Wehrkirche San Salvador in Gallipienzo
Spanien,  Unterwegs

Gallipienzo Viejo – ein aus der Zeit gefallenes Dorf in Navarra


Einmal mehr bin ich auf meinen Streifzügen durch das Grenzgebiet zwischen Navarra und Aragón auf meiner Standardstrecke zwischen Olite und Sangüesa unterwegs. Inzwischen kenne ich diesen Streckenabschnitt wie meine Hosentasche. Die wenigen Ortschaften, die die Nationalstraße säumen, kann ich beinahe auswendig auf- und die Kurven, Höhen und Senken der exakt dreißig Kilometer langen, monotonen Strecke mit geschlossenen Augen vorhersagen.

Umso überraschter bin ich, als mein Blick an einer kegelförmigen Silhouette am Horizont über dem Val de Aibar hängen bleibt. Was der morgendliche Hochnebelschleier gut versteckt hielt, nimmt im klaren Nachmittagslicht die Umrisse einer festungsähnlichen Gestalt an.

A long and winding road

Ohne zu wissen, was mich genau erwartet, entscheide ich mich für einen ungeplanten Abstecher. Kurzerhand verlasse ich vor Aibar die NA-132 auf eine schmale Landstraße, welche sich nach wenigen Minuten gabelt.

Zwei fast gleich lautende Orientierungsschilder zeigen in entgegen gesetzte Richtungen. Gallipienzo Viejo (altes Gallipienzo) und Gallipienzo Nuevo (neues Gallipienzo) verkünden die metallenen Hinweistafeln. Intuitiv entscheide ich mich für erste Option. Stilgerecht dazu erwartet mich auf den kommenden drei Kilometern eine stetig ansteigende, äußerst holprige und sich in zahllosen Kehrschleifen dahinziehende Fahrbahn. Unwillkürlich schießt mir der Refrain des Beatles Songs „The Long and Winding Road“ durch den Kopf.

Kurz nach dem Ortseingang verengt sich der Weg weiter, bis er geradeaus in einer Baustellen bedingten Sackgasse endet. Also heißt es Kehrtwende, um mir mit einer applauswürdigen Akrobatikübung hinter dem Lenkrad, die einzige freie Parkmöglichkeit in Verlängerung einer Bushaltestelle zu sichern.

Mit Umhängetasche, Kamera und zwei Objektiven bepackt wie eine Großwildjägerin, begebe ich mich anschließend zu Fuß hinein in das Gewirr der sich kontinuierlich den Hang immer weiter hoch schlängelnden Gassen. Zum  Glück ist die steinerne Erhebung leicht im Auge zu behalten, ansonsten würde mich ich in diesem Labyrinth hoffnungslos verlieren.

Ein Bollwerk in luftiger Höhe

Trotz der moderaten Nachmittagstemperaturen erreiche ich das Felsplateau schweißgebadet. Dafür bekomme ich ein Musterexemplar von einer Wehrkirche auf dem Silbertablett serviert. Trutzig, schmucklos, monumental. Dazu auf dem höchsten Punkt der Anhöhe errichtet. Näher könnte sie dem Himmel kaum sein.

Nordseite der Wehrkirche San Salvador in Gallipienzo
Chor der Wehrkirche San Salvador in Gallipienzo

Der nach Osten ausgerichtete Chor lässt deutlich erkennen, dass das Gebäude nicht aus einem Guss ist. Offensichtlich wurde hier, vergleichbar mit dem Kloster von Leyre, zunächst eine Unterkirche errichtet. Sie sollte das in diesem Bereich steil abfallende Gelände architektonisch ausgleichen. Zu einem deutlichen späteren Zeitpunkt muss dann die Oberkirche darüber gebaut worden sein. Die Unterkirche diente anschließend als Krypta, ohne die der gesamte Komplex aus beachtlichen 600 Metern Höhe ins Bodenlose stürzen würde.

Der Bau von San Salvador muss sich sehr lange hingezogen haben. Die Krypta mit dem zentralen Rundbogenfenster und der halbrunden Apsis trägt deutlich romanische Züge, während der darüber liegende, polygonale Chorraum mit dem Spitzbogenfenster der Gotik zuzuordnen ist.
Die unterschiedlichen Stilmerkmale und die lange Bauzeit sind für das ausgehenden Mittelalter nicht weiter ungewöhnlich. Befremdlich ist allerdings, dass sich die Baumeister keine Mühe gegeben haben, dem Ganzen ein halbwegs harmonisches Aussehen zu verleihen. Heute würde man diese architektonischen Unzulänglichkeiten als „Pfusch am Bau“ einstufen, aber auf äußerliche Schönheit kam es bei diesem imposanten Gebäude wohl kaum an.

Eine Postkartenidylle

Um die Kirche zu umrunden, bahne ich mir auf dem felsigen Untergrund einen Weg zwischen dornigem Gebüsch und wild wuchernden Sträuchern. Noch denke ich mir nichts dabei, dass das Fehlen eines Fußpfades entlang der fensterlosen Nordflanke einen bestimmten Grund hat. Zu sehr treibt mich die Abenteuerlust an. Um auf dem steil ansteigenden Terrain nicht abzurutschen, lege ich die letzten Meter fast auf allen Vieren zurück. Was die Natur dann für mich bereithält, entschädigt die Anstrengung.

Vor mir breitet sich ein atemberaubendes Panorama aus.
Über die Hausdächer von Gallipienzo Viejo hinweg, die sich die tapfer am schroff abfallenden Berghang festklammern, geht es hinunter ins Tal. Weit unten dreht der Río Aragón seine Schleifen bis hin zum östlich gelegenen Nachbarort Cáseda. Im Süden erheben sich die Ausläufer der Sierra de Peña, welche im Westen nahtlos in die tiefseeschwarzen Berge von Ujué übergehen.
Ich bin ganz hin und weg!

 «Gallipienzo está en un alto y Cáseda en una cuesta. Si Gallipienzo se cae a Cáseda la revienta». Gallipienzo liegt auf einer Anhöhe, und Cáseda am Fuße des Abhangs. Wenn Gallipienzo herunterfällt, wird Cáseda zerquetscht.
Während die Gallipienzer mit diesem Spruch seit Generationen ihren offensichtlich besonders „geschätzten“ Nachbarort aufziehen, wird mich dieses in Worte gefasste Bild stets an meinen Besuch hier in luftiger Höhe erinnern.

Jedem Aufstieg folgt auch ein Abstieg

Nachdem ich bestimmt die Hälfte meines Speicherchips verknipst habe, wende ich mich wieder dem eigentlichen Hauptdarsteller meines spontanen Ausfluges zu. Auch von dieser Seite bestätigt sich der Wehrcharakter dieses Gotteshauses. Filigrane Elemente sucht man hier vergebens. Der rechteckige Kirchturm ähnelt eher einem mittelalterlichen Bergfried als einem Glockenturm, zumal man seine beiden Rundbogenfenster zugemauert und ihn somit um seine herrliche Aussicht kastriert hat.

Glockenturm der Wehrkirche San Salvador in Gallipienzo

Ich grüble noch über die zugemauerten Fenster nach, als meine Füße beinahe ins Leere treten. Vor mir öffnet sich ein gähnender Abgrund. Ok, jetzt übertreibe ich ein wenig, aber für einen Augenblick ist mir doch das Herz in die Hose gerutscht.
Endlich geht mir ein Licht auf, weshalb ich bisher weder auf einen Weg noch Trampelpfad gestoßen bin. Wenn man sich sozusagen durch den Hinterhof anschleicht, kann man nicht erwarten, mit Pauken und Trompeten begrüßt zu werden.

Und der zweite Lichtblitz lässt auch nicht lange auf sich warten. Logischerweise folgt jedem Anstieg auch ein Abstieg. Dass der Abstieg auf der Südseite aber nicht über offenes Gelände, sondern über eine provisorisch aufgestellte Leiter zu erfolgen hat, damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Jegliches hilfesuchende Umschauen ist vergeblich. Es gibt keine Alternative zu dem wenig stabil anmutenden Holzgestell. Also verstaue ich meine schwergewichtige Halsdekoration aus Kamera und Objektiven in meiner Umhängetasche und steige Stufe für Stufe, die Tragfähigkeit austestend, vorsichtig hinab.

Wehrkirche San Salvador in Gallipienzo

Leider werde ich für meine halsbrecherische Aktion nicht belohnt, denn vergeblich rüttle ich an dem schnörkellosen Spitzbogen-Portal. Bin ich deswegen überrascht? Nein! Enttäuscht? Im ersten Moment, ja. Doch dass dazu, abgesehen vom Besuch der Krypta, kein Anlass besteht, sollte ich erst nach meiner Rückkehr ins Hotel in Erfahrung bringen.

Die letzten, stummen Zeitzeugen

Ich kehre dem Portal den Rücken zu und verlasse, vorbei an der ebenfalls abgeschlossenen Türe zur Krypta, den ummauerten Eingang durch ein geöffnetes Eisengitter. Eine paradoxe Einrichtung dieses Gitter, denn zu holen gibt es hier nichts, außer dem kostenlosen Blick bis zum Horizont.

Bevor ich das Felsplateau verlasse, komme ich an zwei einsamen Grabmälern vorbei. Das eine aus Stein, das andere mit einem schmiedeeisernen Aufsatz, den zwei Engeln zieren. Noch kann man die beiden Inschriften entziffern. Noch haben die beiden Verstorbenen eine Identität, vergessen hat man sie trotzdem. Beide Grabstellen wurden vor knapp über 80 Jahren errichtet. Sie scheinen die letzten und einzigen Überlebenden eines neben der Kirche gelegenen Friedhofes zu sein, auf dessen Existenz nur noch ein schlichtes Steinkreuz auf der soliden Friedhofsmauer hinweist. Wenn ich mir ihren jetzigen Zustand anschaue, weiß ich, sie sind schon seit langer Zeit unter sich.

Melancholie beschleicht mich. Wie vergänglich der Mensch doch ist. Sowohl im Leben als auch im Tod. Tagtäglich versuchen wir unserem Dasein einen Sinn zu geben. Wir streben danach, der Nachwelt etwas Nachhaltiges von uns zu hinterlassen. Etwas, das uns denken lässt, nicht umsonst gelebt zu haben. Etwas, das uns ein klein wenig unsterblich machen soll. Doch sind wir einmal ehrlich zu uns selbst. Die Zeitspanne, die unser irdisches Dasein im Angesicht der Millionen Jahre seit Entstehung der Erde umfasst, gleicht der Bedeutung eines Wassertropfens im Ozean.

Gallipienzo Viejo – ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist

Auf dem Rückweg zu meinem Auto genieße ich den Streifzug durch Gallipienzo. Beim Aufstieg war ich viel zu sehr darauf konzentriert, mein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und dabei noch die Balance auf dem unebenen Weg zu halten. Rund um mich herum und vor allem zu meinen Füßen liegt eine Welt, in der die Zeit vor Jahrhunderten stehengeblieben ist. Es ist verdächtig still. Nicht einmal bedrohliches Gebell ist zu vernehmen.

Die Mehrzahl der aus groben, unregelmäßigen Steinquadern zusammengesetzten Häuser laden zum Tag der offenen Türen und Fenster ein. Ein Blick nach drinnen verrät, hier wohnt schon lange niemand mehr. Manchmal fehlt schlichtweg der Dachstuhl oder er liegt als Schutt- und Geröllhaufen auf dem Erdboden der Wohnruine. Bei den wenigen Gebäuden mit Türen sind diese mehrheitlich zugenagelt. Unter mir weder Asphalt noch Beton, sondern einfach nur Steine. Manchmal in geordneter Ausrichtung, manchmal als ob sie vom Himmel geregnet und am Aufschlagpunkt fest getreten worden wären. Ich fühle mich wie auf einer…

Zeitreise in die Vergangenheit

Wir schreiben das Jahr 924. Von meiner Warte auf dem höchsten Punkt des Berges kann ich die im Tal dem Flusslauf des Río Aragón folgenden Truppen des arabischen Emirs Abd al Rahman III, vorbeiziehenden sehen. Ihr Hufgetrappel, ihr Säbelrasseln, ihr fremdländisches Stimmengemurmel dringen bis in meine Höhe vor. Zwischen den Baumkronen blitzen von Zeit zu Zeit die Spitzen ihrer Wurfspeere in der Sonne auf. Ein prachtvolles Heer auf seinem Eroberungsfeldzug von Carcastillo über Sangüesa nach Pamplona.

Ein Jahrhundert später richtet sich ein neuer Burgherr auf der Festung von Gallipienzo ein. Es ist Ramiro I., unehelicher Sohn Sancho III. el Mayor. Die maurischen Eroberer stellen keine Bedrohung mehr dar, also können die verstreuten Häuser am Hang gefahrlos in die Verwaltungsobhut vertrauter Edelmänner des Königs übergeben werden. Der Weiler profitiert auf wirtschaftlichem Sektor von Pachtzinserleichterungen und der Erteilung von Sonderrechten, den sogenannten Fueros. Demzufolge siedeln sich, trotz der unwirtlichen Lage, immer mehr Bauern und Handwerker in Gallipienzo an.

Ein absurder Wettstreit

Dann ertönt erneut Waffengeklirr in den Gassen und in die Garnison auf der hochgelegenen Burg kommt Bewegung. Die neue Bedrohung kommt von jenseits der Grenze zum aragonischen Nachbarn. Doch auch diesmal bleibt Gallipienzo vom direkten Kampfgeschehen verschont. Womöglich ist angesichts der extremen Hanglage und des strategisch optimalen Verteidigungspostens auf der Anhöhe eine feindliche Eroberung von vorneherein aussichtslos. Oder aber die Anekdote, die seit dem 13. Jahrhundert im Umlauf ist, enthält doch einen Funken Wahrheit. Gallipienzo gilt nämlich als hässlichste Stadt im Königreich Navarra.

Es wird erzählt, dass die Monarchen von Navarra und Aragón, Sancho el Fuerte bzw. Pedro II., wetteten, in wessen Königreich sich die hässlichere Stadt befindet. Nominiert für diesen wenig rühmlichen Vergleich waren Gallipienzo auf navarresischer Seite und Petilla de Aragón auf arragoneser Königsboden. Eine unabhängige Kommission kürte Gallipienzo zum Sieger. Somit hatte der Monarch von Navarra die Wette gewonnen und erhielt als Zuschlag das Dorf Petilla de Aragón, welches heute noch eine navarresische Enklave auf aragonischem Boden ist.

Die Uhr tickt weiter. Bei 1470 bleibt sie erneut stehen. Im Thronfolgekrieg zwischen dem Prinzen Carlos von Viana und seinem Stiefvater Juan II. de Aragón paktiert Gallipienzo mit der späteren Verliererseite. Als Vergeltungsmaßnahme werden die Einwohner gezwungen mit ihren eigenen Händen die Burgfestung abzureißen. Danach bummelt das Leben am Steilhang vor sich hin.

Blick auf Gallipienzo

Die moderne Zeit entzweit die Gemeinde

Dann ein letzter Zeitensprung in das Jahr 1968. Unterhalb meines Beobachtungspostens spielen sich dramatische Szenen ab. Zwei Drittel der Einwohner Gallipienzos packen unter Verwünschungen und Verfluchungen des anderen Drittels ihren Hausstand zusammen. Als alles verschnürt und verladen ist, beginnt der Exodus ins Tal. Es sind überwiegend jüngere Familien, die sich auf den Weg machen. Ihr Ziel ist keine fünf Kilometer weit entfernt und heißt Gallipienzo Nuevo. Eine Neubausiedlung in unmittelbarer Flussnähe. Doch kein freundlicher Gruß verabschiedet sie. Die Straßen sind von einer Sekunde auf die andere leer gefegt, die Zurückgebliebenen verstummt. Was war geschehen?

Zu Beginn der 60-er Jahre zählte der örtliche Pfarrer nur noch knapp 200 Schäfchen zu seiner Gemeinde und jedes Jahr wurden es weniger. Immer tiefere Sorgenfalten gruben sich in seine Stirn. Er betrachtete es als seine Pflicht, der Abwanderung Einhalt zu gebieten, auch wenn er die Menschen verstand, die sein Dorf verließen. Das Leben war hart und mühsam in Gallipienzo. Der technische Fortschritt hatte seine Gemeinde noch nicht erreicht. Kein fließendes Wasser, kein Strom. Die Wäsche musste tief unten im Fluss gewaschen, Trinkwasser aus einem Brunnen ins Dorf hochgetragen werden, ebenso wie die Getreide- und Heuernten. Doch er wollte nicht tatenlos zusehen, wie er in wenigen Jahren allein dastehen würde.

Besorgt ergriff er die Initiative und wurde bei der Regionalregierung vorstellig. Seine Idee, die Umsiedlung des gesamten Dorfes ins Tal. Die Regierung erteilte ihre Zustimmung und garantierte die infrastrukturellen Voraussetzungen. Der Pfarrer handelte nach bestem Wissen und Gewissen und viele Einwohner bejubelten sein Vorgehen. Aber eben nicht alle. Die Älteren empfanden diese Aktion als Verrat, die Jüngeren beschimpften die Älteren als ignorant und renitent gegenüber den sich verändernden Ansprüchen an die Lebensqualität. Gallipienzo war ab diesem Zeitpunkt unversöhnlich entzweit.

Blick von der Wehrkirche San Salvador in Gallipienzo

Bürgerkriegsähnliche Zustände

Allerdings hatten die Differenzen zwischen der neuen und der alten Gemeinde, die sich jetzt Gallipienzo de siempre (sinngemäß „von alters her“) bezeichnete, ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Lage spitzte sich so weit zu, dass 1981 die Bürgerkrieg ähnlichen Zustände sogar der größten spanischen Tageszeitung El País eine Schlagzeile wert waren. Die Bewohner vom Berg beschwerten sich bei der Regionalverwaltung, dass sie von den öffentlichen Verkehrsmitteln abgeschnitten seien, weil sich das für den Nahverkehr zuständige Busunternehmen Montañesa weigerte, Gallipienzo Viejo in seine Routenplanung einzubeziehen. Die Firma argumentierte seine Entscheidung mit Verweis auf die steile, engkurvige Strecke und den äußerst mangelhaften Zustand des Straßenbelages.

In einem zähen Ringen konnten sich beide Parteien auf einen Kompromiss einigen, der vorsah, dass der Montañesa zumindest zu bestimmten Anlässen und Feierlichkeiten Gallipienzo Viejo ansteuern sollte.

Bei einer der ersten Fahrten war sogar die Guardia Civil mit an Bord. Ob zum Schutze des Busfahrers oder um diesen mit Waffen- und Polizeipräsenz zur Fahrt zu überreden, bleibt im Dunkeln. Auf jeden Fall eine sinnvolle Präventivmaßnahme, um Schlimmeres zu verhindern. Womöglich wäre es sonst noch zur Geiselnahme gekommen, denn als der Bus wieder abfahren wollte, hatten die Alt-Gallipienzer-Wutbürger klammheimlich eine Straßensperre errichtet.

Doch damit nicht genug. Die Feindseligkeiten eskalierten weiter. So ist zu lesen, dass einer oder mehrere schießwütige Revolverhelden aus Alt-Gallipienzo das Ortsschild von Neu-Gallipienzo mit sage und schreibe 22 Gewehrkugeln ins Jenseits beförderten. Inzwischen hat sich die Lage, zumindest nach außen hin, wieder beruhigt, auch wenn der Konflikt unterschwellig weiterbrodelt.

Gallipenzo de siempre im 21. Jahrhundert

Meine Zeitreise in die Historie Gallipienzos ist an dieser Stelle beendet, das mittelalterliche Ambiente geblieben. Nur aus vereinzelten Ecken dringen verhaltene Lebenszeichen. Diese gehören den knapp 100 Gallipienzern und Gallipienzerinnen, die hier noch die Stellung halten. Sie wollen ihr Heimatdorf nicht aufgeben. Hier sind sie geboren und hier wollen sie beerdigt werden. Gallipienzo ist ihr zuhause. Mutig und unerbittlich kämpfen sie deshalb gegen den Zahn der Zeit an. Ihre Häuser sind herausgeputzt, eingerahmt von kleinen, in allen Farbschattierungen blühenden Gärten Edens neben der Eingangstüre.

Initiativen zur Entwicklung eines ländlichen Tourismus sind angelaufen, doch die Resonanz überschaubar. In vielen Bereichen, speziell was die Grundversorgung anbelangt, sind die notwendigen Voraussetzungen noch nicht umfänglich gegeben. Erfreulicherweise kann die Gemeinde trotzdem jedes Jahr einen minimalen Anstieg an Wochenendurlaubern beziehungsweise Zweitresidenten verzeichnen. Monetäre Unterstützung erfahren diese Bemühungen durch die Regionalregierung von Navarra. Allerdings hat diese „viele Baustellen“ und da die finanziellen Mittel nicht zur Gattung der schnell nachwachsenden Rohstoffe gehören, müssen sie sinnvoll und gerecht auf alle Kommunen verteilt werden.

In den letzten Jahren flossen aus dem Regionalhaushalt bereits mehrere Hunderttausend Euro in Ausbesserungsarbeiten des Pflastersteinbelags (um dem mittelalterlichen Erscheinungsbild einen Namen zu geben). Ein guter Anfang, der und davon bin ich fest überzeugt, sicherlich in der Restaurierung der San Salvador Kirche eine angemessene und längst überfällige Fortsetzung finden wird. Dafür gibt es einen einfachen Grund. Navarra ist das zweitältestes Königreich auf der iberischen Halbinsel und damit besonders stolz auf sein historisches Erbe. Und Gallipienzo, als eines der ältesten Dörfer Navarras, ist ein fest verankerter Grundstein dieses Erbes. Daraus resultiert sowohl eine kulturgeschichtliche Verantwortung als auch eine moralische Verpflichtung, die die Nationalregierung mit Sicherheit wahrnehmen wird.

Hotel-Hausaufgaben

Spät abends zurück im Hotel, durchforste ich den auf meinen Nachtisch immer weiter anwachsenden Bücherfundus nach Informationen zur Wehrkirche San Salvador de Gallipienzo. Der älteste Teil, die der Heiligen Margarita geweihte Krypta, stammt aus dem 12. Jahrhundert. Die Oberkirche mit Hauptschiff, Chor und Turm wurden erst in den beiden darauffolgenden Jahrhunderten fertig gestellt. Daher die unterschiedlichen Bauabschnitte.

Bis in das Jahr 1785 war San Salvador die Hauptkirche des Ortes. Danach wurden die Gottesdienste in der im Zentrum der Altstadt gelegene und damit ohne beschwerlichen Aufstieg erreichbare Pfarrkirche San Pedro, abgehalten. Was einst die Außergewöhnlichkeit der Wehrkirche ausmachte, nämlich die exponierte Lage mit dem fantastischen Ausblick, sollte ihr später zum Verhängnis werden. Mit dem Absetzen der liturgischen Handlungen in San Salvador brach auch ihr Niedergang an.

Wo andernorts der Vandalismus für den Ruin verlassener Gebäude sorgte, war es in Gallipienzo die Natur. Sie holte sich unerbittlich das ihr einstmals trutzig abgerungene Territorium wieder zurück. Die Kirche verfiel mehr und mehr, das Dach stürzte ein, Feuchtigkeit kroch die Wände hoch, die Mauern bröckelten.

1949 trat die Fundación para la Conservación del Patrimonio Histórico de Navarra auf den Plan und setzte sich für die Rettung und Konservierung der gotischen Wandmalereien im Kircheninnern ein. Zu diesem Zwecke sollten die über die gesamte Fläche der Apsis verteilten Szenen aus dem Leben und der Passion Christi abgetragen und in das Museo de Navarra nach Pamplona gebracht werden. Die Wandmalereien befanden sich zu diesem Zeitpunkt in einem für ihr Alter zwar beachtlichen, aber dennoch bereits bedenklichen Zustand. Schnelles Eingreifen war angesagt.

Zwei Meister-Maler

Als Glücksfall stellte sich heraus, dass die Fresken ab Mitte des 16. Jahrhunderts von einem voluminösen Hochretabel verdeckt gewesen waren. Als jedoch 1785 mit Schließung der Kirche und Verlegung des Gottesdienstes nach San Pedro auch das Altarbild mit umziehen musste, waren die bemalten Wände ihres Schutzschildes beraubt. Als weitere Überraschung kam bei der Abtragung der Malereien aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert plötzlich eine zweite Schicht an farbkräftigen Fresken zu Tage, die etwa 50 Jahre früher aufgebracht worden sein mussten. Durch diese Entdeckung gestalteten sich die Arbeiten äußerst schwierig und penibel. Ein Teil der Wandmalereien musste sogar, um sie nicht zu zerstören, in San Salvador belassen werden.

Einige Tage später, bei meinem Besuch des Museo de Navarra, musste ich mir unbedingt die Fresken, die hier seit 1955 eine neue Heimat gefunden haben, anschauen. Die interessanteste Erkenntnis war dabei, dass sich beide Maler, die unter den Namen 1.er Maestro de Gallipienzo und 2.o Maestro de Gallipienzo firmierten, mit denselben Thematiken auf den Wänden des Chorraumes verewigt hatten.

Was mag wohl der Anlass für die in einem relativ kurzen Zeitabschnitt durchgeführte Übermalung der ersten Arbeiten gewesen sein? War der Maestro Nummer Eins in Ungnade gefallen? Entsprach seine Ausführung nicht mehr dem Gusto der Zeit? Oder hatte Maestro Nummer Zwei einen reichen Mäzen, der ihm diesen eigentlich überflüssigen Auftrag vermittelte? An dieser Stelle bin ich mit meinen Recherchen in einer Sackgasse gelandet.

Meine Gunst gehört auf jeden Fall Meister Nummer 1. Seine Komposition wirkt auf mich harmonischer, sein Stil ausgereifter und die Figuren ästhetischer. Neue Pinsel malen eben nicht unbedingt besser.

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