinmetz einfach nur ein rechnerischer Dilettant? Irrte sich gar die historische Quelle in Person des Pfarrers Oseas Schadaeus bezüglich seiner detaillierten Angaben? Existierte eventuell noch eine weitere Glocke, die ein ähnliches Schicksal erfuhr?

Hochmut kommt vor dem Fall

Eine valide Antwort wird sich auf diese Fragen wohl nicht mehr finden. Ebenso bleibt uns überlassen zu spekulieren, wann und warum der Glockenkreis überhaupt angebracht wurde. Mit Sicherheit wäre das Jahr 1681 ein angemessener Anlass gewesen. Das Münster feierte nach 150 Jahren protestantischem Intermezzo wieder die erste katholische Messe. Und das gleich in Anwesenheit des Sonnenkönigs Ludwig XIV., der Straßburg nach zähem Ringen schlussendlich überfallartig endlich seinem Herrschaftsgebiet einverleibt hatte. Hoffte man also mit dem beeindruckenden Glockenkreis, der damals noch die beiden erhalten gebliebenen Klöppel in seiner Mitte enthielt, den Ehrgeiz des prunkliebenden Monarchen für einen zweiten Anlauf in Sachen Marienglocke zu wecken? Falls ja, hat der subtile Hinweis offensichtlich nicht gefruchtet.

 Vielleicht entstand der Kreis auch ganz ohne Hintergedanken, und er war nichts anderes als eine nachträgliche Danksagung für all die freiwilligen und großzügigen Spenderherzen der Marienglocke?

Wie dem auch sei, heute erinnert der leere, ominöse Glockenkreis nur noch an ein allzu menschliches Scheitern. Die Stadtherren wollten sich mit der größten Glocke ein Denkmal setzen, aber unterschätzten dabei die Kräfte der Natur. Schlussendlich standen sie mit leeren Händen da. Hätten sie dagegen mehr Zeit mit dem Bibelstudium zugebracht, wäre ihnen die Lektion aus Sprüche 16,18 „Hochmut kommt vor dem Fall“ erspart geblieben.


Gut zu wissen

Der Mann auf der Balustrade im südlichen Querhaus

Die Irrtümer des Oseas Schadaeus

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