Statue Sabina von Steinbach vor dem Suedportal des Muensters in Strassburg
Münstergeschichten,  Straßburger Spaziergänge

Sabina von Steinbach – Mythos oder Wahrheit?


Erwin von Steinbach, der grandiose und in der Geschichte des Straßburger Münsters unerreichte Baumeister, ahnte, dass ihm nur noch wenige Stunden auf Erden vergönnt sein würden. Viel hatte er erreicht in seinem ausgefüllten Leben, doch sein Meisterwerk war zweifellos das Westportal mit seiner wundervollen Rosette.
Allzu gerne hätte er die Westfassade mit den beiden Türmen noch vollendet, doch zuletzt hatten seine Kräfte immer mehr nachgelassen. Ein Trost, dass sein Sohn Johannes bereits erfolgreich die Meisterprüfung abgelegt hatte und somit in seine Fußstapfen treten konnte. Als sein Nachfolger würde er die Leitung der Dombauhütte übernehmen. So wäre immerhin sichergestellt, dass die Arbeiten in seinem Sinne und nach seinen Plänen fortgeführt würden.

Erwin von Steinbach und seine Tochter Sabina

Zu seinem allergrößten Glück beherrschte auch seine Tochter Sabina die Steinmetzkunst auf das Vortrefflichste. Er hatte ihr die Arbeiten am Südportal übertragen, die sie mit einer Finesse und Kunstfertigkeit ausführte, die selbst ihn zum Staunen brachten. Besonders die beiden symbolischen Figuren der Ecclesia und der Synagoge waren ihr vortrefflich gelungen. Die edle, anmutige Haltung der weiblichen Allegorie des Christentums mit Krone, Kreuz und Kelch gereichte dem Münsterbau zur vollkommenen Ehre. Doch auch die Statue der Synagoge brauchte den Vergleich mit den großen Meistern der Zunft nicht zu scheuen. Dazu dieses lockige Haar und die nur mit einem hauchdünnen Schleier verbundenen Augen. Und wie sie erst diese luftigen, fließenden Gewänder aus dem Stein gezaubert hatte! Erwin war enorm stolz auf seine Tochter.

Der letzte Wunsch des Dombaumeisters

Selbst jetzt, auf seinem letzten schweren Gang, konnte er sich auf sie verlassen. Keine Minute wich Sabina von seiner Seite. Das Herz wurde ihm zentnerschwer. Ach, wäre ihm doch nur noch ein wenig mehr Erdenzeit vergönnt, um sein Lebenswerk beenden zu können. Doch es sollte nicht sein. Gott hatte nun andere Pläne mit ihm. Also blieb Erwin nur ein letzter Wunsch. Unbedingt wollte er noch einmal die wunderschön gestaltete Fensterrose in all ihren Farben zwischen dem fein herausgearbeiteten Maßwerk strahlen sehen.

Westfassade mit Rose der Cathedrale de Strasbourg

Sabina las ihrem Vater jeden Wunsch von den Augen ab. Sofort schob sie sein Bett Richtung Fenster, legte ihm ein weiteres Kissen in den Rücken und hielt seine schwache, abgezehrte Hand. Gemeinsam betrachteten sie, wie die Sonne sich langsam auf die Westfassade senkte, den rosa Sandstein zum Glühen und die Fensterrose zum Leuchten brachte. Eine einzelne Träne lief über des Meisters eingefallene Wange, bevor er mit einem Lächeln auf den Lippen seine Seele dem Herrn anvertraute.

Eine Geschichte zu schön, um wahr zu sein? In der Tat. Doch sie ist noch nicht zu Ende.
Als Sabina mit einer zärtlichen Geste die Augen des Dahingeschiedenen schließen möchte, machte sie eine wundersame Entdeckung. Die Fensterrose spiegelte sich noch immer auf den Pupillen ihres Vaters. Erwin von Steinbach hatte sein liebstes Meisterwerk nun für immer in Erinnerung.

Die elsässische Geschichtsschreibung – ein Terrain voller Unkraut

Statue Sabina von Steinbach von Philipp Grass am Suedeingang zum Strassburger Muenster

Springen wir etwas über 500 Jahre weiter. Ludwig Schneegans, Archivar und zweiter Bibliothekar der Stadt, hatte 1852 gerade seine Straßburger Münster-Sagen veröffentlicht. Im Kapitel „Sabina“ ist zu lesen wie „die reine Jungfrau, mit dem Beistande Gottes, aus dem rohen, kalten Steine manches liebliche Gebild erschuf„. Und während Schneegans in seiner Erzählung die Kunstfertigkeit der lieblichen Tochter, die „dem Vater hülfreich zur Seite stund“ in den höchsten Tönen lobt, stößt er sie im Nachsatz mit den Worten „obige Sage über die Bildhauerin Sabina, als angebliche Tochter Erwins von Steinbach […] ist durchaus nichts anderes als verstümmelte Geschichte“ gnadenlos vom gemeinsamen Thron des „hohen Vaters Glorie„.

Bereits zwei Jahre zuvor hatte Schneegans mit einem 40-seitigen Artikel in der Revue d’Alsace mit dem Mythos Sabina als Tochter Erwin von Steinbachs aufgeräumt. Schon in der Einleitung zu dieser historischen Richtigstellung bezeichnete er die Geschichte der Kunst seiner Heimat wenig schmeichelhaft als ein Feld, in dem es nicht nur zu säen und zu ernten, sondern ebenso viel Unkraut auszureißen gibt, das seine Vorgänger ungeachtet ihres Eifers und Wissens überreichlichen hinterlassen haben.

Und mit dem Unkraut zielte der Historiker besonders auf die groben geschichtlichen Unwahrheiten und Fehler ab, die sich seit Jahrhunderten von Buch zu Buch fortschrieben, sodass sie inzwischen allgemein anerkannt waren. Deshalb empfand er es umso schwieriger, die in den Köpfen der Menschen festgesetzten Irrtümer zu revidieren oder gar zu eliminieren. Ein deutlicher Seitenhieb auf die Kopier- und Übertragungsfehler der Chronisten, die die glorreiche Aura um Sabina von Steinbach reichlich befeuerten.

Den Grundstein für das historische Missverständnis legte Daniel Specklin, seines Zeichens hoch angesehener Ingenieur, Festungsbaumeister und zuletzt selbst ernannter Historiograph. In seiner Straßburger Chronik trat die Meistertochter Sabina als Baumeisterin des Südquerhausportals Ende des 16. Jahrhunderts erstmals schriftlich in Erscheinung.

Ein Missverständnis reist durch die Jahrhunderte

Eins zu eins übernahm im Jahr 1617 Pfarrer Oseas Schadaeus die Ausführungen Specklins in sein illustriertes Münsterbüchel mit dem Titel: Summum Argentoratensivm Templum: Das ist: Außführliche vnn eigendtliche Beschreibung deß viel kuonstlichen / sehr kostbaren / vnd in aller Welt beruohmten Muensters zu Straßburg […]“. Dabei waren dem lutherischen Geistlichen ebenso wie seinem Vorgänger sträflicherweise entgangen, dass das Südquerhausportal bereits 1235 vollendet war. Demnach wäre Sabina bereits am Münster tätig gewesen, als ihr Vater noch nicht einmal geboren war. Dieser erblickte nämlich erst 1244 das Licht der Welt.

Mit noch mehr Elan verbreitete ein knappes Jahrhundert später der Altertumsforscher Johann Schilter die Ikonisierung der Sabina von Steinbach. Auch er vereinnahmte für seine Ausführungen die von Specklin in einen falschen Zusammenhang gesetzte lateinische Inschrift am Südquerhausportal. Demnach hielt eine der zwölf während der Französischen Revolution heruntergeschlagenen Apostelfiguren ein Spruchband in der Hand, auf dem in latinischer Sprache Folgendes zu lesen war: GRATIA DIVINAE PIETATIS ADESTO SAVINAE DE PETRA DURA PER QUAM SUM FACTA FIGURA (in etwa: Dank der großen Frömmigkeit der Sabina (Savinae), die mir in diesem harten Stein Gestalt gab). Der offensichtlich fantasiebegabte, aber absolut unkritische Schilter generierte daraus seine eigene Version: „Die Gnade Göttlicher Barmherzigkeit stehe bey der Savine von Steinbach, durch welche ich, diese Figur gemacht worden bin.“

Und so verwandelte sich in Nullkommanichts die mittelalterliche Savina, die mit hartem Stein umzugehen wusste oder womöglich als Stifterin erst die Bearbeitung des harten Steins ermöglichte, in die Tochter des berühmten Baumeisters Erwin von Steinbach. Seither zieht sich eine vor über 400 Jahren in die Welt gesetzte Fehlinterpretation als falscher roter Faden durch die Geschichtsbücher.

Sabina von Steinbach und die Romantiker

Gemaelde Sabina von Steinbach von Moritz von Schwind; 1844; Nationalgalerie in Berlin

Selbstverständlich fiel die Gestalt der mythischen und künstlerischen Über-Sabina bei den Romantikern des 19. Jahrhunderts auf fruchtbaren Boden.
Zu den bekanntesten Sabina von Steinbach-Darstellungen gehört mit Sicherheit das 1844 entstandene Ölgemälde des Österreichers Moritz von Schwind. Im Vordergrund hämmert und meißelt Sabina fleißig an der Büste der allegorischen Synagoge. Auf dem Regal über symbolisiert die väterliche Büste ihre familiäre als auch künstlerisch-geistige Verbundenheit. In den Kulissen des Bildes erkennt man neben dem Straßburger Münster auch Meister Erwin von Steinbach selbst sowie sein Auftraggeber Bischof Konrad III. von Lichtenberg. Der daneben in die Arbeit vertiefte Steinmetz wird gerne als Johannes, Sohn und Nachfolger des Leiters der Dombauhütte, gedeutet.

Und die Legende trug noch weitere Früchte. Seit Mitte der 1860-er Jahre erinnern am Aufgang zum Südquerhausportal zwei vom Elsässer Bildhauer Philipp Grass angefertigte Sandstein-Statuen an den bekanntesten aller Straßburger Dombaumeister und seine Tochter. Während Erwin von Steinbach in nachdenklicher Pose mit den Bauplänen der Kathedrale in der Hand den Blick über seine Wirkungsstätte schweifen lässt, hält ihm gegenüber Sabina ein Fäustel in der Hand, als ob sie noch letzte Hand an dem ihr zugeschriebenen Portal anlegen müsste.

Sabina von Steinbach – Mythos oder Wahrheit?

Existierte nun die Meistertochter tatsächlich oder ist sie doch nur ein Phantom? Eine blumige Erfindung der Chronisten, die aus der ständigen, unkritischen Wiederholung eine Wahrheit kreierten?

Dazu muss man sich die Frage stellen, ob Frauen im Mittelalter überhaupt in dieser offensichtlichen Männerdomäne Fuß fassen konnten. Die Straßburger Münsterbauhütte, die mit ihrer ersten urkundlichen Erwähnung um 1224/1228 älteste und einflussreichste Bauhütte Europas, besaß nicht nur eine straffe Organisation, sondern auch schriftliche Regelungen zu Rechten, Pflichten und der Ausbildung ihres Berufsstandes. So durften mit 14 Jahren nur diejenigen in die Lehre gehen, die von ehelicher Geburt waren. Fünf Jahre dauerte die Ausbildung bis zur Gesellenprüfung, an die sich obligatorisch eine mindestens zweijährige Wanderschaft anschloss. Danach bestand die Möglichkeit, sich als Meisterdiener zu verdingen, um nach weiteren zwei bis drei Jahren die Meisterprüfung abzulegen.

Frauen wurden in den Statuten der Münsterbauhütte nicht erwähnt. Das könnte darauf hindeuten, dass ihnen der Zugang zum Berufsbild des Steinmetz oder Baumeisters nicht grundsätzlich verwehrt war. Doch war es realistisch, dass eine Frau eine zehnjährige Ausbildung durchlief, um sich danach an Heim und Herd wiederzufinden? Wohl kaum. Es sei denn, sie widmete sich, wie es Sabina von Steinbach angedichtet wurde, ausschließlich ihrer beruflichen Bestimmung und führte ansonsten ein frommes und keusches Leben.

Möglicherweise veranlasste diese theoretische Möglichkeit den kritischen Straßburg Historiker Ludwig Schneegans dazu, uns nicht ganz der Illusion einer äußerst begabten Bildhauerin namens Sabina zu berauben. Zwar nicht in der Rolle der Tochter Erwin von Steinbachs, aber doch als überaus kunstfertige Steinmetzin mit einem besonders sensiblen Händchen für anmutige Gesichter und faltenreich-fließende Gewänder. Ob sich hinter ihr sogar der bis heute unbekannte Ekklesiameister verbirgt, der neben den Figuren am Südportal auch den einzigartigen Engelspfeiler anfertigte, ist und bleibt eines der großen Geheimnisse des Straßburger Münsters.


Gut zu wissen

Weitere Werke des Bildhauers Philipp Graß

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