Du Génie Humain à l’Éclat Divin – Notre-Dame de Strasbourg
Premiere!
Vor etwas mehr als einem Jahr öffnete ich auf meinem Reiseblog die Türen der virtuellen „In Leselaune“-Bibliothek. Mittlerweile haben darin schon über 20 ganz wunderbare Werke Platz gefunden. Die Abteilung mit Lesestoff über Siebenbürgen ist bereits gut gefüllt, die Kunstecke verdient zukünftig noch etwas mehr Aufmerksamkeit und auch der spanische Bereich wartet noch auf Zuwachs. Doch bevor sich die Regalbretter unter der Last der zukünftigen Neueinstellungen biegen werden, gibt es erst einmal eine Premiere zu feiern. Heute hält nämlich das erste französischsprachige Druckwerk Einzug in meine „In Leselaune“-Bibliothek!
Und für dieses feierliche Ereignis habe ich natürlich auch ein ganz außergewöhnliches Buch ausgewählt: DU GÉNIE HUMAIN À L’ÉCLAT DIVIN – eine kunterbunte Mischung aus zeitgeschichtlicher Dokumentation, geballtem Wissen und spannenden Augenzeugenberichten. Das Ganze verpackt als bild- und erlebnisreiches Exemplar über das achte Weltwunder, das Straßburger Münster.
DU GÉNIE HUMAIN À L’ÉCLAT DIVIN
Vor mir liegt ein sogenanntes Objektbuch. Was zunächst nach spröder, techniklastiger Dokumentenverwaltung klingt, entfaltet, einmal aus dem hübsch gestalteten Schuber entnommen, eine gedruckte Welt voller Abenteuer, Entdeckungen und Überraschungen. Auf 140 großformatigen Seiten mit über 700 Abbildungen unternehme ich eine facettenreiche Zeitreise „Vom menschlichen Genie zum göttlichen Glanz“, wie in etwa die deutsche Übersetzung des französischen Titels lauten würde.
Doch bevor es richtig losgeht, liefert ein chronologischer Abriss die wichtigsten Eckdaten zur Baugeschichte der Kathedrale. Danach setzt der in drei Kapitel gegliederte Erkundungsgang durch die Jahrhunderte an. Es geht vom Mittelalter über die Renaissance weiter zur Französischen Revolution bis zum heutigen Tag.
55 Unterthemen nehmen dabei markante epochale Ereignisse als auch die Sozial-, Kultur-, Kunst-, Architektur- und liturgische Geschichte der Kathedrale genauer unter die Lupe. Jede Doppelseite steckt voller Wissen, Zahlen, Fakten, Anekdoten, Personen und Skandale. Dazu liefern unzählige Fotografien, Zeichnungen, Skizzen, Illustrationen, Abdrucke historische Texte und Gravuren reichlich Anschauungsmaterial. Wer zusätzlich noch ein wenig Nachhilfe in Sachen Fachbegriffe benötigt, für den gibt ein lehrender Zeigefinger eine weise Auskunft. Doch den absoluten Höhepunkt an Lesespaß bieten die seltenen Dokumente, Pläne oder Postkarten zum Herausnehmen, Auseinanderfalten und Bewundern.
Die wertvollen Faksimilia sind entweder in Falttaschen sicher untergebracht oder liebevoll in von Hand eingeklebten Kuverts und Pergamenttaschen hinterlegt. Es finden sich darunter
- Auszüge aus dem Musterbuch von Hans Hammer, der die berühmte Kanzel für Geiler von Kaysersberg anfertigte
- Eine Gravur von Tobias Stimmer aus dem Jahr 1574 über die „Eigentliche Fürbildung und Beschreibung des Neuen kunstlichen Astronomischen Urwerkes zu Strasburg im Münster“ oder
- variantenreiche Skizzen des Architekten Gustave Klotz für den oktogonalen Vierungsturm.
Im Buch unterwegs
Wahrscheinlich ist Euch meine Begeisterung für das Buch nicht entgangen. Es fällt mir angesichts des ersten überwältigenden Eindrucks auch schwer damit bis zu „In Leselaune’s Schlussansichten“ hinterm Berg zu halten. Deshalb werde ich Euch jetzt nicht mehr länger auf die Folter spannen, sondern auf einen kleinen Exkurs durch vier ausgewählte Kapitel DU GÉNIE HUMAIN À L’ÉCLAT DIVIN einladen.
Die Fürstbischöfe – eine besondere Spezies
Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bildeten die sogenannten Fürstbischöfe eine wichtige Säule im Herrschaftsgefüge des Königs bzw. Kaisers. Wie der Name schon vermuten lässt, verfügten sie sowohl über weltliche als auch geistliche Autorität. Nach der Niederlage in der Schlacht von Hausbergen im Jahr 1262 hatten die Straßburger Fürstbischöfe jedoch erheblich an Macht und Ansehen eingebüßt. In der freien Reichsstadt hatte fortan der Magistrat das Sagen, weshalb die Beziehungen zwischen beiden Parteien häufig einem hochexplosiven Minenfeld glich. Anhand von vier historischen Berichterstattungen spiegelt das Kapitel über die spannungsgeladenen Beziehungen zwischen Stadt und Kirchenfürsten ein wenig schmeichelhaftes Bild von Amtsmissbrauch, Bestechung und klerikalem Prunk.
Wir starten im Jahr 1347. Der böhmische König Karl IV., potenzieller Aspirant auf den römisch-deutschen Thron, suchte im Rahmen seiner Wahlkampftour Unterstützung bei Berthold von Bucheck, dem amtierenden Fürstenbischof von Straßburg. Dieser war gerade schwer damit beschäftigt, sich bereits zu Lebzeiten eine Grabkapelle bauen zu lassen. Trotzdem nahm er sich die Zeit, den zukünftigen Monarchen zu empfangen. Ganz nach dem Motto „eine Hand wäscht die andere“, sicherte der Bischof Karl IV. seine Stimme bei der Königswahl zu, während er im Gegenzug in einer pompösen Zeremonie mit Krone, Zepter und Reichsapfel seine königlichen Lehen bestätigt erhielt.
Goldene Höhenflüge und tiefer Fall
Knappe 200 Jahre später wurde im Rahmen der Sanierung der Katharinenkapelle das Grab des selbstverliebten Bischofs geöffnet. Zutage trat ein Manifest von Glanz und Gloria. Ein goldenes Bischofskreuz, eine mit Gold- und Silberstickereien verzierte Mitra, güldene Sporen, goldene Handschuhe und Ringe, dazu ein goldenes Schwert waren die auffälligsten Accessoires Berthold von Buchecks, von denen Daniel Specklin, Zeitzeuge des Ereignisses, berichtete.
Friedrich von Blankenheim, der sein Bischofsamt 1374 antrat, übernahm nach den Jahrzehnten von Saus und Braus ein durch und durch desolates Hochstift. Mithilfe namhafter adliger Verbündeter versuchte er mit Gewalt wieder die Oberhand über das städtische Magistrat zu erlangen. Das Vorhaben scheiterte. Nichtsdestotrotz wollten die Waffenbrüder für ihre Dienste entlohnt werden. Doch die Kassen waren leer. Also blieb dem Fürstbischof nur die Flucht vor seinen Gläubigern. Zufällig gab es in Utrecht eine vakante Bischofsstelle zu besetzen. Neue Stadt, neues Glück!
Weniger glimpflich kam sein ganz und gar liederlicher Nachfolger Wilhelm von Diest davon. Als bekannt wurde, dass dieser kirchliches Lehen an weltliche Herrscher veräußern wollte, ließ ihn das Domstift verhaften. Zuerst sperrte man ihn in den Pfennigturm, bevor er dann in der Sakristei über der Johanneskapelle unter Arrest gestellt wurde.
Die Kathedrale als mittelalterlich Grablege
Die mittelalterliche Welt bot den Menschen zwei Möglichkeiten, der Herrlichkeit des Paradieses teilhaftig zu werden. Die beschwerlichere Variante war mit Sicherheit ein ehrfürchtiges, gläubiges und untadeliges Leben zu führen. Eine Option, deren Erfolgsaussicht nicht immer zum Besten stand. Die finanziell potenteren Gesellschaftsschichten als auch der Klerus hielten sich deshalb einen alternativen Schleichweg ins Himmelreich offen. Eine Bestattung in geheiligtem Boden.
Im Gegensatz zu anderen europäischen Kirchenbauten, deren Boden und Wände teilweise mit Grabplatten übersät sind, ist die Anzahl der Epitaphe, Wandgräber, Guisanten oder Gedenksteine in der Straßburger Kathedrale überschaubar. Wobei das mit dem Schauen so ein Problem ist, denn viele Grablegen befinden sich in für den Besucher unzugänglichen Bereichen wie der Andreaskapelle oder der Kapelle Johannes des Täufers.
Umso interessanter liest sich und betrachtet man die Abbildungen und Erklärungen über die unterschiedlichen Grabskulpturen. Zu den Auserwählten, die in das Privileg einer Münsterbestattung kamen, zählten Bischöfe, Erzbischöfe, Domherren, Prinzen, Mark- und Pfalzgrafen, wohlhabende Stifterfamilien, aber auch begnadete Baumeister wie Erwin von Steinbach.
Geiler von Kaysersberg – ein berühmter Prediger
Der studierte Theologe Johann Geiler von Kaysersberg (1445 – 1510) zählt zu den schillerndsten Persönlichkeiten des Straßburger Münsters. Völlig zurecht ist ihm deshalb in diesem Buch der Extraklasse ein Kapitel gewidmet. Zunächst klärt uns der „lehrende Zeigefinger“ über die Funktion eines „prédicateur“ auf, denn als solcher war Geiler von Kaysersberg ein viertel Jahrhundert Jahr in Diensten des Liebfrauenmünsters.
Seine Predigten in deutscher Sprache waren legendär. Seine Kanzelreden genossen nicht nur beim einfachen Volk Kultstatus, sondern erhielten, wie wir in einer kurzen Post-it-Notiz erfahren, auch von gekrönten Häuptern wie König Maximilian von Habsburg die gebührende Anerkennung.
Die besondere Kunstfertigkeit Geilers bestand darin, die christliche Botschaft in anschauliche Allegorien zu verpacken. So verglich er die Suche nach dem guten Weg im Leben mit dem weitverzweigten Gangsystem eines Ameisenbaus. Dank des abgedruckten Auszugs der 1516 erschienen Sammlung von Predigten lernen wir zudem, weshalb der Hase das perfekte Sinnbild eines guten Christen darstellt. Ist es nicht so, dass jeder Mensch tagtäglich in den Sog der unterschiedlichsten Laster und Verfehlungen gerät? Sei es Faulheit, Neid oder Völlerei. Zum Glück lässt sich mit einer Ausnahme der gesamte Katalog an Fehltritten durch kämpferische Mittel beherrschen. Nur gegen die unreinen Gedanken ist kein Kraut gewachsen. Gegenwehr zwecklos. Da hilft nur die Flucht. Und da Meister Lampe als Musterbeispiel für ein fliehendes Tier gilt, schließt sich hier der Kreis in Geilers Predigt.
Die Verkaufsbuden am Münster – ein Stein des Anstoßes
Heutzutage dürften den wenigsten Besuchern des Münsters bekannt sein, dass über Jahrhunderte hinweg der Zutritt zum Gotteshaus mitunter einem Hindernislauf gleichkam. Nicht selten stolperte man über allerlei Tand, Stapel von Töpferwaren oder trunkene Hausierer. Schuld daran waren die hässlichen Verkaufsbuden und Trinkhallen, die im Norden, Westen und Süden der Münsterfassade vorgebaut waren. Nicht nur dass die Gebäude die wunderschönen Steinmetzarbeiten verdeckten, sie zogen auch eine Klientel an, die des heiligen Ortes nicht würdig war. Ganz zu schweigen von dem skandalösen Treiben hinter den verschlossenen Türen.
Um diesem Dauerärgernis ein Ende zu bereiten, wandte sich im Jahr 1765 der Anwalt des Domkapitels mit einer Bittschrift bezüglich der Entfernung der „boutiques“ an den Straßburger Magistrat. Neben dem Inhalt fällt an diesem Zeitdokument besonders der voluminöse Sprachstil auf. Punkte als Satzzeichen waren damals offensichtlich Mangelware.
Immerhin erzielten die Domherren einen Teilerfolg, denn 1772 legte der Architekt der Münsterbauhütte, Jean-Laurent Goetz, einen Entwurf für eine alternative Lösung vor. Demnach sollten die mittelalterlichen Hütten abgerissen und auf der Süd- und Nordseite durch neugotische Galerien ersetzt werden. Zwar bedeutete diese Maßnahme keine Abschaffung des umtriebigen Handels in unmittelbarer Nähe des Gotteshauses (denn, wo finanzielle Interessen im Spiel sind, trennt man sich nur ungern von alten Zöpfen), aber immerhin eine ästhetische Aufwertung.
In Leselaune’s Schlussansichten
2015 feierte die Stadt Straßburg mit zahlreichen Festivitäten ausgiebig den tausendsten Jahrestag der Grundsteinlegung des Liebfrauenmünsters. Der Millenniums-Geburtstag schien allerdings auch für das elsässische Verlagshaus „Éditions du Signe“ ein idealer Anlass zu sein, um ein wenig frischen Wind in die Literaturlandschaft zur Straßburger Architekturikone hineinzubringen. So erschienen im Jubiläumsjahr gleich zwei aufsehenerregende Bildbände: „La Cathédrale Notre-Dame de Strasbourg – 1000 ans de Parole“ und „Notre-Dame de Strasbourg – Du Génie Humain À L’Éclat Divin“.
Schon beim ersten Durchblättern hat mich das hochwertig aufgemachte Du Génie Humain À L’Éclat Divin mit dem Charme eines überdimensionalen Smash-Books für sich eingenommen. Die Mischung aus Fachwissen und gestalterischer Kreativität ist schlichtweg genial. Ganz zu schweigen von der breit gefächerten Themenauswahl. Ambitionierte Baumeister werden vorgestellt, berühmte Prediger gewürdigt. Royale Besucher kommen zu Wort, turbulente und kriegerische Zeiten leben wieder auf. Die Orgel steht ebenso im Rampenlicht wie die astronomische Uhr oder der Münsterturm. Der gedruckte Münster-Blumenstrauß könnte vielfältiger nicht sein.
Ein Buch, aber kein weiteres Buch über das Straßburger Münster
Verantwortlich für die wohldurchdachte Zusammenstellung sowie deren Inhalt ist das Autorenduo Claude Muller und Fabien Baumann. Beides ausgewiesene Koryphäen in ihren Fachbereichen. Claude Muller ist Historiker, Doktor der Literaturwissenschaften und katholischen Theologie. Er leitet als Professor das Institut für elsässische Geschichte an der Universität von Straßburg. Zusätzlich widmet er sich in seinen unzähligen Publikationen bevorzugt der Lokal-, Kriegs- und Kulturgeschichte seiner elsässischen Heimat. Dagegen gilt Fabien Baumann, gebürtiger Straßburger und Inhaber eines Magisters in Geschichte, als Experte für Regionalgeschichte mit Fokus auf die Architektur des 19. Jahrhunderts. Ihre historisch-wissenschaftliche Kompetenz zeigt sich besonders in der Fertigkeit, aus ganz unterschiedlichen Einzeldokumenten vor den Augen des Lesers ein komplexes Gesamtbild einer ganzen Epoche entstehen zu lassen.
Ich lerne, staune, stöbere. Das Tolle an diesem Buch ist zudem, dass ich es chronologisch verschlingen oder mich per Zufall wahllos durch die Jahrhunderte treiben lassen kann. Die in sich abgeschlossenen Unterthemen laden dazu ein, im Hop-On Hop Off-Modus durch die Seiten zu navigieren. Lediglich einen herausnehmbaren Orientierungsplan mit dem Grundriss des Münsters habe ich vermisst. Dafür kann ich Alle, die Angst vor der Sprachbarriere haben, beruhigen. Man benötigt keine ausgefeilten Französisch-Kenntnisse, um den Inhalt und Tenor der einzelnen Artikel zu erfassen.
Fazit: Du Génie Humain À L’Éclat Divin ist ein Buch für Jedermann. Ein Buch, das neugierig macht und auf ganz besondere Weise in Erinnerung ruft, welch fragiles menschliches Meisterwerk diese „Bibel aus Sandstein und Glas“ ist. Ein Buch, das sein Wissen teilen möchte, wie Claude Muller im Vorwort betont. Mission erfüllt, würde ich sagen!
Notre-Dame de Strasbourg –
Du Génie Humain à L’Éclat Divin
Kategorie: Objektbuch
Autoren: Fabien Baumann & Claude Muller
Verlag: Éditions du Signe
Erscheinungsjahr: 2014; 1. Auflage
Ausgabe: Hardcover im Schuber
Umfang: 140 Seiten
Sprache: Französisch
ISBN: 978-2-7468-3188-9
Preis: 45,00 €
Das Cover als auch die Bilder aus dem Buch sind Eigentum des Verlags, Fotografen bzw. sonstigen Rechteinhabers. Die Buchvorstellung ist unbezahlt und unbeauftragt. Das Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Hierfür ein herzliches Dankeschön. Meine Rezension wurde dadurch nicht beeinflusst.