Nordportal der Westfassade des Muensters von Strassburg
Münstergeschichten,  Straßburger Spaziergänge

Der Kampf der Tugenden gegen die Laster am Strassburger Münster


Die Zurschaustellung von Gut und Böse gehörte seit dem Mittelalter zur klassischen ikonografischen Ausstattung der Kirchenbauten in ganz Europa. Das Straßburger Münster machte hier keine Ausnahme, sondern verlieh dem Sieg der Tugenden über die Laster sogar eine ganz neue Dimension.

Steinmetzkunst par excellence

Die Westfassade der Cathédrale de Notre Dame de Strasbourg gehört zu den herausragenden Zeugnissen gotischer Steinmetzkunst. Figuren über Figuren über Ornamente tummeln sich zwischen, entlang oder neben den Fialen, Laibungen, Wimpergen, Gewänden und Strebepfeilern. Dazu liefern die Giebelfelder der drei Portale Schlüsselszenen aus dem Leben Jesu, während Engel, Heilige, gekrönte Häupter, Märtyrer und Apostel  in den Archivolten eine zweite Heimat gefunden haben.

Das Tympanon des Mittelportals fokussiert sich ganz auf die Passion Christi, angefangen vom Einzug Jesu in Jerusalem über das letzte Abendmahl bis hin zur Kreuzigung und Wiederauferstehung. Darunter stehen vierzehn Propheten des Alten Testaments als Gewändefiguren Spalier für die Jungfrau Maria mit Kind am Torpfosten.

Nordportal der Westfassade des Muensters von Strassburg

Ein weitaus munteres Schauspiel liefert der Südeingang der Westfassade mit dem Gleichnis der klugen und törichten Jungfrauen. Doch Vorsicht! So sehr auch die Figur des galanten Verführers amüsiert, man sollte nicht vergessen, dass im Bogenfeld darüber der Weltenherrscher Gericht hält.

Ebenfalls mit einer moralischen Mission empfängt das Nordportal, der heutige offizielle Zugang zum Straßburger Münster, die Kirchenbesucher. Hier wird seit Ende des 13. Jahrhunderts der Kampf der Tugenden gegen die Laster ausgefochten. Bevor wir allerdings schauen, wie im Norden das Ringen zwischen Gut und Böse ausgeht, widmen wir unsere Aufmerksamkeit dem dreigeteilten Bogenfeld mit der Kindheit Jesu. Während der Französischen Revolution durch übereifrige „Geister der Vernunft“ abgeschlagen, konnte das Tympanon dank erhalten gebliebener Zeichnungen des Münsterarchivs im 19. Jahrhundert wiederhergestellt werden.

Caspar, Melchior und Balthasar – Herodes Undercover-Agenten

Die Geschichte Jesu beginnt im unteren Register mit den Sterndeutern, die alias Heilige Drei Könige nach Jerusalem ziehen, um, wie es sich gehört, im Königspalast dem neugeborenen Messias ihre Aufwartung zu machen. Doch welch große Überraschung! Der amtierende Monarch Herodes weiß von nichts, wird aber sofort hellhörig. Ein neuer König der Juden? Was sollte das denn? Gerade erst hatte er seine Macht gefestigt und sein Reich mühsam ausgebaut und jetzt wollte ein Unbekannter ihm seinen Platz streitig machen? Schockiert lässt er nach den allwissenden Hohepriestern schicken, die ihm die Geburt des Königs der Juden im Städtchen Bethlehem bestätigen. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf.

Tympanon Nordportal an der Westfassade Strassburger Muenster

Herodes heuert die drei gar nicht so weisen Weisen als Spione an. Unter dem Vorwand, dass auch er dem Messias huldigen möchte, schickt er sie los, den zukünftigen Herrscher ausfindig zu machen. Anschließend sollen sie ihm detailliert Bericht erstatten. Caspar, Melchior und Balthasar begeben sich also nach Bethlehem. Dort finden sie die Jungfrau Maria mit Jesus vor und bringen als Gastgeschenke Weihrauch, Myrrhe und Gold dar. Bevor sie wieder nach Jerusalem aufbrechen, um pflichtschuldig ihre Mission für Herodes zu erfüllen, erscheint ihnen ein Engel mit göttlicher Nachricht. Also kehren die drei nicht an den Hof des missgünstigen Herodes zurück, sondern ziehen weiter ins Morgenland, woher sie kamen.

Giebelfeld mit Anbetung der Drei Koenige am Strassburger Muenster

Als Heroldes erfährt, dass er von den drei Weisen getäuscht wurde, lässt er im zweiten Register des Tympanons seine Soldaten im ganzen Reich ausschwärmen, um alle Knaben unter zwei Jahren zu töten. Eine Maßnahme mit reichlich Kollateralschaden, doch nur so kann er sicher gehen, dass kein neuer König ihm seinen Platz auf dem Thron streitig macht. Glücklicherweise können dank der Warnung eines weiteren Engels Josef und seine kleine Familie rechtzeitig nach Ägypten flüchten.

Giebelfeld mit Herodes und Auszug aus Aegypten am Nordportal des Strassburger Muensters

Chronologische Ungereimtheiten

Giebelfeld Nordportal am Strassburger Muenster

Im letzten Drittel des Bogenfelds erfolgt die Darstellung Jesu im Tempel. Dem Gesetz Mose zufolge gehörten alle erstgeborenen Jungen dem Gott Jahwe. Deshalb mussten sie am 40. Tag nach der Geburt, wenn die Frau wieder „rein“ war, dem Herrn präsentiert und anschließend durch ein Geldopfer ausgelöst werden. Als Maria ihr Kind auf einem Altar dem Priester Simeon zur Segnung übergibt, erkennt dieser in dem Knaben den Erlöser Jesus Christus.

An der kleinen chronologischen Ungereimtheit im Bogenfeld, nämlich die Präsentation im Tempel als letztes Episode in der Kindheitsgeschichte Jesu, darf man sich nicht stören lassen. Es wurde aus praktischen Gründen im obersten Register platziert, obwohl es eigentlich vor der Flucht nach Ägypten stattfand.

Doch wer möchte an dieser Stelle dem Steinmetz einen Vorwurf machen, wenn schon die Bibel als Vorlagengeber die historische Wahrheit nicht so genau nahm? Zwar besaß König Herodes zweifelsfrei despotische Züge, die sich in Gräueltaten an seiner engsten Verwandtschaft manifestierten, dennoch verstarb er bereits vier Jahre vor Christi Geburt. Also kann man ihm unmöglich den Kindermord in die Schuhe schieben. Auch wenn jede gute Erzählung einen Sündenbock benötigt.

Die Bibelinhalte sind deshalb mit äußerster Vorsicht zu genießen. Zumindest unter historischen Gesichtspunkten. Aber das Buch der Bücher erhebt auch keinen Anspruch auf verbürgte Geschichte. Vielmehr versteht sich die Heilige Schrift als niedergeschriebene Worte und Taten Gottes mit reichlich Interpretationsspielraum.

Insofern stellt sich durchaus die Frage nach dem „was wäre wenn…“. Was wäre passiert, wenn die drei Weisen aus dem Morgenland gleich dem Stern nach Bethlehem gefolgt und nicht irrtümlicherweise erst nach Jerusalem gegangen wären? Hätte es dann überhaupt das Massaker an den Unschuldigen gegeben? Welche Mitschuld tragen die Heiligen Drei Könige damit an dem Kindermord? Und weshalb berichtet nur Matthäus in seinem Evangelium über dieses Blutbad? Besaß er dafür die Exklusivrechte oder verfügte er über eine besonders lebhafte Fantasie?

Die Gewändefiguren der Westfassade – der ungewöhnliche Straßburger Weg

Während sich alle Engel, Bischöfe, gekrönte Häupter und Bekenner in den vier Bogenläufen entweder interessiert das Geschehen im Giebelfeld oder auf dem Münstervorplatz verfolgen, kehrt einzig der Heilige Laurentius dem grausamen Blutbad beschämt den Rücken zu. Mit dem Rost als Attribut seines Martyriums in der Hand wendet er sich nach Osten. Hier wartet nicht nur die Auferstehung, sondern auch die ihm geweihte Kapelle im nördlichen Querhaus.

Direkt zu den Füßen des gerösteten Märtyrers tobt der ewige Kampf der Tugenden gegen die Laster. Ein ungewöhnliches Bild, denn an den bedeutendsten französischen Kathedralen hatten sich entweder die Apostel oder andere bedeutende Heilige als klassische Gewändefiguren durchgesetzt. Anders am Straßburger Münster. Hier ging man neue Wege.

Man gab den Gläubigen beim Betreten der Kirche kein statisches christliches Geleit, sondern eine moralische Botschaft mit auf den Weg. In der Regel wurde der Kampf Gut gegen Bösen an den mittelalterlichen Kirchenbauten dezenter und diskreter geführt. Sei es im Getümmel der Archivolte oder in schmückenden Friesen. Dass sich das Domkapitel um das Jahr 1280 für diese prominente Platzierung entschied, lässt tief blicken. Hatten die Straßburger Bürger etwa einen XXL-großen symbolischen Fingerzeig nötig?

Nordportal der Westfassade des Muensters von Strassburg

Der Dualismus von Gut und Böse

Der Dualismus von Gut und Böse gehört zum elementaren Seelenkampf seit Menschengedenken. Schon der christliche Dichter Aurelius Prudentius widmete im 4. Jahrhundert nach Christus sein 725 Verse umfassendes episches Werk Psychomachia der inneren Zerrissenheit des menschlichen Wesens. Seine allegorischen, gegeneinander im Wettstreit liegenden Frauenfiguren dienten besonders im Mittelalter als ausgesprochen beliebte Vorlage zur bildnerischen Gestaltung.

Meistens beschränkte man sich dabei auf die Verkörperung der drei theologischen Tugenden Glaube (Fides), Liebe (Caritas), Hoffnung (Spes) sowie die vier antiken Kardinaltugenden Mut (Portitudo), Gerechtigkeit (Iustitia), Klugheit (Prudentia) und Besonnenheit (Temperantia). Ihnen wurden je nach persönlichen Präferenzen der Auftraggeber die fünf geistlichen Hauptlaster Hochmut (Superbia), Zorn (Ira), Neid (Invidia), Geiz (Avaritia), die beiden fleischlichen Sünden Völlerei (Gula) und Wollust (Luxuria) oder der Unglaube (Idolatria) gegenübergestellt. Allerdings war sowohl die Liste der positiven als auch negativen Geisteshaltungen und Handlungen beliebig erweiterbar.

Unter dem Deckmantel der Anonymität

Am Straßburger Münster konnten die Steinmetze dank des großzügigen Platzangebots aus dem vollen Tugend-Laster-Paarkatalog schöpfen. So positionierten sie zu beiden Seiten des Eingangs zum nördlichen Seitenschiff je vier gegensätzliche Allegorien als Gewändefiguren und dazu zwei weitere Statuen an den angrenzenden Strebepfeilern.

Tugenden und Laster an der Westfassade Cathédrale Notre Dame de Strasbourg

Die Untugenden erhielten mangels anderweitiger individueller Attribute ein Banner mit ihren menschlichen Verwerfungen an die Hand, sodass der aufmerksame Kirchgänger durchaus ohne die Spickzettel der „Gut-Damen“ Rückschlüsse auf die erstrebenswerten Eigenschaften ziehen konnte. Doch offensichtlich hatte der Zahn der Zeit wohl ein Einsehen mit den unwürdigen Kreaturen, sodass sie sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts in einem anonymen Lebens- und Seelenkampf unter den Füßen ihrer übermächtigen Gegnerinnen winden.

Möchte man spekulieren, könnte man als Anhaltspunkte für die Allegorien am Straßburger Münster die in Medaillons gefasste Gut-und-Böse-Dutzendware der Kathedralen von Paris und Amiens heranziehen. Ein nahe liegender Vergleich, zumal mehrere am Münsterbau beteiligten Bildhauer mit Sicherheit ihre Ausbildung an einer der beiden anderen herausragenden gotischen Marienkirchen absolviert hatten.

Tugenden und Laster an der Westfassade Cathédrale Notre Dame de Strasbourg
  • Humilitas (Demut) und Superbia (Hochmut)
  • Prudentia (Klugheit) und Stultitia (Torheit)
  • Castitas (Keuschheit) und Luxuria (Wollust)
  • Caritas (Liebe) und Avaritia (Habgier)
  • Spes (Hoffnung) und Desperatio (Verzweiflung)
  • Fides (Glaube) und Idolatria (Abgötterei)
  • Perseverantia (Beständigkeit) und Inconstantia (Unbeständigkeit)
  • Oboedentia (Gehorsam) und Contumacia (Ungehorsam)
  • Concordia (Eintracht) und Discordia (Zwietracht)
  • Mansuetudo (Sanftmut) und Malignitas (Bosheit)
  • Patientia (Geduld) und Ira (Zorn)
  • Portitudo (Mut) und Ignavia (Feigheit)

Doch trotz der ungewissen Identität der 24 Frauengestalten gibt es keinen Zweifel an der christlichen Botschaft. Schon der Größenunterschied zwischen Gut und Böse spricht für sich. Die winzigen Laster haben gegen die übergroßen Tugenden als Stellvertreterinnen eines reinen Glaubens nicht den Hauch einer Chance. Und deshalb wird auch der naturgegebene Seelenkampf für den Menschen ein gutes Ende nehmen, solange er nur fleißig der christlichen Lehre und der Kirche Folge leistet.

Kleider machen Leute

Was so einfach klingt, sieht leider in der Realität oftmals anders aus. Nicht immer behalten die Tugenden die Oberhand. Doch zumindest am Straßburger Münster ist die Welt in Ordnung. Die Laster, teils barhäuptig, teils mit einfachen Hauben oder unbequemen Gebenden ausgestattet, wirken schon rein äußerlich als Verliererinnen. Und für ihre seltsamen Verrenkungen, mit denen sie sich dem Zugriff der übermächtigen Dauerfeindinnen zu entziehen versuchen, ernten sie höchstens Spott und Hohn. Ihr Spiel ist aus. Sie haben nichts mehr zu verlieren, weshalb also Reue zeigen?

Die tugendhaften, früher polychromen Damen zeigen nämlich kein Mitleid gegenüber ihren Widersacherinnen. Gut behütet unter aufwendig verzierten Baldachinen stechen sie mit ihren Lanzen (sofern noch vorhanden) skrupellos auf die am Boden liegenden Geschöpfe ein. Hier wird ein Auge durchbohrt, dort der Kopf. Auch Hals und Nacken sorgen für eine sichere Trefferquote.

Doch nicht nur ihre Übergröße, sondern auch ihre vornehme Kleidung und die wertvollen Accessoires lassen die Tugenden in einem vorteilhaften Licht erscheinen. Aus meterlangen, steinernen Stoffbahnen entstanden bodenlange Gewänder, luftige Tuniken, geraffte Umhänge. Passend zu ihrem Status wurden sie mit Diademen, Schapeln und Edelstein besetzten Haarbändern als Kopfschmuck ausgestattet. Somit strahlen sie schon auf den ersten Blick eine unumstößliche Selbstsicherheit und Überlegenheit aus.

Aber ist ihre Gesinnung tatsächlich so edel, wie es ihre Kleidung und Haltung suggerieren? Sie präsentieren sich eitel, selbstgefällig, ja geradezu überheblich. Von Demut, Sanftmut oder gar Frömmigkeit kann keine Rede sein. Wollte der Steinmetz zu viel des Guten und erwies der Sache damit einen Bärendienst?

Egozentrische Steinmetzkunst oder pure Absicht?

Der Unterschied zur anmutigen Schönheit der Figuren am Südquerhaus-Portal ist eklatant. Während die Statuen der Ecclesia und Synagoge von den Haarspitzen bis zur Fußsohle eine natürliche Eleganz besitzen, stehen uns hier überwiegend gekünstelte, seelenlose Schaufensterpuppen gegenüber.

Der unbekannte Bildhauer hatte bei ihrer Ausfertigung wohl sein ganz eigenes Schönheitsideal vor Augen. So blicken wir in seltsam exotische Gesichter mit überzogen geschlitzten Augen, hochgezogenen Brauen, perückenartig ondulierter Haarpracht und einem spöttischen Zug um den verkniffenen Mund. Wir erleben eine künstlerische Gestaltung, die sich selbst in den Vordergrund rückt. Dagegen erhält die religiöse Ansprache eine Statistenrolle zugewiesen. Sie reduziert sich als Mittel zum Zweck mit der Kathedrale als perfekte öffentliche Plattform.

Oder habe auch ich mich täuschen lassen und hinter der übertriebenen Tugend-Inszenierung verbirgt sich ein weiterer Ratschlag an das Publikum? Lasst Euch nie von Äußerlichkeiten blenden! Ein Blick hinter die Kulissen lohnt jederzeit! Deshalb schaue ich mir gleich noch im Innern der Kathedrale das erste Glasfenster im nördlichen Hochschiff an, denn hier findet der zeitlose Kampf von Tugend und Laster eine farbenprächtige Fortsetzung.


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