Kapelle Kermaria an Iskuit - Vorhalle mit Apostelstatuen
Frankreich,  Unterwegs

Ker Maria an Iskuit – Totentanz im bretonischen Hinterland


Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich in der malerischen Abtei von Beauport vollkommen die Zeit vergessen habe. Jetzt heißt es Gas geben, um nicht zu spät zur Führung in Ker-Maria-an-Iskuit einzutreffen. Riesige Hortensienbüsche, Steinmauern, Hecken und Niemandsland rauschen an meinem Autofenster ebenso vorbei wie ein Umleitungsschild nach dem nächsten. Die Zeit rennt und die verbleibende Kilometerzahl bis zum erlösenden „Sie haben das Ziel erreicht“ wird einfach nicht weniger. Als ich die Hoffnung beinahe aufgegeben habe, nimmt mit der Anzahl der Schlaglöcher auf der schmalen Straße, auch die Entfernung zum Zielpunkt ab.

Vielleicht schaffe ich es doch noch rechtzeitig, um kein Detail dieser außergewöhnlichen Kapelle im Hinterland der Côtes D’Armor zu verpassen. Ker-Maria-an-Iskuit ist nämlich nicht nur berühmt für sein Totentanz-Fresko, sondern auch für ihre 31-köpfige Heiligen-Ausstattung, ein mumifiziertes Herz, eine entblößte Marienbrust und einen gespaltenen Schädel. Kein Wunder, dass sich bereits eine kleine Gruppe kunstinteressierter Enthusiasten auf dem Vorplatz eingefunden hat, als ich wie durch ein Wunder auf den Glockenschlag pünktlich dazustoße.

Und schon geht es mit der Besichtigungstour los. Marie Droniou, eine rüstige Jungsiebzigerin und langjährige Freiwilligen-Führerin, wird uns eine Stunde lang in die Geschichte, Geheimnisse und Schätze ihres Schmuckstücks einweihen. Dazu gehört natürlich auch die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Namens Ker Maria-an-Iskuit, wofür es eines bretonischen Linguistik-Schnellkursus bedarf.

Die kleine Ortschaft war schon immer ausgesprochen religiös. Ursprünglich galt die Verehrung allerdings ausschließlich Jesus. Deshalb hieß das Dorf Kergrist (ker = Dorf und grist = Christus). Die Umbenennung erfolgte nach dem Bau der Kapelle zu Ehren der Jungfrau Maria. Wohlgemerkt galt die Verehrung nur einer ganz besonderen Maria, nämlich Maria-an-Iskuit, sprich Maria, die aus der Not hilft. Und so entstand der neue Gemeindename Ker-Maria-an-Iskuit (Dorf Marias, die aus der Not hilft).

Elf Apostel und eine Vermisstenmeldung

Bevor wir die kleine Kapelle betreten, erwartet uns in der gotischen Vorhalle ein apostolisches Empfangskomitee. Elf Jünger Jesu bilden unter der bunt bemalten Gewölbedecke ein farbiges, hölzernes Ehrenspalier. Moment Mal! Sagte Madame Droniou gerade elf? Schnell zähle ich durch und tatsächlich auf der rechten Seite ist eine Nische verwaist. Doch bevor sie das Mysterium um die vakante Stelle lüftet, erhalten wir eine Nachhilfestunde in Sachen Apostelikonografie.

Tapfere Apostel und abscheuliche Mordwerkzeuge

Auf der Westseite der Vorhalle macht Petrus mit dem Schlüssel zur Himmelspforte unter den angedeuteten, kleeblattförmigen Arkadenbögen den Anfang. Ihm folgt der Heilige Andreas mit der Insigne seines Martyriums, dem Andreaskreuz, während Jakobus der Ältere mit Kalebasse und Pilgerstock ausgerüstet, bereit steht, seine Prediger- und christliche Anwerbungsreise ins ferne Spanien anzutreten. Daneben zeigt sich sein Bruder Johannes traditionell mit dem vergifteten Weinkelch in der Hand. Laut Überlieferung entwich das Gift nach Segnung des Kelchs in Gestalt einer Schlange, die hier allerdings nur zaghaft ihren Kopf aus dem Becher streckt. Nicht kämpferisch, sondern mit dem Werkzeug seines Martyriums präsentiert sich Bartholomäus. 1000 Soldaten benötigten seine ungläubigen Widersacher, um den Heiligen einzufangen und ihm die Haut mit dem Messer abzuziehen. Ob Philippus, der letzte Apostel auf der linken Seite, weniger gelitten hat, darf bezweifelt werden. Das lang gezogene Tau-Kreuz erinnert symbolisch an seine waagrechte Kreuzigung.

Kapelle Kermaria an Iskuit - Vorhalle mit Apostelstatuen

Die Apostelschau auf der linken Seite führt Simon Zelotes an. Durch unzählige Wundertaten zog er den Zorn missgünstiger Zauberer und Priester auf sich, die ihn auf barbarische Art und Weise zersägten. Einer Legende zufolge wurde nebenan Matthäus mit dem Beil oder einer Hellebarde enthauptet. Da dem Nachfolge-Apostel Matthias dasselbe Schicksal zuteilwurde, schlug der Künstler an dieser Stelle zwei Fliegen mit einer Klappe. An dritter Stelle und damit direkt seinem Namensvetter gegenüber hat sich Jakobus der Jüngere positioniert. Sein ikonografisches Attribut, mit dem er erschlagen wurde, ist allerdings nur mit viel Fantasie als Tuchwalkerstange zu identifizieren. Beim benachbarten Judas Thaddäus waren wahlweise Steine oder Knüppel die Mordwerkzeuge. Für den unblutigen Abschluss sorgt der beste Baumeister seiner Zeit, der ungläubige Apostel Thomas mit seinem wichtigsten Handwerkszeug, dem Winkelmaß.

Kapelle Kermaria an Iskuit - Vorhalle mit Apostelstatuen

Die mysteriöse Heiligen-Entführung

Nichts Genaues weiß man nicht, ist die passende Antwort auf die Frage nach der leeren Nische. Es fängt schon damit an, dass man heute nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, ob überhaupt ein Apostel die 12. Nische beanspruchte. Vielmehr behauptete irgendjemand irgendwann, dass anstelle der Ersatzapostel Matthias bzw. Paulus (der Verräter Judas Iskariot stand nie zur Debatte), der Evangelist Lukas hier weilte. Seines Zeichens Arzt heilte er Kranke und half ihnen somit aus ihrer gesundheitlichen Not. Also ein perfekter Weggefährte und männliches Pendant der Maria-an-Iskuit.

Sollte dem so sein, handelte der Entführer der Statue womöglich nicht aus niederen, verbrecherisch-raffgierigen Motiven, sondern aus reinem Egoismus. Vielleicht mangelte es ihm einfach an einer passenden Heiligenfigur für den persönlichen Hausgebrauch?

Nach wie vor ist ungeklärt, sofern die Statue überhaupt noch existiert, wo sie bis heute Unterschlupf gefunden hat. Fakt ist lediglich, dass sie 1907 gestohlen wurde. Die französische Polizei machte sich umgehend auf die Suche, doch alle Spuren verliefen im Sand. Als 1952 eine nicht näher genannte berühmte Persönlichkeit der Kapelle einen Besuch abstattete und die Geschichte des abhandengekommenen Heiligen erfuhr, setzte sich die polizeiliche Maschinerie nochmals in Gang. Plötzlich führte die Spur zuerst nach Marokko und von dort aus nach Paris. Der Dieb war quasi ausfindig gemacht, doch die Verjährungsfrist bereits abgelaufen. Sein Geständnis und eine Hausdurchsuchung förderten zwar zahlreiche gestohlene Kunstschätze zutage, doch der Heilige von Kermaria blieb verschollen. Nach 45 Jahren ergebnisloser Fahndung stellte die französische Polizei ihre Suche ein.

Zeit für ein 400 Tausend Euro Wunder

Die polychromen Holzstatuen wie auch die bemalte Gewölbedecke benötigen dringend eine Auffrischungskur. 400 Tausend Euro lautet hierfür der Kostenvoranschlag, doch bis dato existiert kein Finanzierungskonzept. Wie wäre es also mit mehreren Stoßgebeten zu Maria, die aus der Not hilft, und den anderen 19 Heiligenstatuen, mit denen die Kapelle überreichlich gesegnet ist? Nun, liebe Heiligen, ich denke, es ist an der Zeit, wieder ein großes Wunder zu wirken!

Kapelle Kermaria an Iskuit - Gewoelbe der Vorhalle

Nach dem Apostel-1 x 1 kommt endlich der große Schlüssel zum Einsatz, den Marie Droniou bisher als Ersatzzeigestab zum Einsatz brachte. Kaum ist die Innenbeleuchtung in Gang gesetzt, geht ein Raunen durch die bunt zusammengewürfelte Gruppe. Aller Augen richten sich auf den berühmten Totentanz. Aber unsere Führerin lässt uns noch ein wenig zappeln. Denn angesichts der mühelos erkennbaren drei Bauphasen im Innenraum steht zunächst noch ein erhellender Exkurs in die Baugeschichte von Ker Maria an.

Ein dankbarer Stifter und der Wallfahrer-Hype

Die kleine Granitkirche wurde im Jahr 1240 von Henry d’Avangour, Graf von Goëlo gegründet. Der Edelmann stiftete die Kapelle in Dankbarkeit für seine gesunde Rückkehr von den Kreuzzügen aus dem Heiligen Land. Die Verwaltung und geistige Führung übertrug er der Mönchsgemeinschaft aus Beauport, deren Abtei sein Vater ins Leben gerufen hatte. Aus dieser Bauzeit stammen die vier Joche mit den stämmigen Pfeilern im Westen des Gebäudes.

Im Laufe der Zeit gewann die Jungfrau, die aus der Not hilft, eine immer größere Anhängerschaft. Bald konnte die kleine Wallfahrtskapelle die herbeiströmenden Pilger nicht mehr aufnehmen. Durch reichliche Spenden gesegnet, nahm man im 15. Jahrhundert umfangreiche Erweiterungsmaßnahmen in Angriff. Das Hauptschiff wurde um drei Joche verlängert und das Holzgewölbe, das an einen umgekehrten Schiffsrumpf erinnert, verlängert. Auf der Südseite entstand ein Querschiff, das der Adelsfamilie als Privatkapelle diente. Den Freskenschmuck der Stifterfamilie im Querhaus muss man sich heute ebenso hinzudenken wie die polychrome Bemalung der Säulen und des Gewölbes.

Chapelle Kermaria an Iskuit; Vorhalle und achteckiger Glockenturm

Als letzte Baumaßnahme ließen die Besitzer die Vorhalle im Süden errichten. Sie schließt direkt an den ältesten Teil des Hauptschiffs an. Einstmals hießen Petrus und Paulus die Wallfahrer am Südeingang willkommen. Jedoch hielten die beiden Holzfiguren dem feuchten Wetter im Norden der Bretagne auf Dauer nicht stand. Sie zogen sich gerade noch rechtzeitig ins Innere der Kapelle an die südliche Chorwand zurück, bevor man sie bis zur Unkenntlichkeit verwittert, nicht mehr hätte auseinanderhalten können. Die Baldachin überdachten Nischen neben dem Spitzbogentor blieben seither unbesetzt.

Über der Vorhalle erhebt sich ein kleiner viereckiger Saal mit Söller und umlaufender Brüstung. Nebenbei als Archiv genutzt, hielten die Lehensherren aus dem Adelsgeschlecht Lizandré-Kermera (bzw. Lyzandré) seit 1547 in dem Raum Gericht und verkündeten vom ersten Stock aus ihre Urteile.

Der klerikale Dolchstoß

200 Jahre später stieß Ker-Maria-an-Iskuit erneut an ihre räumlichen Kapazitäten. Dank großzügiger Schenkung von Jean de Lannion, dem Herrn von Lizandré, konnte der Ausbau im 18. Jahrhundert realisiert werden. Ihm ist der dreiteilige Chorraum sowie der achteckige Glockenturm zu verdanken. Er finanzierte ebenfalls das monströse Retabel, das lange Zeit den Chorraum von der Apsis abtrennte. Eine im zugemauerten Nichts endende Steintreppe im Norden des Chors sowie ein daneben angebrachtes „Waschbecken“ sprechen für die einstige Existenz eines Pilgerzimmers im nicht mehr existenten Obergeschoss.

Chor der Kapelle Kermaria an Iskuit

Der ab 1790 durch ganz Frankreich ziehende Revolutionsmob schreckte auch vor der Zerstörung der in der Kapelle untergebrachten, über 400 Jahre alten Grabsteine der adligen Stifter und Lehnsherren nicht zurück. Danach wurde es still um die Kirche, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein größenwahnsinniger Gemeindepfarrer von sich reden machte. Pater Perro, Domherr von Plouha, plante den Bau einer Kathedralen gleichen Pfarrkirche in seiner Gemeinde. Selbstredend und in erster, zweiter und dritter Linie zu seinem eigenen Ruhm.

Ker Maria passte dabei nicht in sein Konzept. Er musste die Pilgerkonkurrentin ausschalten. Also schrieb er einen Brief an die höchsten klerikalen und administrativen Instanzen, um die Genehmigung für ihren Abriss einzuholen. Aus Paris erhielt der Pfarrer grünes Licht, nachdem er die Kapelle als „zu klein, zu hässlich, stillos, erdrückend und kompromittierend für das öffentliche Wohl“ beschrieben hatte. Im Handumdrehen rückte der Bautrupp an, denn die schönen Granitsteine von Kermaria eigneten sich hervorragend für seinen Neubau.

Allerdings hatte Perro seine Rechnung ohne seine Gemeinde gemacht. Mit bäuerlicher Waffengewalt verjagten sie die Bauarbeiter. Kermaria-an-Iskuit war vorerst gerettet. Gegen den fortschreitenden Verfall konnten die Einwohner jedoch nichts ausrichten. Immerhin wurde die Kapelle 1907 unter Denkmalschutz gestellt. Erst ab Mitte der 1950er Jahre standen ausreichend finanzielle Mittel für eine umfassende Renovierung zur Verfügung, die sich über zwei Jahrzehnte hinzog.

Ankou – der Sensenmann

Nachdem alle Anwesenden gelernt haben, dass man die Gefahr aus den eigenen Reihen nie unterschätzen darf, wendet sich Marie Droniou der Todesthematik zu. Das raue Klima, die kargen Landschaften, das geringe wirtschaftliche Auskommen und die entbehrungsreichen als auch lebensgefährlichen Bedingungen auf See führten den Bretonen seit jeher die menschliche Vergänglichkeit vor Augen. Der Tod ist in der Bretagne kein Tabuthema, sondern gehört zum natürlichen Kreislauf des Lebens dazu.

Niemand fürchtet sich deshalb vor Ankou, dem Sensenmann. Fälschlicherweise stecken die Nicht-Bretonen ihn in dieselbe Schublade mit Freund Hein, doch da gehört er nicht hin. Damit würde er seine Kompetenzen weit überschreite. Er ist nämlich nicht der personifizierte Tod, sondern vielmehr dessen zuverlässiger Handlanger. Ein viel beschäftigter „Mann“ also, weshalb er auch nie zu Fuß, sondern immer stehend auf einer Pferdekarre unterwegs ist. In Küstennähe kann es allerdings schon mal vorkommen, dass er vom PS-angetriebenen Wagen auf einen seetauglichen Kahn umsteigt.

Zur Arbeitskleidung des Ankou gehört ein dunkler Kapuzenumhang, wahlweise mit oder ohne breitkrempigen Schlapphut, der dennoch kaum den markanten Totenschädel verdeckt. Sein Markenzeichen und wichtigstes Utensil ist allerdings die umgekehrte Sense, mit der er die Toten einsammelt und auf seinen Karren hievt.

Wie es sich für einen ordentlichen Gehilfen geziemt, steht Ankou auch nicht unangemeldet vor der Türe. Vielmehr kündigt er sich mit quietschenden Rädern oder knirschenden Riemen an. Aber Vorsicht, wer ihn gesehen oder gehört hat, der ist reif für die Auswechselbank. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man das Spielfeld des Lebens verlassen muss. Dennoch ist Ankou kein bösartiger Geselle. Er macht auch nur seinen Job. Dabei kennt er keine Standesunterschiede. Er holt sich früh oder später Alle, egal ob Papst, Kaiser, König, Bauer oder Bettler.
Und davon erzählt der Totentanz von Ker Maria an Iskuit.

La Danse macabre

Das Totentanz-Fresko von Kermaria entstand zwischen 1488 und 1501. Eine Zeit, in der auch die Bretagne nicht von der in Europa wütenden Pest verschont blieb. Es ist davon auszugehen, dass wie andernorts auch die unbarmherzige Seuche den Anstoß für dieses ungewöhnliche Kunstwerk gab. Beinahe wäre das Fresko von Kermaria für immer verloren gegangen, nachdem es im 18. Jahrhundert unter einer dicken Schicht Verputz verschwand. Glücklicherweise wurde es 1856 wieder entdeckt, sodass es heute zu den nur sieben in Frankreich erhaltenen Totentänzen zählt. Dabei muss man ehrlicherweise zugestehen, dass der Erhaltungsgrad durch die klimabedingte Dauerfeuchtigkeit in der Bretagne sehr gelitten hat. Von den einstmals 47 Figuren sind viele nur noch vage auszumachen oder bereits gänzlich verschwunden.

Der Tanz der etwa 1,30 Meter hohen Figuren beginnt im Süden, setzt sich über die Westfassade fort und endet auf der Trennwand zum nördlichen Seitenschiff. Die zentrale Botschaft des danse macabre führt nicht nur die Vergänglichkeit des irdischen Daseins, sondern auch die Rücksichtslosigkeit des Todes vor Alter, Herkunft oder gesellschaftliche Stellung vor Augen. Der Maler, der als Erzähler des Totentanzes den Reigen anführt, hält sich dennoch strikt an die sozialen Hierarchien und schenkt uns so ein wertvolles historisches Spiegelbild der mittelalterliche Gesellschaftsleiter.

Die mittelalterliche Gesellschaftshierarchie

Aufgrund des bedauerlichen Zustands der Fresken und der zwar freskenschonenden aber nicht fotofreundlichen Ausleuchtung der Kapelle habe ich in der Mediathek für Architektur und Kulturerbe des französischen Ministeriums für Kultur gestöbert. Tatsächlich bin ich dabei auf Aufnahmen aus dem Jahr 1861 gestoßen, auf denen die vom Tod zum Tanz eingeladenen Personen deutlich besser zu erkennen sind.
Die beschriebenen Figuren in einer rechteckigen Klammer [ ] sind heute nicht mehr erhalten. Die Vierergruppe in der geschweiften Klammer { } tanzt für sich alleine ohne Skelett.

Zustand Süd- und Nordseite 2019

Tödliche Zwiesprache

Dass außer dem skelettartigen Tod die klerikalen als auch profanen Mittänzer keine Freude an dem händchenhaltenden Reigen haben, versteht sich von selbst. Während sich der Tod mächtig verbiegt, bleiben die Lebenden steif und statisch. Dafür beteiligen sie sich rege an der achtzeiligen Zwiesprache mit ihrem zukünftigen Alter Ego. Unter jedem ungleichen Paar hielt der Erzähler den moralischen Diskurs in Versform fest. Leider blieb auch davon nicht allzu viel erhalten.

Unterhalb des Totentanzes wohnen wir einer Zusammenkunft mehrerer Propheten bei, die ihre göttlichen Botschaften auf kunstvoll geschwungenen Spruchbändern in einem rötlich-braunen Blumenmeer zur Schau tragen. Doch leider hat auch hier der Zahn der Zeit keine Rücksicht genommen. Wer sich für die ursprünglich noch erhaltenen Verszeilen interessiert, kann nachfolgend in eine modernisierte Adaption reinschnuppern. 

Die Aufforderung des Todes zum Tanz

Der Tod ist allgegenwärtig

Madame Droniou gönnt uns Kunstinteressierten keine Verschnaufpause. Der Zeitplan muss schließlich eingehalten werden, da noch zwei weitere Führungen auf dem Nachmittagsprogramm stehen. Also geht es weiter zum nächsten Freskenfragment, zumal mit dem danse macabre das Thema Tod in Ker Maria noch längst nicht erledigt ist.

Im nördlichen Seitenschiff haben sich Reste eines sieben Meter langen Wandgemäldes erhalten. Heute in einem erbärmlichen Zustand, erzählten sie einst auf einschüchternde Weise die Parabel von den drei Toten und den drei Lebenden. Demnach brach vor langer Zeit ein Edelmann-Trio zur gemeinsamen Jagd auf. Unterwegs begegneten sie drei furchterregenden Skeletten, die frisch aus ihren Gräbern entstiegen waren. Mit dem Spruch: „Seht her! Ihr werdet sein, was wir jetzt sind, denn wir waren einmal, was ihr jetzt seid“, erinnerten sie die drei jungen Adligen auf drastische Art und Weise an die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins.

Ein mumifiziertes Herz und ein Totenschädel

Ein paar Schritte weiter wird in der Vitrine in der Chorapsis neben mehreren Alabastertafeln eines ehemaligen Altarbildes auch das mumifizierte Herz von Guillaume-Jacques de Callouët aufbewahrt. Seine großzügigen Schenkungen erlaubten nicht nur den Ausbau der Kapelle im 18. Jahrhundert, sondern sicherten ihm auch seit 1729 eine gut gehütete Ruhestätte in der Chorapsis. Erst 234 Jahre später entdeckte ein Handwerker bei Restaurierungsarbeiten hinter einer Mauer die luftdicht verschlossene Metallkiste mit dem letzten sterblichen Überrest des Herrn von Lizandré. Das Wappen der Adelsfamilie findet sich immer noch sichtbar eingeschnitzt in einer speziell den Grundherren vorbehaltenen Andachtsbank.

Schrein mit Totenschaedel Kapelle Kermaria an Iskuit

Als ich mich in der Chorapsis weiter umschaue, mache ich eine weitere bizarre Entdeckung. Auf dem Mauervorsprung unterhalb der Glasfenster liegt eine abgegriffene Holzkiste mit einem Guckloch, das den Blick auf einen gespaltenen Totenschädel freigibt. Er gehört dem 1651 verstorbenen Baron von Les Aubrays (bret. Lezobré). Über Jean de Lannion, der zudem Lehnsherr von Lisandré und la Noë-Verte und damit ein Nachfahre der Stifterfamilie der Kapelle war, ranken sich zahlreiche Legenden.

Jean de Lannion – ein Nachfahre von Obelix?

Als Kind fiel er in eine Quelle mit heiligem Wasser, das ihm eine mächtige Statur und übermenschliche Kräfte verlieh. Ernsthaft?, denke ich und habe direkt das Bild eines anderen weltberühmten gallisch-bretonischen Anti-Helden vor mir. Doch Jean de Lannion war weder einfältig noch ungeschickt. Bereits mit 18 Jahren hatte er 18 Gegner im Duell getötet. Als dies dem französischen König zu Ohren kam, ließ er ihn an seinen Hof holen. Das bretonische Kraftpaket sollte sich vor den Augen des Monarchen gegen einen unbesiegbaren Mauren beweisen. Um auf Nummer sicherzugehen, rief der junge Adlige Maria-an-Iskuit an, damit sie ihm beistehe und gegebenenfalls aus seiner Not helfe. So geschah es dann auch. Jean de Lannion gewann den Kampf und stieg zum Kapitän der königlichen Küstenflotte auf.

Als der Baron und Seigneur starb, beerdigte man ihn, wie es sich für den Lehnsherr und Besitzer der Kapelle gehörte, in der Gruft vor dem Chorraum. Während der Französischen Revolution fiel auch seine Grabstätte den Barbaren zum Opfer, die nicht einmal davor zurückschreckten, die Gebeine aus dem Sarg zu holen und seinen Schädel zu spalten. Eine fleißige Kirchgängerin entdeckte 1850 den herrenlosen Totenkopf unter dem Chorraum, fertigte den besagten Holzschrein an, sodass alle Touristen aus nah und fern nun eine weitere makabre Erinnerung an Kermaria mit nach Hause nehmen können. Übrigens, von der immer noch vorhandenen Falltür im Mittelschiff erzählt man sich, dass sie nicht nur zur Gruft, sondern durch einen unterirdischen Verbindungsgang sogar bis zum Herrenhaus der Adelsfamilie in Lanloup führte.

Viel hilft viel – der Heiligenaufmarsch in Kermaria

Nachdem wir uns jetzt ausreichend mit dem Tod in Kermaria beschäftig haben, lenkt unsere Führerin die Aufmerksamkeit auf die unzähligen Heiligenstatuen im Innenraum.

Holzstatue Jungfrau mit Kind in der Kapelle Kermaria an Iskuit

Zu den Ausnahmeerscheinungen gehört mit Sicherheit die im 16. Jahrhundert angefertigte Holzfigur der sitzenden Maria mit Kind im nördlichen Seitenschiff. Sie hebs sich nicht nur durch ihre naturalistische Darstellung mit schamlos entblößter Brust und klobigen Arbeitsschuhen von allen gängigen Mariendarstellungen ab, sondern vor allem durch ihre Botschaft. Mit eindeutig abwehrender Geste wendet sich Jesus von seiner Mutter ab. Er will nicht gestillt werden, denn es gibt wesentlich wichtigere Aufgaben als die Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse. Man denke dabei nur an die Verbreitung von Gottes Wort und die Erlösung.

Holzstatue Jungfrau mit Kind in der Kapelle Kermaria an Iskuit

Eine weitere auffällige Marienstatue hat in der Südkapelle Platz gefunden. In der einschlägigen Literatur gilt die Jungfrau mit Zepter und stehendem Jesuskind als ältestes Kunstwerk von Kermaria. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass sie aus dem 13. Jahrhundert datiert (wie in der einschlägigen Literatur beschrieben), zumal die Datenbank der französischen Denkmalbehörde sie 300 Jahre jünger schätzt.
Unabhängig von der Frage nach dem tatsächlichen Alter interessiert mich vielmehr, ob sich der Bildhauer bei den unproportional großen Händen Marias und den Riesenlauschern des goldig dreinblickenden Jesuskinds einfach nur vertan hat. Oder versteckt sich dahinter eine symbolische Aussage nach dem Motto „je größer die Ohren, desto besser kann man das Wort Gottes hören“?

Für jeden „Topf“ der richtige Schutzheilige

Eine ganz entzückende Figur gibt auch der steinerne und ehemals polychrome Heilige Michael in Ritterrüstung ab. Auch wenn er seine Waffe verloren hat, irgendwann zwischen dem 15. und 21. Jahrhundert verloren hat, ist er doch unbestreitbar Herr der Lage und des besiegten Drachens am Boden. Mit Verlusten müssen auch die Heilige Bertha, die Heilige Barbara sowie die Heilige Katharina zurechtkommen. Der erstgenannten fehlen beide Arme, der Nothelferin Barbara ihr wichtigstes Attribut der Turm und Katharina von Alexandria das Rad als Zeichen ihres Martyriums.

Die männliche Heiligen-Delegation ist teilweise in deutlich besserem Zustand. Dabei bieten die Schutzheiligen ein breites Spektrum an Verehrungs- und Anrufungsmöglichkeiten an. Die Gärtner und Kutscher können zu Saint Fiacre mit der Schaufel beten, Astronomen und Schneider zum Heiligen Dominikus und für die Schmiede steht Eligius (Saint Eloi) in Lederschürze mit Hammer und Hufeisen bereit. Dabei kann man nur hoffen, dass keiner ein störrisches Pferd dabei hat, denn der Heilige Eloi fackelt nicht lange. Wenn das Pferd beim Behufen nicht kooperiert, schlägt er kurzerhand das Bein ab, behuft es auf dem Amboss und befestigt anschließend das Bein wieder am Pferd. Wer dagegen eine Phobie gegen Schlangen und andere Kriechtiere hegt, ist beim bretonischen Saint-Maudez in guten Händen.

Ich bin erschlagen. Gibt es auch einen Schutzheiligen gegen zu viele Schutzheilige? Wenn man da mal nicht durcheinander kommt. Ich bin zwar einerseits enttäuscht, dass die Führung durch dieses wunderbare bretonische Kleinod an dieser Stelle schon endet, doch gleichzeitig erleichtert, dass ich mir nicht eine noch größere Blöße angesichts all der unbekannten katholischen und bretonischen Schutzpatrone geben muss.


Gut zu wissen

Anregungen für Erkundungslustige

Credits für alle Freskenaufnahmen aus dem Jahr 1861 von Alexandre Denuelle: Ministère de la Culture (France), Médiathèque de l’architecture et du patrimoine, diffusion RMN-GP

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