TheCat - Richard Orlinski - L'Industrie Magnifique-2021
Straßburger Spaziergänge

L’INDUSTRIE MAGNIFIQUE 2021-Open-Air-Kunsterlebnis in Straßburg


In den kommenden 10 Tagen verwandeln sich ein Dutzend der schönsten Plätze Straßburgs mit insgesamt 30 aufsehenerregenden Kunstwerken in eine überdimensionale Freiluft-Kunstgalerie. Bereits seit einem Jahr mit Spannung erwartet, dann aber Pandemie bedingt verschoben, geht die ungewöhnliche Ausstellung L’Industrie Magnifique vom 3. bis 13. Juni 2021 in die zweite Runde. Dann steht die Hauptstadt Europas wieder unübersehbar im Zeichen des Dialogs von Kunst und Industrie.

Als weltweit einmaliges Projekt im öffentlichen Raum feierte die Fusion der beiden Gegenpole im Jahr 2018 mit 330.000 Besuchern eine überwältigende Premiere. Die diesjährige Neuauflage lässt darauf hoffen, dass dieses Ereignis zu einem Fixpunkt im Kulturkalender der Stadt avanciert.

L’Industrie Magnifique
Künstler + Industrie-Unternehmen = Ein einzigartiges Kunstwerk

Ziel der Symbiose aus Kunst und Industrie ist es, Künstler aus aller Welt mit begeisterungsfähigen elsässischen Unternehmern zusammen zu bringen, sodass in intensiver Kooperation einzigartige Kunstwerke entstehen. Dabei bringen die Kunstschaffenden ihre Inspiration, Kreativität und gestalterische Leistung mit ein, während die Industriebetriebe ihre Ressourcen, das technische Know-how und die Finanzmittel zur Verfügung stellen. Eine Zusammenarbeit, die beide Seiten befruchtet.

Die Künstler sind gefordert, sich mit dem Handwerk und den Materialien ihres Sponsors auseinanderzusetzen. Dagegen erfahren die Produkte des Industrieunternehmens nicht nur eine gänzlich ungewohnte Verwendung, sondern gleichzeitig eine fantasiereiche Aufwertung. Und gemeinsam profitieren beide Parteien von der Plattform der Öffentlichkeit, um sich und ihr Können in Szene zu setzen.

L'Industrie Magnifique-2021

30 Installationen auf Straßburgs attraktivsten Plätzen

Dieses Jahr stammen die über das ganze Stadtzentrum verteilten Kunstwerke von 63 nationalen als auch internationalen Künstlern in Kooperation mit 35 Sponsor-Betrieben. Neben der begehbaren Mega-Installation auf dem Place du Château warten weitere 25 originelle Skulpturen oder spektakuläre, teils monumentale Installationen sowie vier Foto-Ausstellungen auf die Besucher.

Ergänzt wird die Ausstellung von drei unterschiedlichen Themen-Führungen (zu buchen über das Portal des Tourismusbüros von Straßburg), Live- und Online-Konferenzen sowie persönlichen Begegnungen mit den Künstlern an ihren ausgestellten Objekten. Und für das bessere Verständnis der einzelnen Werke sorgen dreisprachige Hinweistafeln.

Um Euch richtig Lust auf dieses ungewöhnliche Kunsterlebnis unter freiem Himmel zu machen, möchte ich Euch eine Auswahl meiner persönlichen Highlights näher vorstellen.

Eine Installation, die nachwirkt

Sans faire des Vagues – Ohne Wellen zu schlagen-  von Gaëtan Gromer

Auf dem Place du Marché aux Poissons (Platz am Neuen Fischmarkt) – welch grandiose Symbolik! – sind drei Haie aufs Pflaster gespült worden. Ein weißer Hai, ein Hammerhai sowie ein Gemeiner Fuchshai. Auf den ersten Blick habe ich hier sicherlich nicht die aufsehenerregendste Installation der L’Industrie Magnifique vor mir. Künstlerisch eher schlicht angelegt, übertrifft sie jedoch in ihrer Eindrücklichkeit und Botschaft alle anderen Skulpturen oder Mega-Installationen der Ausstellung.

Die lebensgroß dargestellten Haie liegen alle drei verstümmelt und zum vor sich Hinvegetieren verdammt auf den Pflastersteinen. Ihre Rückenflosse (Finne) als auch die Seitenflossen wurden von Menschenhand amputiert. Dazu ertönt im Sekundentakt ein echolotartiges Geräusch für jeden Hai, der in diesem Augenblick auf derart qualvolle Weise verendet. Ein Ton-Erlebnis, das Fakten schafft.

Die Installation des Straßburger Klang-Künstlers Gaëtan Gromer versteht sich deshalb als Anklage gegen das sogenannte Hai- bzw. Shark-Finning. Hierbei handelt es sich um eine auf den Weltmeeren gängige und von vielen Fischfang-Nationen geduldete Praxis der Tierquälerei, um nichts anderes als die Profitgier und Eitelkeit der Menschen zu bedienen.

Shark-Finning – eine Schande für die Menschheit!

Mit bis zu 300 Kilometer langen Langleinen, an denen über 20.000 Köderhaken hängen können, durchkämmen die Hochseefischer die Gewässer der Südhalbkugel. Aber auch in der Nord- und Ostsee sowie im Mittelmeer findet diese unselektive Fangmethode häufige Anwendung. Dabei geht es einzig und allein um die begehrten Haiflossen. Die angeköderten Tiere werden an Bord gezogen, die Flossen amputiert und anschließend wieder ins Meer zurückgeworfen. Haifleisch selbst hat für die Fischer keinen kommerziellen Wert und bedeutet nur Ballast.

Die verstümmelten Haie verenden auf grausame Weise. Da sie durch das Abtrennen der Flosse(n) schwimmunfähig sind, sinken sie auf den Meeresgrund. Ihre Kiemen werden nicht mehr aktiv mit Wasser umspült, sodass der Sauerstoffmangel zu einem qualvollen, sich über mehrere Tage hinziehenden Erstickungstod führt.

Sans faire de vagues - Gaëtan Gromer - L'Industrie Magnifique-2021

Hier noch eweitere erschreckende Fakten zum Thema Shark-Finning

  • Pro Sekunde sterben weltweit drei Haie. In einem halben Jahr sind dies bereits über 42 Millionen.
  • Die Haiflosse macht nur 4 % des Körpergewichts eines Hais aus, d. h. 96 % des Hais werden nicht genutzt. Dies entspricht 200.000 Tonnen Haifleisch.
  • Ein Fünftel aller Haiarten sind vom Aussterben bedroht. Dies führt zu einem massiven Ungleichgewicht des maritimen Ökosystems. Zudem erreichen zahlreiche Haiarten erst nach 25 Jahren ihre Geschlechtsreife.
  • Größte Abnehmer für Haiflossen sind Hongkong, China, Taiwan und Thailand. Zu den bedeutendsten europäischen Haifangnationen zählen Spanien, Portugal und Frankreich.
  • Der durchschnittliche Kilogramm-Preis für die Flossen eines Hochseehais liegt bei etwa 600 €. Eine Schüssel Haiflossensuppe in einem asiatischen Nobelrestaurant kostet ab 100 Euro aufwärts. Dabei ist die Suppe aufgrund ihres neutralen Geschmacks absolut keine Delikatesse. Sie wird einzig und allein um des Prestiges Willen konsumiert.

Auch wenn die verstümmelten Tiere selbst keine Wellen mehr schlagen können, diese Installationen tut es für sie mit Bravour. Für mich eindeutig das spektakulärste Werk dieser Open-Air-Veranstaltung!

Mein Geheimtipp, um sich wegzuträumen

La Lumiere de Sirius – Das Licht des Sirius – von  Dorota Bednarek

Eigentlich müssten vor diesem Kunstwerk mehrere Strandliegen (natürlich Abstandsregel-konform) oder zumindest eine Bank stehen, denn die Installation der polnischen Malerin und Bildhauerin Dorota Bednarek auf dem Quai des Bateliers benötigt Muse zur Betrachtung.

La Lumière de Sirius - Dorota Bednarek - L'Industrie Magnifique-2021

Man sollte sich Zeit nehmen, um das das zunächst düstere Bild auf sich wirken zu lassen. Nur dann entfaltet es seine ganze Schönheit. Eine Schönheit, die durch die eigene Fantasie beflügelt, Fahrt aufnimmt und gleichzeitig eine ungemeine Ruhe und Friedlichkeit ausstrahlt. Im Vordergrund bricht sich in den heranrauschenden Wellen das Licht des Sirius, des hellsten Sterns am Nachthimmel, um sich anschließend von ihnen in der sich bis zum Horizont erstreckenden Unendlichkeit des Ozeans wegtragen zu lassen.

Dorota Bednarek appelliert mit ihrer Kunst an den Respekt des Menschen vor der Natur. Sie verbindet den Ozean als Ursprung allen Lebens mit der Lehre Platons. Das Gute, das Gerechte und das Schöne werden heute auf vielfältige Art und Weise ignoriert und mit Füßen getreten. Umso heller muss das Licht des Sirius leuchten, damit wir uns auf die humanistischen Werte der Menschheit als auch unserer Verantwortung gegenüber der Natur rückbesinnen.

Ein Kunstwerk für die gute Stimmung

L’Envol – der Abflug – von Paul Flickinger

L'Envol - Paul Flickinger - L'Industrie Magnifique-2021

Nur wenige Meter entfernt von der Installation La Lumière de Sirius, entdecke ich die kunterbunte Skulptur des elsässischen Künstlers Paul Flickinger und meine Stimmung hebt sich sofort.

Der mit farbigen Gesichtern und Vögeln bemalte Hybrid aus einem auf zwei stämmige Tierbeine reduzierten Flugkörper und einem markanten, dreieckigen, aber zugleich unheimlich sympathischen Menschengesicht hebt seinen Kopf neugierig in den frischen Wind. Optimistisch lächelnd blickt er in die Zukunft, während die beiden drolligen blinden Passagiere auf seinem Rücken neugierig und abenteuerlustig in die Weltgeschichte schauen.

Auch wenn die offizielle Übersetzung von L’Envol mit der Abflug angegeben wird, fände ich der Höhenflug eine wesentlich passendere Interpretation. Die Skulptur steht fest mit beiden Füßen auf seinem Podest am Quai des Bateliers. Abflug ausgeschlossen. Dennoch hindert es sie nicht, geistige Höhenflüge zu unternehmen und über die Zweckbestimmung des eigenen Lebens nachzudenken. So warten auch auf jeden von uns spannende Expeditionen und erfüllende Erlebnisse. Irgendwann und irgendwo. Doch nur, wenn man nicht stehenbleibt.

Mein Favorit in Sachen „Kunst benötigt keine Worte“

Terre de Ciel – Himmelsboden – Patrick Bastardoz

Der sieben Meter hohe Turm aus ganzen, zerbrochenen, natürlichen oder lasierten Ziegelsteinen beherrscht unübersehbar die Westseite des Place Broglie. In einer dreidimensionalen Explosion aus Formen und Farben lässt der Straßburger Maler Patrick Bastardoz am Platanen gesäumten Platz ein zweites Babel neu erstehen. Serpentinenartig arbeiteten sich die fragilen Elemente aus gebrannter Erde in allen erdenklichen Erdtönen von sand, über ocker bis siena, umbra, rot und braun in Richtung Himmel empor.

Doch je weiter es nach oben geht, umso mehr verlieren die Ziegelsteine ihre Ordnung. An der Basis gleichen sie noch halbwegs stabilen, terrassenförmig angelegten Häuserblocks, bevor sie sich in einem immer fragiler werdenden Chaos auflösen. Den unvollendeten Turm krönen schließlich mehrere Glasziegel. Bedeutungsschwere Symbolik für die Zerbrechlichkeit der menschlichen Schaffenskraft oder vielmehr der Wunsch nach mehr Klarheit im Leben?

Kunst für Jedermann

Der Kunst-Exkurs unter freiem Himmel hält viele Überraschungen bereit. Jede Installation hat ihren eigenen Charme, ihre eigene Aussagekraft. Die Materialien sind manchmal ebenso überraschend wie ihre künstlerisch-handwerkliche Umsetzung. Einige Werke sind filigran, tiefsinnig und philosophisch, andere wiederum grell und aufmerksamkeitsheischend. Dank dieser enormen Vielfalt findet mit Sicherheit jeder Kunstliebhaber seinen Favoriten.

Schade…

Schade nur, dass einige Objekte ihre volle Ausstrahlung erst mit gedämpftem Tageslicht erreichen. Ein Aspekt, der leider bei der Neuterminierung der Ausstellung die aktuell immer noch in Frankreich gültige Ausgangssperre ab 21 Uhr unberücksichtigt ließ. Dennoch ist auch die zweite Ausgabe der L’Industrie Magnifique einen Tagesausflug nach Straßburg wert. Ich bin deshalb gespannt, welche Installation Euch am besten gefällt.


Gut zu wissen

Die Installationen sind über das ganze Stadtgebiet verteilt.

Nachfolgend findet Ihr einen detaillierten Übersichtsplan.

Weitere wertvolle Informationen hält die Website der Association L’Industrie Magnifique bereit.

Ganz in der Nähe

Das Marseillaise-Denkmal am Place Broglie
Denkmal Marseillaise - Nachbau aus dem Jahr 1980, Place Broglie Strasbourg

Wer über den Place Broglie schlendert, um den knallroten Puma TheCat, die blaue Blase Bulbe Bleu oder den Turm zu Babel Terre de Ciel der Aussstellung L’Industrie Magnifique zu bestaunen, sollte auch unbedingt einen Blick in das Eingangsareal des Rathauses werfen. Hier steht eine Nachbildung des Marseillaise-Denkmals des 1867 in Straßburg geborenen Bildhauers Alfred Marzolff.
In meinem Blogbeitrag Strasbourg- Geburtsort der Marseillaise erfahrt ihr mehr über die Geschichte und Hintergründe der französischen Nationalhymne.

Das Denkmal des Straßburger Helden Reinhold Liebenzeller am Place des Tripiers
Statue des Rebellen und Ritters Liebenzeller mit Armbrust am Place des Tripiers in Strassburg

Schräg gegenüber der aufgeweckten Installation Libère ton Énergie erinnert ein imposantes Denkmal am Place des Tripiers im Herzen der Straßburger Altstadt an den Ritter Reinhold Liebenzeller. Der lange Zeit vergessene Freiheitsheld legte mit dem Sieg der Schlacht bei Hausbergen im Jahr 1262 den Grundstein für eine freie Reichsstadt.

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