Ringreiter mit Lanze, der in vollem Galopp auf seinem Pferd den Ring sticht
Niederlande,  Unterwegs

Ringreiten und Ringstechen – Volkssport auf Zeeland


In kräftigem Galopp stürmen Pferd und Reiter los. Der Sand auf der Ringbahn spritzt zu beiden Seiten hoch. Das Pferd, ein wahres Prachtexemplar, jeder Zentimeter geballte Muskelkraft; der Reiter, ohne Sattel, tief über den Widerrist nach vorne gebeugt, die spitz zulaufende Lanze im Anschlag und das kleine, fast unscheinbare Ziel fest im Visier. Dann geht ein Raunen und Klatschen durch die Menge rechts und links der Absperrung. Der Reiter hat den Ring gestochen!

Meine Begeisterung kennt keine Grenzen, ob dieses folkloristischen Spektakels, das sich Ringreiten nennt, und in das ich hier auf dem Abijdplein, dem Abteiplatz, im historischen Zentrum Middelburgs hinein gestolpert bin.
Mir gehen beinahe die Augen über. Neben den Ringreitern, tummeln sich auf dem Platz ganz viele Zeeländer in Tracht, stolz auf oder neben ihren einachsigen Kutschen samt Zugpferd, die beide wunderhübsch und farblich aufeinander abgestimmt, herausgeputzt sind.

Was für ein Glückspilz ich doch bin. Ohne es zu wissen, bin ich mitten im ersten folkloristischen Tag des Jahres gelandet. Also streiche ich gedanklich mein geplantes Besichtigungsprogramm in der Hauptstadt der Provinz Zeeland, und nutze die Gunst der Stunde meine Speicherkarte zu füllen und mehr über den Volkssport Ringreiten und seine Tradition in Erfahrung zu bringen.

Ringreiten und Chaisenreiten –
Eine Einführung für Ahnungslose

Die Veranstaltung auf der Halbinsel Walcheren ist meine erste Begegnung mit dem Ringreiten. Kein Wunder, denn die Tradition dieses Pferdesports ist sowohl im Badener als auch im Schwabenland gänzlich unbekannt. Neben Walcheren liegen alle anderen Ringreiter-Hochburgen entweder im hohen Norden Deutschlands oder im südlichen Dänemark. Also ist es keine Schande, wenn ich mich als Ringreiter-Dummie oute und ein wenig die Ringreiter-Schulbank drücke.

Regeln und Geselligkeit

Das Ringreiten und Chaisenfahren sind hervorragende Symbiosen aus bodenständigem Wettkampf, authentischer Folklore und ganz viel Geselligkeit. Heutzutage eine ziemlich selten anzutreffende Kombination.

Wie wäre es mit Ringreiten und Chaisenfahren go Olympia?
Ich hätte auf jeden Fall meinen Spaß daran. Dem olympischen Gedanken würde die Mentalität der Sportart vollkommen entsprechen: Dabei sein ist alles. Ein Wettkampf muss nicht immer unter dem Motto „citius, altius, fortius“ (schneller, weiter, höher) stehen. Und interessanter als Dressurreiten ist Ringstechen allemal.

Selbstverständlich benötigt ein sportlicher Wettstreit ein eindeutiges Regelwerk. So auch beim Ringreiten und Chaisenfahren. Vor den beiden Weltkriegen standen weniger der sportliche Wettstreit als vielmehr das Vergnügen drumherum im Vordergrund. Heute legt man auf Beides wert.

Die Bahn bzw. der Rundkurs

Ringreiterin in vollem Galopp

Die mit Sand aufgeschüttete Ringbahn hat die Form eine Hundeknochens. Ihre Gesamtlänge beträgt exakt 36 Meter bei einer Breite von einem Meter am Boden und 1,65 Metern am Ende der schräg stehenden Pfosten, die mit den dazwischen gespannten Seilen als seitliche Bahnbegrenzung dienen. Exakt auf der Hälfte der Bahnlänge hängt auf 2,20 Metern Höhe an einer dicken Schnur zwischen zwei Pfosten der berühmte Ring. Das bedeutet, Pferd und Reiter haben gerade einmal 18 Meter um auf Touren zu kommen und den Ring ins Visier zu nehmen.

Bei der Chaisenfahrt besteht der Rundkurs in der Regel aus vier Ringstationen. Die Länge und die Beschaffenheit des Parcours hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab. Der Ring selbst hängt auf 2,10 Metern Höhe.

Der Ring und die Lanze

Der Ring ist mit einer Klammerfeder verbunden, die in ein nach unten offenes „T-Stück“ eingeschoben wird. Bei den Ringreitern wird das T-Stück, je nach Auslage des Reiters (Links- oder Rechtshänder) in die vom Teilnehmer gewünschte Position auf dem über die Bahn gespannten Seil geschoben. Beim Ringstechen mit der Kutsche hängt der Ring immer in der Mitte.

Der Ring beim Ringreiten und Ringstechen (Sjezenrijden)

Der Einstiegsring hat einen Durchmesser von 38 mm. Bei den weiteren Runden und beim Stechen kommen immer kleinere Ringe zum Einsatz. Deren Größe ist streng vorgegeben: 32 – 26 – 20 – 14 – 10 mm. Ich beneide die Reiter um ihre ausgezeichnete Sehstärke. Wahrscheinlich bräuchte ich schon bei der ersten Größe einen auf meiner Brille vorgeschalteten Fernstecher oder ein Vergrößerungsglas.

Die Lanzen sind von Länge, Gewicht und Form ebenfalls genormt. Beim Ringreiten kommen 157 cm lange Lanzen mit Metallspitze zum Einsatz, beim Ringstechen sind sie etwas kürze und leichter. Griffstück und Schaft dürfen nach persönlichem Geschmack bemalt werden.

Die Wertung

Der Reiter muss im Galopp unter dem Ring hindurchreiten und diesen dabei mit seiner Lanze aufnehmen. Gelingt ihm dies, erhält er einen Punkt. Insgesamt werden 30 Durchgänge geritten.

Ringreiter in action. Er hatim Galopp den Ring gestochen. Ringbahn auf dem Abteiplatz in Middelburg

Ein gestochener Ring wird mit einem senkrechten Strich dokumentiert, ein Fehlversuch mit einem waagrechten. Gewinner ist der Teilnehmer mit den meisten Punkten. Haben am Ende des Wettstreits mehrere Teilnehmer die gleiche Punktzahl, kommt es zum Stechen. Dabei verringert sich die Ringgröße mit jedem Durchgang.

Beim Ringstechen mit der Kutsche werden nur zehn Runden gefahren. Der Ring darf nur gestochen werden, wenn das Pferd trabt. Es ist nicht erlaubt vor dem Ring einen „Gang herunterzuschalten“.
Pferd und Kutschen sind herausgeputzt, denn zum Abschluss der Veranstaltung werden nicht nur die besten Ringstecher, sondern auch das schönste Gesamtpaket bewertet.
Aufgrund der Regularien kann sich der Wettbewerb zu einem tagefüllenden Programm entwickeln.

Die Teilnehmer und die Funktionäre

Beim Ringreiten darf jeder ab 12 Jahren teilnehmen. Bei offiziellen Wettkämpfen gibt es eine vorgeschriebene Kleiderpflicht. Diese hat weiß zu sein mit einer orangefarbenen Schärpe als Ehrerbietung für das niederländische Königshaus. Bei Demonstrationsveranstaltungen tragen die Teilnehmer beiden Geschlechts die seeländische Männertracht.

Das Tragen der Regionaltracht ist beim Ringstechen mit der Kutsche obligatorisch.
Es hat sich durchgesetzt, dass der Mann die Kutsche lenkt, und die neben ihm sitzende Frau die Ringe sticht. Ab und zu wird am Ende des Tages eine sogenannte Bauernrunde gefahren. Dies bedeutet Rollentausch mit manchmal überraschenden Ergebnissen.

Neben den Hauptdarstellern sind weitere, stets in Regionaltracht gekleidete Funktionäre im Einsatz:

Der Ringwart bringt den Ring in Stellung beim folkloristischen Tag in Middelburg.
  • Der Streckenbeauftragte oder Bahnkommissar ist verantwortlich für den Zustand der Ringbahn bzw. des Rundkurses und überwacht die Einhaltung der Regeln.
  • Der Ringwart ist für die exakte Platzierung des Rings bzw. des T-Stücks gemäß dem Wunsch des Reiters zuständig. Beim Ringstechen schleudert (vielleicht wäre lanciert hier der treffendere Begriff) die Dame den ergatterten Ring mittels ihrer Lanze wieder kunstvoll über ihre Schulter zurück. Der Ringwart ist in diesem Fall gleichzeitig der Ringläufer. Er sammelt den Ring ein und hängt ihn für die nächste Kutsche wieder auf.
  • Der Ringläufer nimmt am Ende eines erfolgreichen Ritts den Ring von der Lanze des Reiters ab und übergibt ihn dem Ringwart.
  • Die Punktezähler.
    Es gibt deren immer zwei. Ein Mann notiert die Ergebnisse auf einer für Teilnehmer und Zuschauer sichtbaren Tafel, während eine Frau parallel Protokoll auf Papier führt. Sicher ist sicher, denn Irren ist menschlich!

Die Kutsche 

Als Kutschen (genannt Sjeezen oder Chaisen) kommen beim Ringstechen Einspänner zum Einsatz. Als das Automobil noch Zukunftsmusik war, benutzten der Hofherr mit seiner Bäuerin und dem Nachwuchs das einachsige Gefährt mit den hohen Rädern zum sonntäglichen Kirchgang oder anderen offiziellen Anlässen. Die Sjees war ein reines Präsentationsgefährt, kein Nutzfahrzeug. Dem ist heute noch so.
Als solches muss die Kutsche für den Wettbewerb eigenhändig geschmückt werden. Mit frischen Blumen und Grünpflanzen, zwischen den Speichen drapierten Blüten und bunten Bändern, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Es gibt nur zwei No-Gos: Kunstblumen und fertig Gekauftes!

Das zeeländische Zugpferd, ein vierbeiniger Herkules

Eigentlich bin ich kein Pferdenarr, aber was ich hier, auf dem Abteiplatz in Middelburg, zu Gesicht bekomme, ist wirklich eine Augenweide. Sofort habe ich meine Favoriten ausgemacht: die zeeländischen Zugpferde. Nichts gegen die schlanken und eleganten Reitpferde, aber die Zugpferde sind eine Klasse für sich. Ein robustes, imposantes Kraftpaket mit sanftem Wesen und entzückendem Fesselschmuck. „Mooi“ würden die Niederländer sagen, „wunderschön“!

Ich erkundige mich bei einem Teilnehmer, mit dem Fingerzeig auf sein Prachtexemplar, um welche Rasse es sich handelt, da dieses Erscheinungsbild so gar nicht auf den heimatlichen Pferdeweiden zu finden ist. „Zeeländisches Zugpferd“ lautet die stolze Antwort. Dabei sieht er wohl die Fragezeichen auf meiner Stirn und holt ein wenig weiter aus. Ich lerne, dass sich die noch relativ junge Rasse aus der Zucht mit belgischen Kaltblütern, den sogenannten Brabantern, entwickelte. Diese sind, wie alle Kaltblüter, bekannt für ihren sanftmütigen, folgsamen und arbeitswilligen Charakter. Hier kann ich sogar wissend nicken, denn dass ein Kaltblüter nichts mit kaltem Blut, sondern vielmehr mit Coolness, also ausgeglichenen Wesenszügen zu tun hat, ist sogar mir als Laie in Sachen Pferd bekannt.

Zugpferd mit bunt geknuepfter Maehne vor seiner Kutsche beim folkloristischen Tag in Mittelburg
Mit den Moonboots gibt es bestimmt keine kalten Füße im Winter

Das Zugpferd, wie der Name schon sagt, war aufgrund seines massigen Körperbaus prädestiniert dafür, schwere Lasten oder Gerätschaften zu ziehen. Schmächtigere Pferde oder hektische Warmblüter mit langen Beinen kamen auf den Torf- und Lehmböden der Zeeländischen Inseln nicht zurecht. Neben der beeindruckenden Körpermasse, manche Exemplare kommen auf über 1000 Kilogramm, kann man die Zugpferde an der gespaltenen Kruppe erkennen, die durch die Muskelpakete in der Gesäßregion entsteht. Und, nicht zu vergessen, die wuscheligen Fesseln, auch Kötenbehaarung genannt.

Wahre Kunstwerke

Das Regelwerk der Ringreiter- und Chaisenstecher macht keine Vorgaben zur Rasse, sehr wohl aber zum Aussehen der teilnehmenden Pferde. Fell und Schopfhaare müssen gepflegt sein, ebenso das Beinkleid, sofern vorhanden. Die Mähnen und der Schweif sind zu flechten. Letzterer darf entweder zu mehreren Zöpfen geknüpft oder alternativ kupiert werden. In diesem Fall wird der reduzierte Schweif mit grünen Zweigen und Schleifen verziert.

Die Anzahl der Zöpfe muss immer ungerade sein, dafür ist die Farbenkombination der eingeflochtenen Wolle, Bänder Schleifen oder Pompons frei wählbar. Sie muss nur identisch sein mit dem Schmuck der geflochtenen Mähne. Das Resultat: wahre Kunstwerke!

Auch die  „Aftershow“ hat ihre Traditionen

Die Veranstaltung neigt sich dem Ende entgegen, die Kreidetafeln sind voll mit Senkrechten und waagrechten Strichen. Jeder freut sich auf die Siegerehrung und den gemütlichen Teil. Ringreiten und Chaisenstechen sind anstrengend, auch wenn die Kutschenfahrt für mich als Außenstehende nach gemütlichem Zeitvertreib ausschaut. Höchste Konzentration ist gefragt,  Sattelfestigkeit ohne Sattel, Beherrschung von Tier und Terrain, und ein stillschweigendes Verständnis zwischen Fahrer und Stecherin.

Die Pferde werden ausgespannt, bekommen ihr wohlverdientes Wasser und Heu, viele Streicheleinheiten und selbstverständlich die volle Aufmerksamkeit der Zuschauer.

Die Pokale stehen bereit und die heutigen Tagessieger sind ermittelt.
Bei den Chaisenstechern sind es Melanie de Bruijn und Wim Geldof. Der 71-Jährige, früher selbst Ringreiter und jetzt begeisterter Chaisenfahrer, erzählt, dass der folkloristische Tag in Middelburg schon seit 52 Jahren ein fester Punkt in seinem Kalender ist. Früher kam er immer mit seiner Frau hierher, heute ist die 26-jährige Melanie, die ebenfalls wie er selbst aus Oostkapelle stammt, seine weibliche Mitstreiterin. Wim schätzt nicht nur ihre Treffsicherheit, sondern für ihn zählt am meisten, dass sie gut gekleidet ist. Im Gegenzug lobt die Zeeländerin den erfahrenen Kutscher für sein gutes Tempo, das ihr ermöglicht, die Ringe optimal zu stechen. Beide sind sich einig, dass sie wegen der besonderen Atmosphäre, der Mischung aus Folklore, Gemeinschaft und Geselligkeit nach Middelburg kommen. Der Sieg ist zweitrangig.

Die Sieger des Ringstechens in ihrer geschmueckten Kutsche beim folkloristischen Tag in Middelburg.
Die Sieger des Sjezenrijden beim ersten folkloristischen Tag in Middelburg 2019

Jonassen, Pollepel und Suukerkomme

Leider erlebe ich drei weitere Ringreiter-Rituale am heutigen Tage nicht mehr live. Ich muss dringend die Parkuhr am Stadtrand nachfüttern gehen. Für ein Parkzeit-Überziehungs-Knöllchen der Middelburger Verkehrssheriffs könnte ich beim Eisstand auf dem Marktplatz mindestens 75 Kugeln Eis ordern. Das ist mir das Risiko nicht wert. Trotzdem möchte ich Euch die ungewöhnlichen Traditionen nicht vorenthalten.

Das Jonassen

Der Sieger oder die Siegerin des Wettbewerbs lässt sich von seinen Mitstreitern gebührend feiern. Zu diesem Zweck wird er von allen dreimal hoch in die Luft geworfen und (selbstverständlich) wieder aufgefangen.

Die Suukerkomme

Der gefeierte Sieger muss seinerseits natürlich einen ausgeben. Hierfür steht die Sukkerkomme (Zuckerschüssel) bereit. Eine Schöpfkelle (der Pollepel) geht reihum, mit der sich jeder aus der vom Gewinner gestifteten Zuckerschüssel bedienen darf. Aber Achtung, der Inhalt der Schüssel hat es in sich: Gin oder Brandy, Zucker und Salzbällchen. Eine Mischung, die bestimmt die gute Laune auf dem Platz weiter anheizt.

De Pollepel – vom Schand- zum Ehrenpreis

Früher wollte kein Reiter den Pollepel überreicht bekommen, denn es war die öffentliche Demütigung für die eigene Unfähigkeit nicht einen einzigen Ring gestochen zu haben.
Die Tradition des Schöpflöffels knüpft an die Ernährungsgewohnheiten und die Standesunterschiede auf einem Bauernhof um die Jahrhundertwende an. Diverse Arten von Brei zählten zu den günstigsten Grundnahrungsmitteln, weshalb er mindestens jeden zweiten Tag auf den Tisch kam. Da das Rühren für die Bäuerin zu zeitraubend und mühsam war, wurde der niedrigste und ungeschickteste Arbeiter in der Bauernhof-Hierarchie damit beauftragt. Dabei kam der Pollepel, der Rühr- bzw. Schöpflöffel zum Einsatz. Die Arbeit war verhasst, da es immer den Ungeschicktesten traf, der sicher sein konnte, dafür gehänselt zu werden.

Heute ist der Schöpfllöffel eine Auszeichnung, die demjenigen zuteil wird, der das letzte Stechen für sich entscheidet. Mit dem schön verzierten Pollepell wird anschließend die Suukerkomme leer gelöffelt.

Das Ringreiten im Wandel der Zeit

Vermutlich geht das Ringreiten in der heutigen Form auf das Mittelalter zurück. Dabei entwickelten sich im Laufe der Zeit, mangels eindeutiger Belege, zwei mögliche Ursprünge.

Die erste Variante erinnert uns an die klassischen Ritterturniere à la Ivanhoe oder Prinz Eisenherz (für alle 60-er und 70er Jahre-Kinder: ja, das ist der Edelmann mit der schwarzen Topffrisur).

Zwei Ritter reiten in ihren glänzend polierten Rüstungen, mit Feder geschmückten Helmen und heruntergelassenen Visieren auf den mit wappenverzierten Decken gesattelten Pferden, aufeinander zu. Beide Kontrahenten geben ihrem Hengst die Sporen, die stumpfe Lanze wird in Position gebracht, um, über die Abtrennung hinweg, einen Treffer auf des Gegners Rüstung, Helm oder Schild zu landen. Gelingt es dem Edelmann auf Anhieb sein Gegenüber  aus dem Sattel zu hebeln, qualifiziert er sich direkt für die nächste Runde. Auch wenn es nicht gewollt und schon gar nicht vorgesehen war, so kam es bei diesem mittelalterlichen Freizeitvergnügen immer wieder zu tödlichen Unfällen. Kein edler und noch weniger ein nützlicher Tod für einen Ritter. Wenn schon sterben, dann auf einem richtigen Schlachtfeld für den König und für die eigene Ehre.

In manchen Ländern wurde deshalb dieser kostspielige Zeitvertreib vom Monarchen oder gar vom Papst verboten, in anderen kamen die Ritter selbst zur Räson. Anstelle des Wettstreits Mann gegen Mann, entschied man sich für ein ungefährlicheres Kräftemessen. Wobei die Kraft in den Hintergrund trat, und dafür mehr Geschicklichkeit gefragt war.

Variante Nummer Zwei ähnelt vom Ablauf her bereits sehr dem heutigen Ringreiten. Doch anstelle von Ruhm und Anerkennung, kämpft der mittelalterliche Recke um die Hand oder das Herz einer Dame. Wie herrlich dramatisch-romantisch! Das Edelfräulein spendete einen Ring, der an einem Seidenband auf dem Ringplatz aufgehängt wurde. Nur der Ritter, der den Ring dreimal stach, durfte überhaupt auf die Gunst der Hofdame hoffen.

Walcheren – die Ringreiter-Hochburg

Der erste schriftliche Dokument zum Ringreiten auf der Insel Walcheren stammt aus dem Jahr 1687. Urheber als auch Inhalt desselben sind ungewöhnlich und lassen das sportliche Vergnügen in keinem guten Licht erscheinen. Der Middelburger Kirchenrat beschwerte sich beim Gemeindeverband über den halbstarken Dorfnachwuchs, der nach einer Ringreiter-Veranstaltung wohl zu tief ins Glas geschaut hatte, und außer Rand und Band geriet.

Generell schien die Kirche mit dieser speziellen Freizeitbeschäftigung der Landbevölkerung auf Kriegsfuß zu stehen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts schlossen gleich mehrere Pfarrer ihre Ring reitenden Gemeindemitglieder von der Kirche aus. Ihrer Meinung nach hatten Spaß, Ablenkung vom harten Arbeitsalltag, geschweige denn Alkohol, im Leben der Normalsterblichen nichts verloren. Die Lanze der Ringreiter war den Popen der sprichwörtliche Dorn im Auge. Zum Glück zeigten sich manche Kirchenvertreter toleranter, aber nur solange die Bauern den sonntäglichen Kirchgang nicht vernachlässigten.

Statue De Ringrijder, der Ringreiter, in Middelburg

Ob dies der Grund ist, dass die folkloristischen Tage in Middelburg immer unter der Woche und nicht an einem Sonntag stattfinden?

Wie auch immer, der Kirche gelang es nicht dem einfachen Volk den Spaß am Ringreiten zu verderben. 1767 wurde der erste offizielle Wettbewerb ausgetragen und knappe 70 Jahre später organisierte sich der erste Regionalverband. Inzwischen gibt es in fast jedem Zeeländer Dorf eine Ringrijder-Vereinigung.

Obwohl das Ringreiten eine regional geprägte Volkssportart ist, zieht es seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit des niederländischen Königshauses auf sich. Die Mitglieder des Hauses Oranje wohnen regelmäßig den folkloristischen Veranstaltungen bei und stiften zahlreiche Ehrenpreise und Wanderpokale. Diese Tradition hält sich bis heute.

Eine Tradition im Umbruch

Rückenansicht einer Ringreiterin auf ihrem Pferd beim folkloristischen Tag in Middelburg. Sie trägt die Männertracht Zeelands. Ihr geknüpfter Zopf passt perfekt zu ihrem Pferd.
Die grüne Schärpe ist das Zeichen für den/die aktuell beste RingreiterIn

Das Ringreiten und das Chaisenfahren sind heute so populär wie nie zuvor. Diese Beliebtheit wäre jedoch ohne einen zeitgemäßen Wandel der Traditionen und Regeln nicht möglich gewesen. Waren im vorletzten Jahrhundert ausschließlich ledige Männer zu den Wettkämpfen zugelassen, so darf heute jedermann, und somit auch jede Frau ab 12 Jahren teilnehmen.

Mit zunehmender Mechanisierung der bäuerlichen Betriebe, der Weiterentwicklung der Flussschiffahrt und der Motorisierung des Transportgewerbes wurden immer weniger echte Pferdestärken benötigt. Zusätzlich sorgten der II. Weltkrieg und die Flutkatastrophe 1953 für eine weitere Dezimierung der Zugpferde-Bestände. Damit lief das Ringreiten buchstäblich Gefahr im zeeländischen Sand zu verlaufen. 

Die Öffnung gegenüber dem weiblichen Geschlecht war so gesehen ein Segen für das Ringreiten. Nicht wenige pferdeverrückte Stadtmädchen, deren Kindheitsträume aus einem Leben auf dem Ponyhof bestanden, jagen heute auf dem Rücken eines Pferdes, mit der Lanze in der Hand, durch die Ringbahn.

Ringreiterin auf ihrem Pferd in Aktion beim folkloristischen Tag in Middelburg.

Die Emanzipation hatte natürlich auch Einfluss auf die am Ringreiten teilnehmenden Pferderassen. Früher waren ausschließlich die schweren Zeeländer Zugpferde zu sehen, jetzt sind immer öfter die eleganteren Warmblüter auf dem Turnierplatz anzutreffen.

Nicht zuletzt veränderte sich über die letzten Jahrhunderte die soziale Herkunft der Ringreiter. Im Mittelalter trugen die Adligen die Wettkämpfe zur Belustigung der niederen Schichten aus, später führten die Schützengilden die Pflege des Brauchtums fort. Erst ab dem 18. Jahrhundert wusste sich die Landbevölkerung selbst zu bespaßen. Dies bedeutete gleichzeitig, dass das Ringreiten zu einem Bauernsport wurde, denn überwiegend auf den landwirtschaftlichen Höfen wurden die kräftigen Zugpferde gehalten. Inzwischen sind Landwirte und Stadtmenschen gleichermaßen unter den Teilnehmern zu finden. Teils können diese die Zugpferde stolz ihr Eigen nennen, teils sind sie sogar deren Züchter, aber es ist auch nicht ungewöhnlich, wenn das Pferd nur ausgeliehen ist.

Chaisenfahren – eine kostspielige Brauchtumspflege

Das Chaisenfahren (Sjeezenrijden) kann auf keine vergleichbar lange Tradition wie das Ringreiten zurückblicken. Es scheint erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Mode gekommen zu sein. Trotz des nicht unbeachtlichen finanziellen und zeitlichen Investments für die Anschaffung, die Restaurierung, Pflege und Instandhaltung der Kutsche, steigen jedes Jahr die Teilnehmerzahl der Chaisenfahrer bei den folkloristischen Tagen. Außerdem ist es bei den Kutschfahrten Pflicht, die regionale Tracht zu tragen. Ein kostspieliges Vergnügen, wenn man nicht gerade auf ein passendes Erbstück zurückgreifen kann.

Bei einem Bummel durch die Middelburger Innenstadt entdecke ich nämlich in einem Juweliergeschäft die goldenen Spiralen, mit denen die Hauben der Frauen befestigt werden, als auch die Blutkorallenketten. Einstiegspreis jeweils 2.200 Euro. Und dabei handelt es sich nur um zwei Accessoires des folkloristischen Outfits.

Frauen und Mädchen in der Tracht Zeeland beim folkloristischen Tag in Middelburg

Da ich meinen Middelburg-Tag fast ausschließlich bei den Ringreitern und Chaisenfahrern verbracht habe, muss ich unbedingt wiederkommen. Hier gibt es noch so viel zu erkunden und zu bestaunen.


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