Gemaelde Madonna des Kanonikus Joris van der Paele von Jan van Eyck
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Brügge – Kunstmuseum Groeninge


Über acht Millionen Touristen aus aller Welt schieben sich jährlich durch die kopfsteingepflasterten Gassen der Brügger Altstadt. Viele kommen wegen des malerischen mittelalterlichen Stadtbildes, das seit dem Jahr 2000 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Andere wiederum huldigen hier ausschließlich und in aller Ausführlichkeit den belgischen Kult-Grundnahrungsmitteln Bier und Fritten oder begeben sich auf die Suche nach den exquisitesten Pralinen.

Und dann gibt es noch die „Brügge sehen und sterben“-Touristen. Die Originalschauplätze des US-amerikanischen Spielfilms stehen auch zehn Jahre nach Kinostart noch immer hoch im Kurs. Hauptattraktion ist natürlich der 83 Meter hohe Belfried, aber auch das Museum Groeninge, das eine der bedeutendsten Gemäldesammlungen in ganz Belgien beherbergt, gehört dazu.

Belfried in Bruegge

Insgesamt 14 Museen laden in der mittelalterlichen Stadt auf einen Erkundungsgang durch die Kunst- und Kulturgeschichte Belgiens ein. Ein klares Ausrufezeichen, dass Brügge mehr als nur Massentourismus kann. Die Perle Westflanderns kann auch in Kunst. Und wie! Die Sammlung Groeninge ist das beste Beispiel hierfür.

Über 150 Werke, verteilt auf 15 Ausstellungsräume, nehmen seit Eröffnung der Dauerausstellung im Jahre 1929, den Besucher mit auf eine 600-jährige Zeitreise durch die flämische Kunstgeschichte. Von den bekannten Malern des Spätmittelalters und der Renaissance geht es über die strengen Neoklassizisten weiter zu den farbgewaltigen Expressionisten bis hin zu den rätselhaften Surrealisten des 20. Jahrhunderts.

Der Schwerpunkt der Sammlung liegt jedoch eindeutig auf den berühmten Flämischen Primitiven, die ab Mitte des 15. Jahrhunderts den Malstil und Kunstgeschmack in ganz Europa maßgeblich mitgeprägten. 

Die flämischen Primitiven

Reiche Mäzene bedeuteten das A und O für den materiellen Erfolg eines Künstlers. Insofern waren Königs- und Fürstenhöfe sowie der höhere Klerus die begehrtesten Auftraggeber. Mit Zunahme des internationalen Handels im ausgehenden Mittelalter und dem damit verbundenen Aufstieg der bürgerlich-kaufmännischen Mittelschicht kristallisierte sich für die Künstler ein weiterer finanzkräftiger Wirkungskreis heraus.

Mit den neuen, weltlichen Potentaten veränderte sich auch die Themenwahl der Bilder. Neben religiösen und allegorischen Motiven wurden Porträts immer gefragter. Doch im Gegensatz zur idealisierenden Renaissance in Südeuropa, entwickelte sich im Einflussbereich des Herzogtums Burgund zwischen der Mitte des 15. bis Mitte des 16. Jahrhunderts eine gänzlich andere Schule und Stilrichtung, nämlich die der flämischen Primitiven.

Namhafte Maler wie Jan van Eyck, Rogier van der Weyden, Hans Memling oder Robert Campin zählten zu ihren berühmtesten Vertretern. Das Attribut „primitiv“ konnte sich demnach keinesfalls auf die Ausführung oder Qualität der Arbeiten beziehen. Die irreführende Bezeichnung charakterisierte vielmehr den besonderen Malstil dieser Künstler. Ölfarben lösten die wässrigen Tempura- und Leimfarben ab. Es ergaben sich völlig neue Möglichkeiten der Darstellung. Realismus und Naturalismus waren angesagt. Man malte, was man sah. Ungeschminkt und ungeschönt, aber authentisch.

Meine persönlichen Highlights im Museum Groeninge

Das Museum Groeninge ist ein kleines, aber feines Kunstmuseum. Zweifelsohne hält es keinen Vergleich mit den Sammlungen der Schönen Künste in den Nachbarstädten Gent, Brüssel oder Antwerpen stand, dennoch verbirgt sich hinter seinen Mauern das ein oder andere Juwel aus einem halben Jahrtausend flämischer Malerei. Und es ist definitiv ein wohltuendes Kontrastprogramm, um dem hektischen Touristentreiben auf den engen Gassen, Plätzen und Kanälen für mehrere Stunden zu entfliehen.

Um Eure Neugier und Lust auf einen Museumsbesuchs zu wecken, möchte ich Euch einige Werke näher vorstellen. Manche stammen von berühmten, manche von weniger bekannten Künstlern. Es sind sowohl streitbare Motive als auch schlichte Porträts als Spiegel der flämischen Zeit- und Kulturgeschichte dabei.  Zugegebenermaßen habe ich die mitunter nicht zu deutenden Werke der Neuzeit außen vor gelassen. Sie sind einfach nicht „mein Ding“. Deshalb darf die von mir getroffene Auswahl definitiv nicht als repräsentativer Querschnitt durch das Museum verstanden werden. Sie spiegelt ausschließlich meinen subjektiven Kunstgeschmack wieder.

Hier sind nun meine ganz persönlichen Favoriten :

Jan van Eyck
Madonna des Kanonikus Joris van der Paele, 1434 – 1436, Öl auf Eiche

Joris van der Paele ist 64 Jahre alt, als er dieses Stiftergemälde bei Jan van Eyck in Auftrag gibt. Das irdische Leben hatte es bis dato gut mit ihm gemeint, doch die Vorboten des Alters waren nicht mehr zu ignorieren. Ohne Nasenquetscher kann er nicht mehr in seinem Brevier lesen, die Gelenke schmerzen, seine Hände verwandeln sich in arthritische Klauen und zu allem Übel befällt ihn von Zeit zu Zeit ein leichtes Zittern. Es ist an der Zeit, sich mit der eigenen Sterblichkeit und der Aufnahme ins Himmelreich auseinanderzusetzen. „Bestimmt wäre ein Altarbildnis zu Ehren der Heiligen Jungfrau eine gute Investition für den Einlass ins Paradies“, mag van Paele nicht ganz ohne Hintergedanken gedacht haben, denn gleichzeitig konnte er sich damit ein Denkmal für die Ewigkeit setzen.

Van Paele war ein wohlhabender Mann der Kirche. 1370 in Brügge geboren, machte er in Rom Karriere als Schreiber des Papstes. Nach Brügge zurückgekehrt, wurde er zum Kanonikus der Stiftskirche St. Donatian berufen. Als Hirte über mehrere Pfarreien, bezog er weiterhin ein beträchtliches Einkommen. Er konnte es sich also leisten, den angesehensten Maler der Stadt zur Anfertigung dieses 124,5 x 160 cm großen Bildes zu engagieren.

Madonna des Kanonikus Joris van der Paele von Jan Eyck; Gemaelde im Museum Groeninge in Bruegge

1434 setzte van Eyck den ersten Pinselstrich, erst zwei Jahre später war das Werk vollendet, doch das Warten hatte sich für den Stifter gelohnt. Das Bildnis der Madonna des Kanonikus Joris van der Paele zählt, neben dem Genter Altar, bis heute zu den Meisterwerken Jan van Eycks. Die Architektur des Gemäldes ist perfekt harmonisch, die Ikonographie mehr als reichhaltig, die Personen lebensecht, die Stoffe und Muster präzise, das Dekor fein ausgearbeitet, der Hintergrund in dezenten Dunkeltönen gehalten, während die Protagonisten in kräftigen Farben erstrahlen.
Besser geht es kaum.

Die Hauptakteure

Der heilige Georg

Der heilige Georg rechts im Bild verkörpert vermutlich all das, was sein Namensvetter, der Kanonikus Joris (= Georg) in seinem Leben nie war und auch nicht mehr sein wird: ein edler, tapferer Ritter, Nothelfer, Märtyrer, Drachentöter und Multi-Schutzpatron. Hilfsbereit gibt er dem alten Mann Halt und Rückendeckung, während er gleichzeitig ehrfurchtsvoll seinen Helm vor der Jungfrau zieht und ihre Aufmerksamkeit auf van der Paele lenkt.

Apropos Aufmerksamkeit: Wer ganz genau hinschaut, kann im umgehängten Schild des Heiligen Georg eine menschliche Figur in blauem Umhang und rotem Chaperon ausmachen. Man vermutet, dass sich hier der Künstler selbst als Spiegelung verewigt hat.

Joris van der Paele

Der Kanonikus, Joris van der Paele, ist Stifter und Protagonist in einem. Auf Fürsprache vor der Himmelspforte hoffend, kniet er im schlichten weißen Chorhemd vor der Jungfrau Maria mit Kind nieder. Alter und Krankheit haben ihre Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen. Sein Blick ist müde, die Schläfenarterien treten hervor, Tränensäcke haben sich unter den Augen gebildet, Krähenfüße tiefe Furchen in die faltig-schlaffe Gesichtshaut gegraben und das schwabbelige Doppelkinn deutet verräterisch auf ein wenig asketisches Leben hin. Van Eyck ist schonungslos. Er lässt kein Merkmal der menschlichen Unzulänglichkeit und Fehlbarkeit aus.

Der Heilige Donatian

Der Heilige Donatian am linken Bildrand gehört als Schutzheiliger der Kathedrale, in der der Kanonikus sein Amt erfüllt, sozusagen zum Inventar. Um der Armknochen-Reliquie des Heiligen einen würdevollen Rahmen zu geben, erbaute man im 10. Jahrhundert die Kathedrale, die jedoch 800 Jahre später einstürzte. Heute ist der Reliquienschrein, der immer noch sehr große Verehrung erfährt, in der St. Salvator Kirche untergebracht.
Der Heilige hält als Erkennungszeichen ein Holzrad mit fünf brennenden Kerzen in der Hand, das ihn als kleines Kind vor dem Ertrinken gerettet haben soll. Sein Talar, seine Mitra und das Prozessionskreuz sind standesgemäß für einen katholischen Bischof nur aus den edelsten Materialien gefertigt. Trotzdem ist er (wie vieles in der katholischen Kirche) nicht mehr als Blendwerk und glitzernde Staffage.

Der Papagei und die Madonna mit Kind

Grün ist die symbolische Farbe der Engel und grün ist auch der Papagei, der zwischen dem Jesuskind und Maria Platz genommen hat. Engelsgleich kann er in die Lüfte emporsteigen und den richtigen Weg ins Paradies weisen. Mit kräftigen Flügelschlägen und dem spitzen Schnabel vermag er allerdings auch Feinde und damit das Böse von seinem Nachwuchs fernzuhalten, Deshalb verkörpert er in der christlichen Ikonographie auch die mütterliche Fürsorge.

Selbstverständlich wäre da auch noch die Madonna mit Kind, aber beide Figuren bedürfen keiner Erklärung. Obwohl die Jungfrau thematisch als auch räumlich im Vordergrund steht, sind meines Erachtens der Heilige Georg und Joris van der Paele die eigentlichen Hauptdarsteller des Gemäldes. Sie könnten gegensätzlicher nicht sein. Auf der einen Seite in prachtvoller Rüstung die Jugend, Schönheit, Unbekümmertheit, auf der anderen Seite im einfachen Chorhemd das Alter, die Hässlichkeit und Seriosität.

Das Meisterwerk der Meisterwerke

Die Madonna des Kanonikus Joris van der Paele ist wahrlich ein Opus der Beobachtungsgabe und detailgetreuen Wiedergabe.
Am liebsten möchte ich an Ort und Stelle meine Schuhe ausziehen und barfuß über den bunt gemusterten Teppich laufen, um seine Plüschigkeit zu spüren. Gleichzeitig juckt es mich in den Fingern, zur Schere zu greifen, um die ausgefransten Teppichränder abzuschneiden. Selbst die durch das Podest hervorgerufenen Knicke in der Webung hat Jan van Eyck realistisch wiedergegeben.

In der Rüstung des Heiligen Georg spiegelt sich jeder Lichtreflex, alle Glieder des Kettenhemdes sitzen exakt an ihrem Platz und die Edelstein besetzte Mitra des Bischofs von Reims strahlt mit den Goldfäden seines Umhangs um die Wette. Verstohlen blicke ich mich um und betrachte die Reaktionen der anderen Ausstellungsbesucher. Haben sie das metallische Klirren der Rüstung des edlen Georg, als dieser mit angewinkeltem Arm den Kanonikus der Jungfrau Maria vorstellt, auch gehört?

Bevor mich das Gemälde zu weiteren verhaltensauffälligen Aktionen animiert, gehe ich jetzt mal lieber weiter.

So gut ich es vermag

Jan van Eyck war das Aushängeschild der flämischen Primitiven. Doch trotz seines Berühmtheitsgrades liest sich seine Biographie wie ein Schweizer Käse. Nur ganz wenige Eckdaten seines Leben sind sicher überliefert. So wurde er etwa um 1390 geboren und verstarb als wohlhabender Mann und Vater von zwei noch minderjährigen Kindern im Jahr 1441 in Brügge.
1425 trat er als Hof- und Porträtmaler in die Dienste des Herzogs von Burgund, der zu dieser Zeit im französischen Lille residierte. Der etwas jüngere Herzog Philipp der Gute schätzte nicht nur die künstlerischen Qualitäten Jan van Eycks, sondern auch seine Bildung, Integrität und Vertrauenswürdigkeit. In kürzester Zeit avancierte der Maler zum persönlichen Kammerdiener und Diplomaten. Seine politischen Geheimmissionen, die ihm Zugang zu zahlreichen europäischen Fürsten- und Königshäusern verschafften, nutzte er gleichzeitig als Bildungsreisen und studierte ausgiebig die fremdländischen Dekors, Mode, Kleidung, Stoffe und Schnitte.

Statue Jan van Eyck in Bruegge

Nachdem Philipp der Gute seinen Hof nach Brügge verlegte, wurde auch Jan van Eyck in der Grachtenstadt sesshaft. Endlich konnte er sich bevorzugt der Malerei widmen und eine Familie gründen. 1432 heiratete er seine Frau Margarete und alsbald stellte sich der erste Nachwuchs ein. Kein geringer als der Herzog von Burgund selbst stellte sich für das erstgeborene Kind als Taufpate zur Verfügung.

Jan van Eyck revolutionierte die flämische Malerei in Technik und Stil. Sein Lebensmotto „als ich can“ – „so gut ich es vermag“ wurde zu seinem Markenzeichen. Er perfektionierte die Mischung als auch den Auftrag der noch wenig gebräuchlichen Ölfarben. Daneben legte er in seinen Werken eine Detailversessenheit an den Tag, die seinesgleichen suchte. Allerdings betrieb er dabei keine Schönmalerei, Auftragsarbeit hin oder her.

Jan van Eyck
Porträt von Margareta van Eyck, 1439 , Öl auf Holz

„Mein Mann Johannes hat mich im Jahr 1439 am 17. Juni fertig gestellt. Ich war 33 Jahre alt“, so lautet die Inschrift auf dem Rahmen des Porträts, bei dem es sich um das erste gesicherte Bildnis einer Malergattin überhaupt und zugleich um eines der letzten Werke Jan van Eycks handelt.
Obwohl es nicht viel größer als ein DIN A4-Blatt ist, sticht es mir in der Ausstellung durch den starken Hell-Dunkel-Kontrast sofort ins Auge. Das cremefarbene Haartuch mit dem gekonnten Faltenwurf hebt sich auffallend von dem schwarzen Hintergrund und dem intensiv purpurroten Farbauftrag des Umhangs ab.

Diesem Blick entgeht nichts

Ich habe ein sehr konzentriertes Porträt vor mir. Es lebt von den intensiven Farben und tötet durch den durchdringenden Blick der Malergattin.
Leider ist nicht bekannt, in welchem Verhältnis Jan van Eyck zu seiner Frau Margareta stand. War es besonders innig oder eher pragmatischer Art? Auch der Anlass des Gemäldes bleibt für uns im Dunkeln. Handelte es sich um ein zeitloses Geschenk des wesentlichen älteren Malers an seine jüngere Frau (denn zumindest das verrät uns die Beschriftung auf dem Rahmen) oder wollte er ihr etwas ganz Persönliches hinterlassen?

Portraet Margareta van Eyck von Jan an Eyck

Fakt ist, dass das Porträt sicherlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht war. Dann hätte Jan van Eyck seine Frau bestimmt in einem besseren Licht dargestellt. So malte er sie, wie er sie sah. Ein dominantes, blasses Gesicht mit verkniffenem Mund und leichtem Silberblick auf einem eher schmächtigen Körper mit ausgeprägter Wespentaille.

Das Porträt lässt sehr viel Raum für Spekulationen und das liebe ich.
Die Eycksche Familie war wohlhabend, aber warum trägt Margareta bis auf den Ehering keinen Schmuck? Entspricht das zu Kegeln hochgesteckte Haar tatsächlich der damaligen Mode oder haben die Hörner einen symbolischen Charakter? Warum zaubert der Maler seiner Frau kein Lächeln ins Gesicht und setzt uns stattdessen dem vorwurfsvollen Blick ihrer stahlblauen Augen aus? Ist der tiefschwarze Hintergrund nur Stilmittel oder ein Blick in die Abgründe einer Seelen- und Gefühlswelt?

Neben den unzähligen, ungeklärten Fragen, war ich besonders von der Stofflichkeit der Kleidung angetan. Am Liebesten hätte ich mir das Bild unter den Arm geklemmt und beim nächstbesten Schneider einen Mantel in eben diesem dickflauschigen, roten Wollstoff bestellt (selbstverständlich ohne den Besatz aus Eichhörnchenfell).

Hieronymus Bosch
Das Jüngste Gericht, ca. 1550, Öl auf Holz

Hieronymus Bosch gehört zu meinen absoluten Lieblingsmalern. Da ich bisher nur die fotografischen Reproduktionen seiner Werke aus dem Jheronimus Bosch Art Center in ’s-Hertogenbosch kannte, war ich schon ganz gespannt darauf, endlich ein Original zu Gesicht zu bekommen.

Boschs Kopfkino

Jheronimus Bosch, wie er sich selbst nannte, entstammte einer anerkannten Malerfamilie, der Van Aken. Er wurde um 1450 in ’s-Hertogenbosch in Nordbrabant geboren und verstarb dort 1516. Schon zu Lebzeiten war er ein anerkannter und wohlhabender Künstler. Er erhielt über die Ländergrenzen hinaus Aufträge von Königen, Herzögen, Grafen, reichen Bürgern, wie auch von Seiten der Kirche. Sein Renommee verschaffte ihm sogar Zugang in den exklusiven Zirkel der Liebfrauenbruderschaft, der er auch zeitweise vorsaß. Obwohl er seine Heimatstadt wohl kein einziges Mal verließ, sind seine Werke heute über die ganze Welt verstreut.

Bosch war definitiv der Exzentriker unter den Malern seiner Epoche. Seine Bilder lassen sich in keine Schublade ein-, keiner Stilrichtung zuordnen. Nichts, aber auch gar nichts haben sie gemein mit den Werken von Michelangelo, Raffael oder Boticelli, die im Vergleich zu Bosch geradezu bieder-brav daherkommen. Wäre Bosch wie seine Zeitgenossen gereist, könnten wir heute mit Sicherheit nicht diese einzigartigen Himmel- und Hölle-Bilder, die seinem phantasievollen Kopfkino entsprungen sind, bewundern. Wahrscheinlich wäre er dann nur ein weiterer Maler der idealisierenden Renaissance.

Das im Museum Groeninge ausgestellte Triptychon „Das Jüngste Gericht“ fand erst vor drei Jahren eine durch detaillierte Analysen gestützte und von Kunstexperten bestätigte Zuordnung zu den nur etwas mehr als 20 erhaltenen Gemälden Boschs.

Im Mittelstück entscheidet der über dem irdischen Sodom und Gomorrha schwebende Weltenrichter in welche Richtung es für die Bittsteller nach deren Tod gehen wird. Entweder auf den linken Flügel ins Paradies oder rechterhand in die Hölle. Mein besonderes Augenmerk gehört der mittleren Szenerie, dem irdischen Leben. Allerdings sucht man hier vergeblich nach dem Guten. Die dunkle Landschaft ist ein einziger Sündenpfuhl. Chaos, Anarchie, Gewalt und alle Todsünden geben sich hier die Klinke in die Hand.

Das Juengste Gericht; Triptychon von Hieronymus Bosch im Museum Groeninge in Bruegge

Ein Tummelplatz abartiger Verfehlungen, grotesker Gestalten, irrwitziger Handlungen

Detail aus Das Juengste Gericht von Hieronymus Bosch im Museum Groeninge in Bruegge

Auf dem Meer, dem offensichtlichen Vorhof zur Hölle, ist ein als Walfisch getarntes Boot des Teufels auf Seelenfang. Und zweifellos wird der Fang reichlich sein, denn darunter hat die Todsünde Wollust Hochkonjunktur. Nackte Gestalten tanzen um eine Sackpfeife, eine junge Dirn vergnügt sich mit einem Geistlichen, eine Kupplerin lockt mehrere unbekleidete Männer in ihren als Bordel dienenden Krug. Dazwischen geben skurrile Monster, bösartige Kopffüßler, aberwitzige Dämonen, vierbeinige Trichtermenschen, zwielichtige Gesellen, zweibeinige Kreuzungen zwischen Reptil, Mensch, Insekt und Echse einen tiefen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele.

Völlig verängstigt versuchen zwei Personen den Häschern des Teufels auf einer überdimensionalen Holzpantine mit gesetztem Segel zu entkommen. Dabei gehen bzw. schlittern sie über Leichen. Weit kommen werden sie eh nicht, denn am gegenüber liegenden Ufer des dunklen Teiches erwartet sie der Chefkoch der Höllenküche, der ein teuflisches Vergnügen daran hat, seine Opfer am Spieß zu braten, mit heißem Öl zu übergießen und anschließend als Räucherfleisch aufzuhängen.

Doch dies scheint noch nicht die schlimmste Folter zu sein. Auf der gesamtem Mitteltafel wird in allen erdenklichen Varianten gemartert: die Unglückseligen werden erhängt, aufgespießt, durch einen Mühlstein zerquetscht, gerädert, gefressen oder kopfüber als Glockenschlegel aufgehängt; die Aufzählung ließe sich unendlich fortsetzen.

Vor den Gemälden von Hieronymus Bosch könnte man Tage und Nächte verbringen. Man hat nie Alles gesehen. In jedem Detail, jeder Szene steckt noch ein Detail, noch ein Symbol. Ich bin mir sicher, dass ich beim nächsten Besuch weitere verrückte Hirngespinste auf dem Bildnis entdecken werde. Dann komme ich aber bestimmt mit Schlafsack und Lupe, denn das Triptychon ist mit 148 x 111 cm nämlich überraschend klein.

Um die Zeit bis zum nächsten Besuch zu überbrücken, konnte ich dem im Shop zum Verkauf angebotenen Puzzle nicht widerstehen.

Gerard David
Das Urteil des Cambyses und die Schindung des Sisamnes, 1498, Öl auf Holz

Gerard David wurde wahrscheinlich 1460 in der Nähe von Gouda geboren, zog aber schon als junger Mann in die Künstlerhochburg Brügge, um seinen Traum von einer Karriere als Maler verwirklichen zu können. Wie sein Mentor Hans Memling, besaß David ein ausgeprägtes Faible für religiöse Themen und ganz besonders für Madonnen-Darstellungen. Offensichtlich traf er damit sehr erfolgreich den Geschmack und Zeitgeist seiner Auftraggeber.

Der offizielle Stadtmaler von Brügge

Dem Beitritt zur 1484 Malergilde, folgte schon bald die Eröffnung einer eigenen Werkstatt, und zehn Jahre später die Ernennung zum offiziellen Stadtmaler. Doch David war nicht nur ein gefragter Künstler, sondern auch ein kluger Kaufmann. Als der wirtschaftliche Stern Brügges zu sinken begann, schrieb sich David zu Beginn des 16. Jahrhunderts als Mitglied der Malerzunft in Antwerpen ein. Somit konnte er im aufstrebenden Wirtschaftszentrum Flanderns eine zweite florierende Werkstatt eröffnen. Trotzdem blieb Gerard David seiner Wahlheimat Brügge, bis zu seinem Tod im Jahr 1523, treu.

Obwohl Gerard David zu Lebzeiten ein angesehener Maler war, geriet er im 17. Jahrhundert in völlige Vergessenheit. Erst 200 Jahre später wurde er als flämischer Primitiver wiederentdeckt. Seither kann man seine Bilder nicht nur auf einheimischem Terrain, sondern auch in den großen Kunstmuseen der Welt, wie der National Gallery in London, dem Louvre in Paris oder dem MET in New York bewundern. 

Kunst als Mittel der Abschreckung 

Bilder waren schon immer die Sprache des Volkes.
Bereits im frühen Mittelalter schärfte die Kirche in ihren Gotteshäusern mit bildgewaltigen Darstellungen von Paradies und Hölle ihren Schäflein den Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Tugend und Sünde ein. Später, als die ersten Städte entstanden und das Rathaus zum Ort der Rechtsprechung wurde, führte man diesen visuellen Bildungsauftrag am Volke fort.

So war es gang und gebe, dass die Gerichtssäle mit Szenen des Jüngsten Gerichts oder historisch-allegorischen Gleichnissen zur Rechtsprechung ausgeschmückt waren. Dabei gab es keine Regeln zur Einhaltung des guten Geschmacks. Je dramatischer die Darstellung, desto abschreckender die Wirkung. Dies galt sowohl für die Delinquenten auf der Anklage- als auch für die Richter auf der Richterbank. Die einen sollten zu Reue und Rechtschaffenheit ermahnt werden, die anderen zu Gerechtigkeit und Einhaltung des Berufsethos. Versagte die irdische Rechtsprechung, würde spätestens der himmlische Richter für die gerechte Strafe sorgen.

1498 erhielt der offizielle Brügger Stadtmaler, Gerard David, den Auftrag zur Anfertigung einer sogenannten Gerechtigkeitstafel. Als Motiv für sein zweiteiliges Gemälde wählte er eine Erzählung aus vorchristlicher Zeit, die vom griechischen Geschichtsschreiber Herodot überliefert wurde. Eine überraschende, mutige und ungewöhnliche Wahl, denn der Bösewicht der Geschichte ist keiner der üblichen Verdächtigen aus dem gemeinen Volke. Vielmehr geht es um ein moralisches Verbrechen unter dem Deckmantel des Talars, um Amtsmissbrauch und Korruption an höchstrichterlicher Stelle.

Das Urteil des Cambyses

Das großformatige Gemälde des „Meester gheraet van brugghe“, wie Gerard David auch genannt wurde, ist als Diptychon angelegt. Jedes Bild erzählt zwei Geschichten, wobei sich die zentrale Handlung im Vordergrund abspielt, während Prolog bzw. Epilog im jeweiligen Bildhintergrund dargestellt werden. Um den Bezug zur (damaligen) Gegenwart herzustellen, tauschte der Brügger Maler die Kulissen, Kostüme und Requisiten aus dem 6. Jahrhundert vor Christus gegen ein authentisches spätmittelalterliches Bühnenbild und Ambiente.

Auf der ersten Bildtafel betritt König Cambyses mit zahlreichem Gefolge und einem Büttel an seiner Seite die Bühne des Verbrechens, eine offene Halle, unter deren Dach der königliche Richter Sisamnes normalerweise Recht spricht. Allerdings hat sich Sisamnes bestechen lassen (diese Szene ist im Hintergrund sehen), wodurch Verbrecher ihrer gerechten Strafe entkamen und Unschuldige verurteilt wurden.

An einer Hand zählt der König die Verfehlungen auf, deren der völlig überrumpelte Richter angeklagt ist. Dessen betretener Gesichtsausdruck ist ein einziges Schuldeingeständnis. Das Urteil des Königs ist unbarmherzig und grausam: Enthäutung bei lebendigem Leib.

Die umstehenden Personen reagieren überwiegend gleichgültig oder mit einem Blick der Verachtung. Keiner scheint über die Härte des Urteils erschüttert zu sein. Einzig der ältere Herr direkt hinter dem König bemitleidet den Verurteilten. Bilde ich mir nur ein, dass sich ihre Gesichtszüge ähneln? Sind sie etwa verwandt miteinander?

Nichts für schwache Gemüter

Auf dem zweiten Teil des Gemäldes (die Schindung des Sisamnes) wohnt der Betrachter live der Vollstreckung des Urteils bei. Die Enthäutung findet zwar im öffentlichen Raum, statt, ist jedoch kein groß angelegtes Spektakel. Nur der König, dessen Blick anteilslos in die Ferne gerichtet ist, und seine engsten Vertrauten oder Ratsherren dienen als Zeugen der Dauerfolter. Frauen, Kinder oder der Pöbel sind außen vor.

Der verurteilte Richter lebt noch. Die Tortur hat gerade erst begonnen. Nur mit einem Lendentuch bekleidet, wurde Sisamnes auf der Folterbank festgebunden. Die fünf Folterknechte verrichten emotionslos ihr Tagwerk. Während die einen gekonnt die Schnitte an Armen und am Brustkorb ansetzen, zieht ein anderer bereits, das Messer zwischen den Zähnen, die Haut am geöffneten Bein ab.

Doch damit der Grausamkeit noch nicht genug. Der König ist sich sicher, dass nach einigen Wochen oder Monaten der korrupte Richter Geschichte wäre. Dauerhafte Abschreckung funktioniert nur über Psychologie. Und so findet der barbarische Urteilsspruch in der Hintergrundszene seine makabre Fortsetzung. Otanes, der Sohn des korrupten Richters, ist in seiner Berufswahl seinem Vater nachgefolgt. Ob er will oder nicht, muss er auf dem Richterstuhl seines Vaters Platz nehmen, der zur allgegenwärtigen Mahnung, mit dessen abgezogener Haut bespannt wurde.

Eine ehrliche, brutale Bildsprache

An diesem Gerechtigkeitsbild hat mich weniger die künstlerische Ausführung, als vielmehr die mutige Themenwahl des Malers fasziniert. Gerard David verzichtete bewusst darauf, sich des Klischees eines einfachen, bildungslosen Mannes als Verbrecher zu bedienen, der zur Strafe in der Hölle schmoren muss. Stattdessen scheute er sich nicht die Integrität hoch angesehener Personen öffentlich in Frage und die menschliche Schwäche an den Pranger zu stellen. 
Sein Bild spricht eine deutliche, eine brutale Sprache: Habgier kennt keine Standesunterschiede und Korruption ist kein Kavaliersdelikt!

Pieter Pourbus
Porträts von Jan van Eyewerve und Jacquemyne Buuck, 1551, Öl auf Eiche

Der letzte flämische Primitive, wie der 1523 in Gouda geborene und 1584 in Brügge verstorbene Künstler gerne bezeichnet wird, besaß ein breites Schaffens- und Themenspektrum. Mit seinem ausgeprägten Talent zur Detailgenauigkeit war er als Landvermesser und Kartenzeichner ebenso gefragt wie als Porträtmaler.
Von den zwanzig Werken von Pieter Pourbus, die das Museum Groeninge sein Eigen nennen kann, ist das Halbfiguren-Porträt von Jan van Eyewerve und Jacquemyne Buuck, wohl das Berühmteste.

Gemaelde Portraets von Jan van Eyewerve und Jacquemyne Buuck, von Pieter Pourbus, 1551

Das Porträt des Glücks

Als Jan van Eyewerve und Jacquemyne Buuck 1551 in den Stand der Ehe eintraten, beauftragten sie Pieter Pourbus mit der Anfertigung dieses Doppelporträts. Es sollte zur Ausschmückung des gemeinsamen Hausstandes in der Vlamingstraat dienen. Beide Jungvermählten gehörten dem wohlhabenden Brügger Bürgertum an. Sie präsentierten sich in eleganter Kleidung aus edlen Stoffen mit teuren Accessoires wie Lederhandschuhen, Ringen, Goldkette und Pelzüberwurf als dezentem Blickfang. Neben den Wappenschildern beider Familien durfte selbstverständlich auch der obligatorische Hund als Symbol der Treue (wohlgemerkt auf dem Bildnis der Frau!) nicht fehlen.

Unter Kunstkennern wird dieses Gemälde oft als Porträt des Glücks bezeichnet. Aber was macht Glück aus? Ich sehe materielles Glück, aber wo ist das persönliche Glück? Vordergründig geben beide Hauptdarsteller zusammen ein makelloses Paar ab. Doch grundsätzlich scheinen sie sich fremd zu sein. Kein zärtliches Lächeln, keine Geste der Vertrautheit. Stattdessen blickt der Betrachter in zwei gefühlsunterkühlte Gesichter.

Der Rahmen, der die beiden Einzelporträts voneinander trennt, fügt der emotionalen eine räumliche Distanz hinzu. Möglicherweise gab es simple, praktische Gründe, warum der 29-jährige Jan van Eyewerve und die 10 Jahre jüngere Jacquemyne Buuck nicht gemeinsam auf einem Gemälde Modell standen. Andererseits kann man schon auf böse Gedanken kommen. Sollte die Beziehung in die Brüche gehen, hatte jede Partei die Möglichkeit das eigene Porträt unter den Arm zu klemmen und mit ihm von dannen zu ziehen.

Eine versteckte Geschichtsstunde

Wesentlich interessanter als die beiden Hauptdarsteller des Gemäldes ist für mich die Hintergrundszene: das Fenster zum Hof bzw. zur Brügger Welt im Jahr 1551.

Detail des Gemaeldes Portraets von Jan van Eyewerve und Jacquemyne Buuck, von Pieter Pourbus

Dunkle Wolken brauen sich über der Hafenstadt zusammen. Geschäftigkeit oder wuseliges Treiben auf dem Kraanplats und der Vlamingbrug – Fehlanzeige. Der „Craen“, der markante Hafenkran mit seinem namengebenden Paten auf dem First steht still. Die Hafenarbeiter, die den “ Kranich“ normalerweise per Tretrad in Betrieb nehmen, gönnen sich eine Pause. Nur wenige Weinfässer wurden am Kai abgeladen und warten auf einen Käufer. Einzig zwei Mönche lassen sich zu einer Kostprobe überreden.

Auch die Warenauslage des im Jahre 1542 erbauten Kaufmannhauses mit dem aufgemalten Federvieh vermag kaum zahlungskräftige Kundschaft anzuziehen. Wer genau hinschaut, kann auf der Fassade des reich verzierten Gebäudes den Leitspruch „Plus ultra“ des spanischen Königs und Herzogs von Burgund, Karl V. erkennen. Während es für den, im benachbarten Gent geborenen, Habsburger „immer weiter“ ging, steuerte die einstmals florierende Hafenstadt schweren Zeiten entgegen.

Nicht von ungefähr zieht deshalb über der ganzen Szenerie ein Schwarm Raben symbolbeladen seine Kreise. Die Zukunft Brügges ist so rabenschwarz wie die Kleidung der Protagonisten. Der Fluss Zwin und damit der Zugang zum Meer ist versandet, die einstige Hochburg der Textilindustrie von der wichtigsten Handelsroute abgeschnitten. Die Schiffe aus aller Welt laufen nun mit ihrer wertvollen Ladung die Nachbarhäfen in Middelburg und Antwerpen an.

Mich hat dieses Werk von Pieter Pourbus durch seine subtile Botschaft überrascht. In erster Linie ein bürgerliches Auftragsporträt, ist es bei näherer Betrachtung ein vielsagender Spiegel der Brügger Geschichte und Gesellschaft.

Edmond van Hove
Porträt von Karel Recour, 1889, Öl auf Leinwand

Selbstportraet Edmond van Hove
Selbstporträt
Edmond van Hove, 1879

Edmond Theodor van Hove (07.06.1851 – 12.05.1913) ist ein in Deutschland wenig bekannter Künstler. Sein Lebens- und Schaffenskreis bewegte sich, ausgenommen von einer vierjährigen Lehrzeit an der École des Beaux-Arts in Paris, nicht über die belgischen Grenzen hinaus.

Der gebürtige Brügger ist mit einem Dutzend Werken im Museum vertreten, darunter auffallend viele Porträts. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, den flämischen Primitiven, dürfte keines davon eine Auftragsarbeit gewesen sein. Die in Szene gesetzten Persönlichkeiten des 16. Jahrhunderts, Galileo Galilei als auch der namenlose Philosoph, kamen als Mäzene kaum mehr in Frage. Für die übrigen Ölbilder stand beinahe ausnahmslos der engere Familienkreis Porträt.

Eine Ausnahme stellt das Bildnis des 76-jährigen Karel Recour dar. Ob es auf Wunsch des Brügger Kunstlehrers selbst oder als Dankeschön seines Schülers an seinen zeitweisen Mentor entstand, ist nicht bekannt.

Ein sehr emotionales Porträt

Auf jeden Fall war es keine Gefälligkeitsarbeit. Das kleinformatige Büstenporträt zeigt Karel Recour ungeschönt als die Person, die er im Jahr 1889 war: ein alternder Mann mit schütterem, ergrautem Haar, einem mächtigen Doppelkinn, Tränensäcken und Krähenfüßen unter den wässrig schimmernden Augen sowie einem Leberfleck auf den leicht erschlafften Wangen.

Eigentlich ein Gesicht, das nicht unbedingt die Blicke auf sich zieht, wären da nicht diese blaugrauen Augen, die Bände sprechen. Direkt und unverwandt schauen sie den Betrachter an, und dennoch sind sie nicht fokussiert. Die Gedanken dahinter befinden sich auf einer retrospektiven Reise durch die Vergangenheit. Karel Recour zieht in diesem Moment Bilanz.

Porträt Karel Recour,
Edmond van Hove, 1889

Der pelzbesetzte Mantel deutet darauf hin, dass er ein wohlhabender Mann in anerkannter gesellschaftlicher Stellung war. Aber am Blick seiner Augen kann man ablesen, dass ihn, trotz seiner stattlichen Erscheinung, leichte Zweifel plagen. Er fragt sich: „Habe ich in meinem Leben alles erreicht? Kann ich zufrieden sein? Wie viel Zeit bleibt mir noch und was erwartet mich?“ 

Dieser Blick hat auch mich zum Nachdenken angeregt. Deshalb ist für mich das Porträt von Karel Recour mit Abstand das emotionalste Bildnis des Museums Groeninge. Es ist unspektakulär, aber ehrlich. Und mit dieser Ehrlichkeit macht es den Porträtierten in seiner Menschlichkeit zum Sympathieträger.

Gut zu wissen

Adresse

Museum Groeninge
Dijver 12
BE-8000 Brügge

Credits für alle Fotos aus dem Museum Groeninge mit Ausnahme der Bild von Edmond van Hove und dem Bildausschnitt des Jüngsten Gerichts: Musea Brugge,  www.lukasweb.be – Art in Flanders, photo Dominique Provost, Hugo Maertens.

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