
Ruesta – eine Geisterstadt am Jakobsweg in Aragonien
Ich stehe vor einem durchgestrichenen Ortsschild.
Dahinter säumen verlassene und eingestürzte Gebäude die Durchgangsstraße. Ich bekomme Gänsehaut. Soll ich überhaupt anhalten und aussteigen?

Das Meer der Pyrenäen – Fluch und Segen
Ich bin auf dem Rückweg von meinem Ausflug zur Höhenburg Loarre. Auf mäanderähnlichen Landstraßen ging es bergauf und bergab, vorbei am Embalse de Yesa. Der wegen seines immensen Speichervolumens von 450 Millionen Kubikmetern Wasser und einer Länge von 18 Kilometern mit dem Spitznamen „Meer der Pyrenäen“ bedachte Stausee, wurde 1959 fertiggestellt.
Im Sommer stellt die Talsperre für den Fluss Aragón die Bewässerung landwirtschaftlicher Nutzflächen sicher, und während der Zeit der Schneeschmelze sorgt sie für den erforderlichen Hochwasserschutz.
Soweit der positive Aspekt.
Allerdings forderte das ambitionierte und bis heute umstrittene Bauprojekt seinen Tribut. Die Weiler Ruesta, Tiermas und Escó fielen dem Stausee zum Opfer. Alle drei Ortschaften wurden mitsamt ihren fruchtbaren Weideflächen und ihrem kulturellen Erbe in den 1960 Jahren geflutet. Die insgesamt 1500 Einwohner siedelte man kurzerhand um.

!Hóla! Ist da jemand?
Ich spüre, ich bin in Ruesta nicht willkommen, obwohl es ganz offensichtlich niemanden gibt, der mich überhaupt willkommen heißen könnte.
Vorsichtig öffne ich meine Autotür einen Spaltbreit und behalte den Rückspiegel im Auge. Jederzeit bereit, bei einer verdächtigen Bewegung schnellstens das Gaspedal durchzutreten und die Flucht zu ergreifen. Nach fünf Minuten immer noch kein Geräusch, kein heranschleichender Schatten, kein Gekläffe herumstreunender Hunde. Die Luft ist rein. Also lasse ich Meister Hasenfuß im Auto zurück und steige aus.
Welch deprimierender Anblick!
An der Stelle, an der früher das Leben in den Wohnhäusern pulsierte, herrscht heute Totenstille. Nur noch Ruinen klammern sich mit letzter Kraft und Verzweiflung an einen nicht vorhandenen Strohhalm des Vergessens. Ein erbarmungsloses Zeugnis der Vergänglichkeit menschlichen Daseins. Die Ziegeldächer sind eingestürzt, die darunterliegenden Dachstühle hängen an einem letzten seidenen Faden. Leere Fensterhöhlen, zusammengebrochene Zwischenwände und Außenmauern schauen mich anklagend an. Balkone klammern sich mit letzter Kraft an der Fassade fest, während Holzbalken bereits jeglichen Halt verloren haben und kreuz und quer zwischen den Ruinen verteilt herum liegen. Unkraut und Gestrüpp erobern sich unaufhaltsam ihr natürliches Terrain zurück.
Allen Warnschildern zum Trotz kämpfe ich mich durch Brennnesseln und Dornengestrüpp. Ich steige über Mauerwerk, zersplittertes Glas und herabgefallene Dach- und Deckenbalken, um zur Anhöhe mit der Ruine des Bergfrieds zu gelangen.
Einst strategische Grenzfestung am Jakobsweg – heute nichts als Ruinen
Wie zur Salzsäure erstarrt, kämpft der 25 Meter hohe, monumentale Torre del Homenaje ums Überleben. Ein Mahnmal gegen das Vergessen. Ein ebenso stark in Mitleidenschaft gezogener Eckturm hält solidarisch mit dem einstigen Wohnturm die Stellung. Über eine gleichermaßen ramponierte Befestigungsmauer versuchen sie sich gegenseitig ein wenig Halt zu geben. Ob sie wissen, dass dieser Kampf, diese Schlacht nicht gewonnen werden kann? Sie sind die letzten Zeugen der Festungsanlage, die sich einst über das ganze Plateau von fast eintausend Quadratmetern erstreckte.
Ruesta war, nachdem die Mauren zu Beginn des 10. Jahrhundert aus diesem Landstrich zurückgedrängt wurden, lange Zeit eine strategische bedeutende Grenzfestung zwischen den Königreichen Aragón und Navarra. Zunächst sorgte der König von Navarra für den Wiederaufbau der von den maurischen Eroberern zurückgelassenen Burganlage, bevor sie 1050 an den aragonischen Herrscher abgetreten wurde. In diesem Zeitraum begann die Besiedlung des Weilers um die militärische Anlage herum. Selbstverständlich durften als Station auf dem Jakobsweg auch Kloster und Kirche nicht fehlen. Ruesta war zweifellos von großer strategischer Bedeutung, denn als die Grenzstreitigkeiten um das fruchtbare Land im ausgehenden 13. Jahrhundert wieder zunahmen, ließ der König sogar die Stadt selbst befestigen. Ab dem 15. Jahrhundert verlieren sich die Aufzeichnungen über das Kastell.


Ein aussichtsloser Kampf oder gibt es eine zweite Chance für Ruesta?
Jetzt verstehe ich, warum das Ortsschild durchgestrichen ist. Ruesta hat aufgehört zu existieren. Fast. Bei meinem Streifzug durch die Trümmerlandschaft stoße ich unerwartet auf ein Lebenszeichen. Eine Herberge für die Pilger des Camino Francés. Das war es dann auch schon.
Anderweitige Wiederansiedlungsversuche wird es kaum geben. Den Einwohnern wurde jegliche Existenzgrundlage unter den Füßen weggezogen beziehungsweise versenkt. Vergleichbar mit einen Patienten, den man reanimiert, aber gleichzeitig alle Gliedmaßen amputiert.
Zudem, was zählt schon ein instand gesetztes Gebäude, wenn Chaos und Verfall nach wie vor die Oberhand behalten? Eine einzelne Schwalbe macht noch lange keine Sommer. Auch 40 Jahre nach der Zwangsumsiedlung fühlt sich immer noch niemand verantwortlich, der Verwahrlosung Einhalt zu gebieten.

Was würde es denn kosten, die Einsturzgefahr zu bannen und den Schutt beiseite zu schaffen? Zweifelsohne ist es einfacher und kostengünstiger Verbots- und Kopfschutz-benutzen-Gebotsschilder zwischen den Ruinen zu verteilen. Aber geht man so mit einem Ort um, der auf eine über 1000-jährige Historie zurückblicken kann?
Stellt sich also die Frage:
Ist es von offizieller Seite nicht gewollt oder fehlt nur die treibende Kraft, die die Initiative ergreift, dieser historischen Stätte ein wenig Würde zurückzugeben?

Wer auch immer für das weitere Schicksal Ruestas verantwortlich zeichnet, würde gut daran tun, es nicht in einen namenlosen Flecken auf der aragonischen Landkarte zu verwandeln. Vielleicht fehlt auch nur die Vision, diesen Ort für Sommerfrischler attraktiv zu gestalten?
Abgeschiedenheit, Ruhe und Natur gibt es hier im Überfluss.

Gut zu wissen
Adresse
Ruesta despoblado
Provincia Zaragoza
Municipio Sigüés y Urriés
Spanien
Achtung!
Die Ruinen sind nicht gesichert.
Das Betreten erfolgt daher auf eigene Gefahr!
In der Nähe
Ermita de San Juan de Maltray
Etwa einen Kilometer außerhalb von Ruesta trifft man auf die Überreste einer romanischen Einsiedelei. Ihre Entstehung fällt vermutlich in das 12. Jahrhundert, doch herrscht Ungewissheit darüber, ob sie womöglich Bestandteil der gleichnamigen Klosteranlage war, welche bereits 200 Jahre zuvor in Betrieb genommen wurde.
Die Kapelle befindet sich in einem lamentablen und sprichwörtlich ruinösen Zustand. Schuld daran ist einmal mehr der Bau des Yesa-Stausees und das Versagen der verantwortlichen Stellen. Eine Konservierung des Gebäudes wurde nicht in Erwägung gezogen, da mit ihm gleichzeitig über zwanzig Kilometer des französischen Jakobswegs unter Wasser gesetzt wurden. Wo kein Weg, da keine Pilger, also auch kein Bedarf für eine Gebetsstätte.
Immerhin entschied man sich, bevor der fortschreitende Verfall unübersehbar wurde, die sich über die ganze Apsis erstreckenden romanischen Wandmalereien sicherzustellen und ins Diozösanmuseum nach Jaca zu verbringen. Nachdem um die Jahrtausendwende das Dach und weitere Wände einzustürzen drohten, versuchte man in einem dilettantischen Aktionismus den gänzlichen Verfall aufzuhalten. Absurderweise errichtete man über der Kapelle eine provisorische Überdachung, die die Ruine vor weiteren schädlichen Wettereinflüssen schützen sollte. Eine lächerliche Pseudo-Maßnahme, die wohl verschleiern sollte, dass die eigentliche Gefahr für die Kapelle immer noch von unten, nämlich vom immer wieder ansteigenden Wasserlevel des Stausees herrührt.
Anregungen für Erkundungslustige
Tiermas
Wer sich zwischen den Monaten September und Januar in der Nähe des Stausees von Yesa aufhält, sollte unbedingt einen Abstecher in das verlassene Dorf Tiermas machen, das am gegenüberliegenden Ufer von Ruesta liegt.
Mit viel Glück kann man Zeuge eines Phänomens werden, das nur dann auftritt, wenn der Wasserstand im Stausee besonders niedrig ist. Dieser Zustand kann manchmal nur weniger Tage, manchmal auch über eine Woche dauern. In dieser Zeit arbeiten sich die Ruinen des ansonsten vom Stausee komplett überspülten Dorfes langsam ans Tageslicht. Wie Ophelia, die als Geist den Fluten entsteigt. Dann wird Tiermas zum Geheimtipp für Gesundheitsbewusste und Anhänger der Hydrotherapie. Schon die Römer wussten um die natürlichen schwefelhaltigen Quellen, die hier brodeln und nutzten diese für ihre Therme. Daher auch der Name Tiermas. Auf 35 bis 40 Grad erwärmt sich das Wasser in den kleinen Tümpeln, in denen die entspannende, schmerzstillende und entzündungshemmende Eigenschaft des Schwefels ideal wirken kann.
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