Mensch Rembrandt
Mensch Rembrandt
2019 war ein ereignisreiches Jahr in der Kunstwelt. Medienwirksam zelebrierten Museen auf der ganzen Welt den 350. Todestag des bedeutendsten Barockmalers der Niederlande, über den seine Zeitgenossen äußerst ambivalent urteilten. Die Palette reichte von genial, ehrgeizig, erfolgreich, unbezahlbar, unerreicht bis streitsüchtig, bedauernswert, besessen, überholt und gescheitert.
Dagegen hätte sich uns der Künstler selbst möglicherweise wie folgt vorgestellt:
Name: Rembrandt Harmenszoon van Rijn
Geburtsdatum: 17. Juli 1606
Geburtsort: Leiden, Südholland
Wohnort: Sint Antoniesbreestraat, Amsterdam
Status: verheiratet, verwitwet, in wilder Ehe lebend
Beruf: Maler, Kunsthändler, Lehrmeister
Lebenswerk: 324 Gemälde, 290 Radierungen und etwa 1000 Zeichnungen
Größter Erfolg: Die Nachtwache (1642); 437 cm x 363 cm; Öl auf Leinwand; Rijksmuseum Amsterdam
Vorlieben: Fließband-Produktion von persönlichen Spiegelbildern
Passion: ungezügelte Sammelleidenschaft und Hang zum Orientalischen
Besonderes Kennzeichen: Hell-Dunkel-Faible
Allerdings besaß der Maler, der seinen Vornamen zum Markenzeichen machte, noch wesentlich mehr Facetten. Nicht nur als Künstler, sondern vor allem als Mensch. Doch während seine Werke sowie seine Techniken von den Experten mittlerweile bis ins kleinste Detail studiert, analysiert und bewertet wurden, stand die Person Rembrandts immer im Schatten des übermächtigen Künstlergenius. Und aus eben diesem Schatten möchte der Kunsthistoriker Michael Ladwein mit seinem im Rembrandtjahr erschienen Kunstbuch Mensch Rembrandt den niederländischen Nationalheiligen herausholen.
Auf knapp 200 Seiten nimmt uns der Autor deshalb auf sehr abwechslungsreiche Spaziergänge durch Rembrandts Leben, Wirken und das Goldene Zeitalter der Niederlande mit. Er weiht uns in religiöse Strömungen, gesellschaftliche Entwicklungen und wissenschaftliche Innovationen ein. Dazu bewegen wir uns in elitären niederländischen Kreisen, spüren den Ansprüchen des aufstrebenden Kaufmanns- und Bürgertums nach und unternehmen ausschweifende Ausflüge in die philosophische und geistige Grundhaltung des 17. Jahrhunderts.
Parallel dazu treten wir in Rembrandts biografische Fußstapfen. Angefangen bei seiner Jugendzeit in Leiden über den Umzug nach Amsterdam und den Aufstieg zum berühmtesten Maler des Jahrhunderts bis zum wirtschaftlichen Ruin und tiefen Fall in seinem letzten Lebensdrittel. Kurze Zeiten des privaten Glücks prägten Rembrandts 63 Lebensjahre ebenso wie familiäre Tragödien. Auch gesellschaftlich durchlief er alle Stufen der Erfolgs- und Versagensleiter. Der hochtalentierte Jungkünstler entwickelte sich in kürzester Zeit zum gefeierten Malergenie, bei dem zuerst die Amsterdamer Hautevolee Schlange stand, um porträtiert zu werden, bevor die Gläubiger sie ablösten, um des Malers Schulden einzutreiben. Rembrandts miserable Haushalts- und Finanzwirtschaft sowie sein innerer Widerstand, seine Malkunst dem veränderten Kundengeschmack und Zeitgeist anzupassen, trieben ihn letztendlich in den Ruin. Am 4. Oktober 1669 verstarb er einsam und mittellos.
Zwischen dem Schlingerkurs durch Rembrandts Leben kommen immer wieder Dichter, Historiker, Philosophen, Kunstkritiker, Rembrandtforscher, Malerkollegen, das Alte Testament oder Johann Wolfgang von Goethe zu Wort.
Kapitel für Kapitel dringen wir so immer weiter in den Menschen Rembrandt vor. Aufschlussreiche Bildinterpretationen eröffnen uns neue Blickwinkel auf die Persönlichkeit des Malers. Von selbstbewusst, ja geradezu kämpferisch, über leidenschaftlich bis sensibel und immer wieder selbstreflektierend. Als ob Rembrandt ahnte, dass er als Künstler mit dem virtuosen Umgang von Licht und Schatten bereits seinen Lebensweg als Mensch vorwegnahm.
Im Buch unterwegs
Mensch Rembrandt ist kein gewöhnliches Buch.
Deshalb wird mein Streifzug durch diesen Kunstband ebenfalls ungewöhnlich ausfallen.
In neun chronologisch aufeinander abgestimmten Kapiteln tastet sich der bekennende Rembrandtverehrer Ladwein an den Menschen Rembrandt heran. Je weiter wir uns also mit dem gewaltigen Wissensgepäck des Autors im Buch fortbewegen, desto mehr Masken von Rembrandts Persönlichkeit fallen und desto mehr Erkenntnisse gewinnen wir über den Meistermaler und seine Zeit. Und so habe ich an dieser Stelle die überraschendsten, mitunter auch skurrilsten Buch-Offenbarungen zu Rembrandt und der Welt zusammengetragen.
Kapitel 1 – Frühe Selbsterkundung
- Rembrandt ist mit über 90 Selbstbildnissen der eifrigste Protokollant seines eigenen Lebens und Verfalls.
- Das menschliche Gesicht setzt sich aus zwei vertikalen Teilen zusammen. Der linken, weiblichen Hälfte sollte man bei Selfies den Vorzug geben, wogegen die männliche, rechte Seite die für Bewerbungsfotos gefragte Entschlossenheit hervorkehrt.
Kapitel 2 – Lichtoffenbarung und Aufstieg
- Während sich im 17. Jahrhundert die intellektuelle und künstlerische Elite Europas zur Erweiterung des geistigen Horizonts nach Italien aufmacht, hält dies der junge Rembrandt für reine Zeitverschwendung. Lieber übt er sich als kontemplativer Stubenhocker.
- Kein erfolgreicher niederländischer Geschäftsmann will sich während der wirtschaftlichen Blütezeit mit der Darstellung seelischer Konflikte befassen. Viel wichtiger ist es, allen zu zeigen, wer man ist und was man hat.
Kapitel 3 – Aufbruch in die Weltstadt – im Glanz des Ruhms
- Wer zahlt, wird gemalt.
- Rembrandt outet sich als bibelfester, barocker Händefetischist.
- Sein Haus in der Jodenbreestraat gleicht Ali Babas Räuberhöhle.
- Der französische Naturwissenschaftler Descartes lässt kein gutes Haar an den Amsterdamer Neureichen: „In dieser großen Stadt, wo abgesehen von mir selbst niemand wohnt, der nicht im Handel tätig ist, ist jedermann so auf seinen eigenen Vorteil versessen, dass ich hier mein ganzes Leben zubringen könnte, ohne je einem moralischen Wesen zu begegnen.„(1)
Kapitel 4 – Rembrandts Religion und die aufbrechende Zeit
- Rembrandt bleibt nur sich selbst und dem Alten Testament treu. Ein Drittel seines Werkumfangs setzt sich mit religiösen Themen auseinander, die sich hervorragend als Inspirationsquelle für die Zurschaustellung menschlich-seelischer Zerrissenheit eignen.
- Er lässt sich nicht zum Parteigänger der zahlreichen religiösen und geistigen Strömungen machen.
- Die Bibel ist keine Gebrauchsanweisung fürs Leben.
Kapitel 5 – Die Kehre der Lebensmitte
- Rembrandt gibt sich als Sehnsuchtsmensch zu erkennen. Doch Familie, Harmonie, Wärme und Nächstenliebe entpuppen sich für ihn als langfristig unerreichbar.
- Achtung Mondknoten! Kreative Menschen durchleben alle 18 Jahre und 7 Monate (= Zyklus der Mondknoten) gravierende Veränderungen. Vielen Berühmtheiten wie van Gogh, Raffael, Toulouse-Lautrec oder Rimbaud wurde der zweite Mondknoten zum Verhängnis.
Kapitel 6 – Gefährdung und neue Kraft
- „Rembrandts Leben ist, wie seine Malerei, voll von Halbschatten und dunklen Winkeln.“(2)
- Rembrandt zeigt den Menschen mitunter gewöhnlich, hässlich, abstoßend. Schönmalerei überlässt er anderen. Eine mutige Entscheidung, die sich allerdings nicht auszahlt.
- Auch ein Vorhang kann Tränen trocknen, siehe David spielt die Harfe vor Saul.
Kapitel 7 – Äußerer Abstieg und inneres Leuchten
- Sehen und Erkennen rücken mit fortschreitendem Alter bei Rembrandts Bildern in den Vordergrund. Rembrandt selbst spielt lieber den Vogel Strauß und bleibt weiterhin blind gegenüber seiner finanziellen Schieflage.
- Man kann an Schwalbenkot erblinden. Zumindest sagt dies das Buch Tobit im Altem Testament.
Kapitel 8 – Auf dem tragischen Weg zur Vollendung
- Rembrandt ist und bleibt ein Egoist. Obwohl Hendrijke Stoffels, die Gefährtin seiner zweiten Lebenshälfte, die schönsten und wärmsten Augen der Kunstgeschichte besitzt, verweigert Rembrandt ihr die Heirat aus finanziellen Gründen.
- „Und ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.„(3)
- Achtung Stufenjahre! Jedes siebte Jahr ist mindestens so gefährlich wie ein Mondknoten.
Kapitel 9 – Letzte Blicke
- Rembrandts schöpferische Kraft kennt keine Grenzen. Er malt sich, Rembrandt und wieder sich. Eine malerische Abbitte, als er letztendlich erkennt, als Mensch gescheitert zu sein.
- Die Stufenjahr-Theorie fordert ein weiteres Opfer: Rembrandt verstirbt mit 63 Jahren, also im neunten Stufenjahr seines Lebens.
In Leselaune’s Schlussansichten
Zeitgleich mit dem 350. Todesjahr des Meistermalers des Goldenen Zeitalters wehte durch den lange Zeit verstaubten Rembrandt-Bücherkosmos ein frischer Wind. Ein Ausstellungskatalog jagte den nächsten, Biografien wurden neu aufgelegt, Bildbände erhielten aufwendige Verjüngungskuren. Also viel Altbewährtes in runderneuertem Gewand.
Ganz anders dagegen Mensch Rembrandt des Kunsthistorikers und Religionswissenschaftlers Michael Ladwein. Eine wahrhaftige Neuerscheinung und ungewöhnliche Neuentdeckung. Ein hochwertiges Buch mit auffälligem magenta-cyan-farbigem Coverdruck zu einem Preis, der nicht gleich an des Malers monetären Engpässe erinnert. Doch nicht nur äußerlich hebt sich das im Stuttgarter Urachhaus Verlag erschienene Kunstbuch von den einschlägigen, deutschsprachigen Rembrandt-Druckwerken ab. Auch inhaltlich wird schnell deutlich, dass ich hier kein stereotypes Exemplar in Händen halte.
Mensch Rembrandt möchte uns den hochtalentierten Müllersohn aus Leiden nicht nur als Künstler, sondern vor allem und wie es der Titel impliziert, als Mensch, als Menschenmaler und als Maler des Menschlichen vergegenwärtigen.
Dazu skizziert das Buch in Rückblicken das bewegte Leben des Meistermalers, verschafft uns Einblicke in seine komplizierte Seelenwelt und gewährt Drauf- und Detailblicke auf mehr als 80 treffend ausgewählte Gemälde, Radierungen oder Zeichnungen. Außerdem setzt es für den optimalen Durchblick alle vorgenannten rembrandtschen Mosaiksteine in einen umfassenden religiösen, historischen und geopolitischen Kontext. Und wie es sich für ein Kunstwerk gehört, ist Mensch Rembrandt satt untermalt, ausgiebig gefirnisst und kunstvoll gerahmt mit einer reichhaltigen Zitatensammlung von Philosophen, Dichtern, Zeitgenossen, Kunstkritikern und Rembrandtkoryphäen.
Doch leider ist es genau dieses beeindruckende, geradezu enzyklopädische Autorenwissen, das den Lesefluss ins Straucheln bringt. Aus dem reinen Lesevergnügen wird eine Lesearbeit, denn Michael Ladwein scheut sich nicht, seinen unerschöpflichen Fundus an Zitaten, Querverweisen und Fremdäußerungen wie einen barocken Schaukasten zu präsentieren. Zu oft bleibe ich in den Fußnoten und ausschweifenden Querverweisen im Buchanhang hängen. 137 Mal, um genau zu sein. Weniger fremde Worte, weniger (geklammerte) Einschübe und mehr von der ganz persönlichen Betrachtungsweise Ladweins in seiner leichtfüßigen Sprachgewandtheit und ich hätte noch mehr Freude an diesem Kunstbuch gehabt.
Doch nun zur maßgeblichen Frage. Bin ich als Leser dem Menschen Rembrandt nähergekommen?
Der Buchtitel weckt eine gezielte Erwartungshaltung, nämlich die Auseinandersetzung mit der berühmtesten Malerikone der Niederlande als Seelenmensch und Privatperson sowie als öffentlicher Mensch und Künstler. Letzteres gelingt dem Buch von Michael Ladwein auf beachtliche Weise. Anhand zahlreicher Abbildungen lernen wir Rembrandt als hochkreative Persönlichkeit mit einer außergewöhnlichen thematischen, stilistischen und technischen Bandbreite kennen.
Auch zur Entschlüsselung seines komplexen Seelenwesens zieht der Autor das Oeuvre des Meisters, darunter bevorzugt dessen Selbstporträts, heran. Als Dechiffriercode dienen ihm dabei Gestik, Mimik und vor allem die Augen, Rembrandts Spiegel der Seele. Aber ist die Person auf den Bildern tatsächlich der „ganze“ Mensch hinter den Bildern? Eine Zeichnung, ein Gemälde oder eine Radierung offenbart uns nur das, was der Künstler uns zeigen möchte. Alles andere bleibt Spekulation. Insofern bleibt mir der Mensch Rembrandt, der zeitlebens in keine Schublade passte und nur einen, und zwar seinen eigenen, ehrgeizigen Weg verfolgte, weiterhin ein Rätsel.
Dennoch empfinde ich die Lektüre von Mensch Rembrandt als enorm bereichernd.
Das Buch liefert in einer tadellosen Aufmachung einen enormen Input zu den vielschichtigen historischen, religiösen und geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen des 17. Jahrhunderts. Gleichzeitig setzt es neue Impulse, Rembrandts Werke aus einem anderen geistigen und seelischen Blickwinkel zu betrachten. Und zu guter Letzt enthält es die entscheidende Erkenntnis, um mit der glühenden Verehrung van Goghs für seinen Landsmann Rembrandt zu sprechen: „Man muss mehrere Male gestorben sein, um so zu malen.“(4)
Mensch Rembrandt
Autor: Michael Ladwein
Verlag: Urachhaus GmbH, Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2019; 1. Auflage
Ausgabe: Gebunden
Umfang: 208 Seiten mit ca. 80 Farbabbildungen
ISBN: 978-3-8251-5192-8
Preis: 29,00 €
(1) Zitat Mensch Rembrandt S.28 aus Leo Delfos; Kulturgeschichte von Niederland und Belgien
(2) Zitat Mensch Rembrandt s. 104 aus Eugène Fromentin; Les mâitres d’autrefois
(3) Zitat Mensch Rembrandt S. 155 von Michael Ladwein
(4) Zitat Mensch Rembrandt S. 172 aus Vincent van Gogh; Sämtliche Briefe
Das Cover sowie alle Buchabbildungen sind Eigentum des Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart.
Die Buchvorstellung ist unbezahlt und unbeauftragt. Das Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Meine Schlussansichten bleiben davon unbeeinflusst.