Denkmal des Rebellen und Ritters Liebenzeller in Strassburg
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Reinhold Liebenzeller – Straßburger Ritter und Rebell


Zu den wenigen Ruheoasen im quirligen Stadtzentrum von Strasbourg zählt zweifelsohne der Kuttelplatz (Place des Tripiers). Während auf der davorliegenden Rue du Vieux Marché aux Poissons die geschäftigen Menschen im Eilschritt vorbeihasten, gönne ich mir besonders im Frühjahr, wenn die ersten Blüten die Blumenbeete vor dem Platz in ein Farbenmeer verwandeln und die Laubbäume ihr sattes Grün hervorkehren, auf den verstreut aufgestellten Bänken immer mal wieder eine kleine Auszeit. 

Seit kurzem leistet mir beim urbanen Chillen eine stattliche, in Bronze gegossene Ausnahmeerscheinung standhaft Gesellschaft. Der neue Platzherr, ein über Jahrhunderte in den Annalen verschollener Lokalpatriot stützt sich, den Blick visionär auf die Turmspitze des Münsters geheftet, kampfbereit auf seine Armbrust. Immer noch ist er allzeit gewappnet, sein Leben für seine Stadt und seine Mitbürger aufs Spiel zu setzen. Schon einmal war es ihm gelungen die Straßburger vom Joch der Unterdrückung und Willkürherrschaft zu befreien. Das war 1262. Damals wandte er sich mit den charismatischen Worten „Kämpft heute mit Mut und ohne Angst für die Ehre unserer Stadt, für unsere Freiheit, die unserer Kinder und unserer Nachkommen“,  an seine Gefolgsleute und schrieb als unerschrockener Vater der freien Republik Straßburg Geschichte. So zumindest steht es auf den Gedenktafeln des Monuments geschrieben.

Gedenktafel Reimbold Liebenzeller Ritter und Rebell aus Strassburg

Reinbold Liebenzeller – Straßburgs vergessener Held

Doch wahrscheinlich habe nicht nur ich mich gefragt, nachdem die Standfigur im April 2019 eingeweiht wurde, wer denn dieser heroische Sohn der Stadt denn überhaupt war, dass er sage und schreibe ein dreiviertel Jahrtausend in Vergessenheit geraten konnte? Also habe ich ein wenig recherchiert. Allerdings war das kein einfaches Unterfangen, denn als erstes musste ich das Rad der Zeit ins 13. Jahrhundert zurückdrehen.

Strassburger Strassenschild Firnkorngaessel
zinnengekroenter Wohnturm aus dem 13. Jahrhundert der Familie Liebenzeller in der Rue du Seigle in Strassburg

Unser wenig bekannte Ritter erblickte im Jahre 1225 als Reimbold (aus dem man im Laufe der Jahrhunderte einen Reinhold machte) Virnekorn im einstigen Wohnhaus mit dem auffälligen zinnengekrönten Turm im Firnkorngässel (heute: Rue du Vieux Seigle) das Licht der Welt. Sein Vater Konrad stammte aus einer angesehenen Patrizierfamilie, die mit dem Getreidehandel ihr Vermögen gemacht hatte. Er selbst stand nicht nur der Bruderschaft der Kürschner vor, sondern war auch Ministerialbeamter des Bischofs und Mitglied des Bürgerrats. Als Krönung seines gesellschaftlichen Aufstiegs erfolgte der Ritterschlag sowie möglicherweise die Einsetzung als Vogt der Burg Liebenzell oder deren Übertragung als königliches Lehen. Zumindest würde dies eine plausible Erklärung für die Metamorphose des Familiennamens Virnekorn zu Liebenzeller erklären.

Als strebsamer und aufrechter junger Mann trat Sohnemann Reimbold recht bald in die politischen Fußstapfen seines Vaters. Er übernahm nicht nur dessen Sitz im Bürgerrat, sondern wurde mit 30 Jahren sogar zu einem der vier Stadtvorsteher, dem sogenannten Stettmeister, ernannt. Zu dieser Zeit hatte er sich bereits die Meriten eines Hauptmanns und Ritters verdient, weshalb er sich fortan Reinbold Liebenzeller nannte.

Kräftemessen zwischen Bischof und Bürger

Seite aus dem Comic la bataille de Hausbergen
Auszug aus dem Comic La Bataille de Hausbergen(2)

So weit, so gut. Straßburg war zu dieser Zeit eine geschäftige, aufstrebende Stadt mit über 10.000 Bewohnern. Die Wirtschaft florierte, doch politisch befand sich besonders seit dem Jahr 1260 reichlich Sand im Getriebe. Die Ursache dafür war ein gerade eben vom Papst als Stadtherr neu eingesetzter Fürstbischof. Walter von Geroldseck war mit seinen 29 Jahren ein ambitionierter Zeitgenosse. Das Bischofsamt verlieh dem Sohn aus dem Badischen Adelsgeschlecht nicht nur kirchliche Würden, sondern auch politische Autorität. Und diese versuchte er mit allen Mitteln durchzusetzen. Autoritäres Gehabe, Willkürentscheidungen, Machtmissbrauch und Einschränkung der dem Bürgertum von seinen Vorgängern zugesicherten Rechte und Privilegien brachten ihn recht schnell gegen die Straßburger Einwohner auf.

Die Bürger, darunter auch die Familie Liebenzeller, machten Front und verweigerten die Steuerzahlungen. Im Gegenzug verhängte der Bischof nicht nur ein Weinembargo, sondern versuchte generell die Warenlieferungen in die Stadt zu unterbinden. Ihm selbst war das Straßburger Pflaster inzwischen zu heiß geworden. Er zog sich mit seinen Gefolgsleuten auf sein Besitztum, das Schloss Dachstein, unweit der aufmüpfigen Stadt zurück. Doch das war erst der Beginn des Kräftemessens. Nach dem Motto „wie Du mir, so ich Dir“ nahm der Schlagabtausch seinen Lauf.

Während sich die Straßburger an bischöflichen Gütern schädlich hielten, verwüstete der ungeliebte Stadtherr seinerseits deren Felder und Weinberge. Eine kurze Zeit des Waffenstillstands herrschte nur während der Enterzeit. Die Situation war hoffnungslos verfahren.

Der Konflikt spitzt sich zu

Keine Seite zeigte sich bereit einzulenken. Dafür stand vor allem für den Bischof zu viel auf dem Spiel. Also zog er seine letzte Trumpfkarte aus dem Ärmel. Mit päpstlicher Rückendeckung sprach er das Interdikt über die Stadt aus. Ab sofort waren jegliche sakralen Handlungen innerhalb der Stadtmauern verboten. Es durfte keine Messe mehr gelesen, keine Taufe vorgenommen, keine Beichte abgenommen noch die Sterbesakramente erteilt werden. Adel und Klerus kehrten Straßburg den Rücken. Für die streng gläubig erzogenen Straßburger kam dies einer göttlichen Höchststrafe gleich.

Der Bischof war sich seiner Sache sicher. Lange konnte es nicht mehr dauern, und er hatte die Straßburger in die Knie gezwungen. Selbst wenn dafür weitere Waffengewalt notwendig sein sollte. An Verbündeten mangelte es ihm nicht. Selbstverständlich zählten hierzu neben der klerikalen Entourage, darunter der Erzbischof von Trier, auch zahlreiche Adlige, denen die aufstrebenden Patrizier ebenfalls ein Dorn im Auge waren. Selbst der Graf und spätere römisch-deutsche König, Rudolf von Habsburg, zählte anfänglich zu den bischöflichen Parteigängern, bevor er sich 1261 auf die Seite der Unterdrückten schlug.

Um gegen die Ausfälle der Straßburger gewappnet zu sein, organisierte Walter von Geroldseck ein ausgeklügeltes Frühwarnsystem. Im Kirchturm von Molsheim, nur wenige Kilometer vor der Stadtgrenze, postierte er einen Wächter, der bei herannahender Gefahr die Glocken zu läuten hatte. Das Geläute wurde von einem Glockenturm zum nächsten weitergetragen, sodass der Bischof und seine Anhänger auf ihren Adelssitzen rechtzeitig gewarnt wurden. So geschah es auch am 8. März 1262. Und hier tritt unser lange Zeit vergessener Held ins Rampenlicht.

Die Schlacht von Hausbergen

Cover des Comics La Bataille de Hausbergen
Buchcover La Bataille de Hausbergen(2)

Mit einem kleinen Freiwilligenheer machte sich Reinhold Liebenzeller am besagten Morgen des 8. März 1262 auf den Weg nach Mundolsheim. Ziel war es, den besagten Glockenturm niederzureißen und somit ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen. Doch der Bischof war bereits alarmiert. Schnellstens läutete er seine Getreuen zusammen, um die mit Spießen und Armbrüsten bewaffneten Handwerker und Kaufleute auf dem Rückweg in die Stadt zu stellen. Doch auch die Wachen auf den Stadtmauern hatten ihre Hausaufgaben gemacht und angesichts des Zusammenrottens der bischöflichen Truppen Alarm geschlagen. Unverzüglich formierte sich eine weitere Straßburger Streitmacht unter Anführung des Ratsherrn und Stadtschultheiß Nikolaus von Zorn und eilte den Männern Liebenzellers an die Seite.

Rein zahlenmäßig waren die Straßburger damit dem Gegner haushoch überlegen. Dennoch zeigte der Bischof kein Erbarmen mit seinen adligen Mitstreitern. Rückzug oder vorzeitige Aufgabe kamen nicht in Frage, immerhin besaßen seine Gefolgsleute die bessere militärische Ausbildung und Ausrüstung. Allerdings hatte er die strategischen Fähigkeiten des Straßburger Hauptmanns unterschätzt. Solange die Armbrustschützen die bischöflichen Infanteristen auf Distanz hielten, damit diese nicht in das Geschehen eingreifen konnten, sollte das mit Spießen ausgestattete Fußvolk die feindlichen Pferde zu Fall bringen. Denn lag der Ritter mit seiner schweren Rüstung erst einmal am Boden, hatten die Spießer ein leichtes Spiel mit ihm.

Für die Straßburger Streiter lief alles nach Plan. Noch vor Sonnenuntergang war die Schlacht entschieden. Die Truppen des Bischofs hatten nicht nur eine schmerzhafte Niederlage erlitten, sondern auch 60 (?) Tote zu beklagen. Während Walter von Geroldseck dem Gemetzel nur knapp entkam und auf sein Schloss in Dachstein floh, kehrten Reinbold Liebenzeller und seine Mannen als gefeierte Helden mit über 70 Gefangenen, die eine Menge Lösegeld einbringen sollten, nach Straßburg zurück.

Bild Empfang der Sieger in Strassburg nach der Schlacht von Hausbergen 1262
Triumphale Heimkehr der Strassburger Truppen nach der Schlacht von Hausbergen; Stich Elsässisches Sagenbuch; A. Stöber, 1842

Straßburg wird zur Freien Reichsstadt

Aber was wurde aus dem machthungrigen Bischof?
Straßburg war die letzte Niederlage in einer Reihe von militärischen Misserfolgen des ehrgeizigen Fürstbischofs. Nach dem Verlust seiner Macht in Colmar, Kaysersberg und Mühlhausen gab ihm das Debakel von Hausbergen und der Tod seines im Kampf gefallenen Bruders Hermann den seelischen Todesstoß. Walter von Geroldseck verstarb binnen Jahresfrist.

Statue des Lokalhelden Reinold Liebenzeller in Strasbourg

Als Nachfolger inthronisierte der Papst Heinrich von Geroldseck, einen Cousin aus der Elsässer Linie des Adelsgeschlechts von Geroldseck. Als weitaus gemäßigter Bischof mit eher klerikalen, denn politischen Interessen, erlangte er als erstes die Aufhebung des Interdikts. Zudem sicherte er den Bürgern vertraglich die Anerkennung imperialer Rechte einschließlich freier Ratswahlen zu.

Straßburg besaß fortan den Status einer freien Reichsstadt innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Die bischöfliche Willkürherrschaft war Geschichte. Die wirtschaftliche und politische Macht lag nun in den Händen des Bürgertums. Und das Alles dank des mutigen Freiheitskämpfers. Exakt 400 Jahre über seinen Tod hinaus hatte die Stadtrepublik Straßburg bestand. Erst der Anschluss des Elsass an Frankreich im Jahr 1682 bedeutete das Ende der Unabhängigkeit. Zu diesem Zeitpunkt war Reinhold Liebenzeller schon längst vergessen.

Eine späte Hommage

Der Stiftung Fondation pour Strasbourg ist es zu verdanken, dass der Stettmeister, nach einem über 750 Jahre andauernden Heldenschlafs in den Tiefen der Straßburger Geschichte, zu neuem Leben erweckt wurde. Mit einem Denkmal sollte Liebenzeller endlich die gebührende Anerkennung erhalten und wieder ins Bewusstsein der Einheimischen gerückt werden. Allerdings erwies sich die Aufgabe als besondere Herausforderung, denn es gab weder eine Zeichnung noch eine Skizze oder gar eine genaue Beschreibung seiner Person. Einzig und allein das Alter Liebenzellers war bekannt. Also blieb es dem mit der Standfigur beauftragten elsässischen Bildhauer Christian Fuchs selbst überlassen, dem unerschrockenen Kämpfer ein Gesicht und eine Gestalt zu verleihen.

Das Ergebnis überzeugt. Die 2,50 Meter große Bronzestatue ist eine späte, aber würdige Hommage. Energisch, zielbewusst, couragiert richtet sich der Anführer der Straßburger Bürgermiliz mit der überlieferten Brandrede an seine Gefährten: „Sint noch hüte starkes gemütes und fechtent unerschrockenliche umbe unsere stette ere und umbe ewige friheit unser selbes und unserre kinde unde aller unserre nochkummen.“(1) Und obwohl Liebenzeller als Ritter zu Pferd und mit dem Schwert zu kämpfen pflegte, sehen wir ihn hier als aufrechten Bürger unter seinesgleichen mit der Armbrust, der Waffe des Fußvolks, die für den Sieg der Schlacht von Hausbergen den Ausschlag gab.


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© Credits:
(1) Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1923, Teil 3, S. 389-395.
(2) Cover und Abbildung der Buchseite stammen aus dem Comic La Bataille de Hausbergen von Francois Abel und Charly Damm, 2012.

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