Die Strassburger Schutzpatronin, die Heilige Jungfrau mit weit ausgebreiteten Armen und dem Jesuskind im Schoss
Blick in die Stadtgeschichte,  Straßburger Spaziergänge

Wie Straßburg zur Jungfrau kam – die Geschichte des großen Stadthauptbanners


Seit Menschengedenken vertrauen sich Orte, Regionen, ja sogar Länder und Kontinente den Wunderkräften von Göttern, Heiligen und Märtyrern an. Mit großem Vorsprung führt die Jungfrau Maria in diversen Rollen die Hitliste der Schutzpatrone an. Sie wird als Mutter Gottes, der Barmherzigkeit, des reinen Herzens, der Unbefleckten Empfängnis, des guten Ratschlags oder in ihrer Eigenschaft als omnipotente Mariahilf verehrt. So vermachte König Stephan I. an seinem Sterbetag 1038 die ungarische Reichskrone der Heiligen Jungfrau. Exakt sechs Jahrhunderte danach stellte Ludwig XIII. sowohl sein Amt, seine Person als auch ganz Frankreich in ihre Dienste. Wenig später folgte das polnische Staatsoberhaupt diesem Beispiel und auch Bayern bekannte sich zu dieser Zeit erstmalig zur Jungfrau, bevor der Freistaat die Verbindung zu Beginn des 20. Jahrhunderts offiziell machte.

An historisch vorderster Front reiht sich die Gemeinde Straßburg in die lange Liste der Marienverehrer*innen ein. Der konvertierte Frankenkönig Chlodwig I. ließ im Jahr 510 die erste christliche Kirche auf Straßburger Boden der Lieben Frau weihen, in deren Tradition das Münster bis zum heutigen Tag steht. Zur Belohnung führt der getaufte Merowinger die royale Reiterparade an der Westfassade an. Alsbald schmückte die Jungfrau auch Siegel, Münzen und Banner der Stadt. Eine Ehrerbietung, die buchstäblich aus heiterem Himmel kam.

Vom Sinn und Zweck jungfräulicher Trompetenärmel

Qualvolle Schreie hallten durch die Nacht, die kein Ende nehmen wollte. Erst im Morgengrauen ebbten die Schmerzenslaute ab, verstummten die kraftlos gemurmelten Gebete um Erlösung. Unfertig, unvollendet. Dann ein letztes Aufbäumen, ein letztes Röcheln und gespenstische Stille. Nur langsam schob sich an diesem neuen Tag die Sonne über den Horizont. Als hätte sie Mitleid, dem Grauen ein Gesicht zu geben. Das Ausmaß der Verluste wurde nun zur erschütternden Gewissheit. Knöcheltief versanken die Pferde der verbliebenen Kämpfer im blutgetränkten, von Leichen übersäten Schlachtfeld. Doch noch hatte der Horror kein Ende.

Für einen geordneten Rückzug war es zu spät, sich der feindlichen Übermacht kampflos zu ergeben, stand außer Frage. Nur ein Wunder konnte die tapferen Straßburger Ritter und Recken vor dem sinnlosen Niedergemetzel retten. Die gegnerischen Truppen hatten sich bereits formiert, um das Gefecht zu einem schnellen Ende zu bringen, als plötzlich der Himmel aufriss und sich eine riesige Gottesmutter mit erhobenen Armen als Schutzschild vor die Straßburger Kämpen stellte. Die tief herabhängenden Trompetenärmel von Marias Gewand versperrtem dem Feind die Sicht, die Angriffswelle geriet ins Stocken. Geschickt nutzten die Straßburger den Überraschungsmoment aus, um den Gegner zu überwältigen und als Sieger aus dem Kampfgetümmel hervorzugehen. Unendlich dankbar für die unerwartete Hilfe erhob man die Jungfrau Maria zur Patronin der Stadt und gelobte ihr Bildnis zukünftig auf den kommunalen Hoheitszeichen zu führen.

Eine Geschichte zu schön um wahr zu sein? Vermutlich. Dennoch schaffen Legenden Fakten, insbesondere mangels Alternativen. Unter den Chronisten herrschten zwar Differenzen über den Anlass der Kampfhandlungen im 9. Jahrhundert, doch in drei Punkten stimmten sie unisono überein: die Last-Minute Erscheinung der Gottesmutter, der siegreiche Ausgang der Schlacht zugunsten der Straßburger gegen die usurpatorischen Folgegenerationen Karl des Großen und der anschließende Marienschwur.

Ein modisches Statement mit Netz und doppeltem Boden

Trompetenfahne des Roraff im Strassburger Muenster aus dem 17. Jh
Trompetenfahne des Roraff im Straßburger Münster aus dem 17. Jh.; ©Musée Historique

Umgehend machten sich die Straßburger an die Arbeit, ihr Versprechen einzulösen. Ein derartiger Triumph gegen eine vielfach größere und besser ausgerüstete Streitmacht hatte ihr Selbstbewusstsein enorm beflügelt. Sie gaben sich deshalb nicht mit der gängigen Darstellung einer betenden Jungfrau zufrieden, sondern erhoben die auf dem Schlachtfeld erschienene Schutzärmel-Madonna zur eigenen Marke. Mantel konnte schließlich jeder. Die Arme zur Fürbitte weit ausgebreitet, kommen Marias pazifistische Geheimwaffen, die mit goldener Bordüre versehenen Riesenschlagärmel, besonders gut zur Geltung. Im Alltag eher unpraktisch (oder bin ich die einzige, die einen Trompetenärmel schon mal in Tomatensuppe gebadet hat?), wertet die lebensrettende Funktion den modisch schicken Hingucker enorm auf.

Nicht nur aus Gründen des Komforts, sondern mit Kalkül platzierten die Straßburger ihre gekrönte Maria auf einen prächtigen Thron. Das so beiläufig ins Spiel gebrachte Jesuskind komplettierte das himmlische Sicherheitsnetz um einen doppelten Boden. Mit der rechten Hand erteilt es den Segen, während die linke eine stilisierte Lilie hält. Im Gegensatz zur blühenden Zierpflanze als Allegorie auf die Reinheit Mariä, hatte sich die Gemeinde im 10. Jahrhundert das heraldische Motiv als Identifikationsemblem zugelegt. Hauptsächlich auf Silberpfennigen, offiziellen Dokumenten sowie als Kontroll- und Beschauzeichen der Goldschmiedezunft verwendet, legte man nun symbolisch das Schicksal der Stadt in göttliche Hände.

Tauschhandel und Lilien auf der Abschussliste

Im Jahr 1508 erhielt die freie Reichsstadt das Privileg, eigene Goldmünzen zu prägen. Seither finden sich immer wieder Ausführungen, in denen das Jesuskind anstatt der Lilie mit einer Weltkugel ausgestattet ist. Offensichtlich erschien den Ratsherren die neu erworbene wirtschaftliche Potenz extrem protektionsbedürftig, was den Tauschhandel erklären könnte. Für die allgemeine Sicherheit der Stadt sorgte weiterhin Maria, deren Bildnis und der Schriftzug „Virgo, urbem tuam serva“ (Jungfrau beschütze Deine Stadt) die Schmuckseite der neuen Hartwährung zierte. 

Übrigens wurden alle Lilien, egal ob solitär oder im royalen Dreierverbund auftretend, während der Französischen Revolution über einen monarchistischen Kamm geschert, ausrangiert oder vernichtet. Da auch der Klerus und damit die katholische Kirche auf der Abschussliste standen, zerstörten die fanatischen Vandalen über 200 Figuren und dekorative Elemente am Straßburger Münster, darunter mehrere steinerne Pinienzapfen, die sie in Unkenntnis für Lilien hielten. Glücklicherweise besaßen die Revoluzzer weder Adleraugen noch Ferngläser oder Schiebeleitern zum Ausziehen. Ansonsten hätten sie ebenfalls das Bogenfeld des Hauptportals der Westfassade malträtiert, wo die römischen Soldaten noch immer unter dem mit einem Lilienteppich überzogenen Sarkophag ihr Nickerchen halten.

das leere Grab Jesu an der Westfassade des Strassburger Muensters

Maria mit ausgebreiteten Armen hoch3

Glasfenster Jungfrau Maria mit den erhobenen Armen in der Cathedrale de Strasbourg

Da wir ungewollt zum Liebfrauenmünster abgedriftet sind, verweilen wir noch ein wenig im Innern. Hier trifft der Besucher gleich auf drei trompetenärmelige Marienverkörperungen. Das Glasfenster der Apsis fällt als Erstes ins Auge. Im Zweiten Weltkriegs bei einem alliierten Bombenangriff zu Bruch gegangen, fehlten lange Zeit die finanziellen Mittel es zu ersetzen. Da sprang 1956 der Europarat ein und schenkte der französischen Nation in ihrer Eigenschaft als Eigentümerin der Kathedrale ein neues Fenster. Seither wirbt die Straßburger-Madonna unter dem zwölfteiligen Sternenkranz der Europaflagge für Aussöhnung und Frieden.

Über vier Jahrhunderte lang mussten die Gläubigen ohne Marien-Anlaufstelle in der Kathedrale auskommen. Man konnte dem Heiligen Laurentius seine Sorgen anvertrauen, am Altar der Heiligen Katharina Trost finden, Johannes den Täufer in seiner Kapelle aufsuchen oder beim Heiligen Andreas Fürbitte leisten. Doch seit dem Abbau des Lettners 1682, dem auch die vom berühmten Münsterbaumeister Erwin von Steinbach 1316 errichtete Kapelle der Heiligen Jungfrau zum Opfer fiel, machte sich Maria rar. Ein Manko, dessen man sich in klerikalen Kreisen erst vor wenigen Jahren bewusst wurde. Flugs förderte man aus der für die Öffentlichkeit unzugänglichen Krypta eine über 60 Jahre alte Holzskulptur ans Tageslicht, verpasste der Jungfrau mit Kind einen auffälligen polychromen Anstrich und platzierte sie im nördlichen Seitenschiff, wo sie nun alle Gläubigen wieder mit offenen Armen empfängt.

Für die dritte Marien-Sichtung muss man vor der Schwalbennestorgel im Hauptschiff den Kopf mächtig in den Nacken legen, um sie auf der Fanfare des städtischen Trompeters zu entdecken, der zum berüchtigten Roraffen-Terzett gehörte. Besser, man begibt sich auf einen Abstecher ins Historische Museum. Dort lässt sich im ersten Ausstellungsraum deutlich bequemer das originale Fanfarenbanner aus dem 17. Jahrhundert bewundern.

Das Rennfähnlein für die noble Ritterschaft

Ritter mit Stadtrennfahne nach einem Holzschnitt in Thomas Murners "Germania Nova"; 1502;
Ritter mit Stadtrennfahne 1502; Cabinet des Estampes et des Dessins Strasbourg

Nach dem kurzen Ausflug zur Kathedrale rudern wir wieder ein paar Jahrhunderte zurück, um den Straßburger Stadtherren bei der Einlösung ihres Versprechens, sprich der Anfertigung der beiden neuen Stadtbanner über die Schulter zu schauen. Zum einen gab es die kleinere, etwas handlichere Rennfahne von etwa zweieinhalb Metern Höhe. Sie war an einer langen Stange befestigt und der adligen Reiterschaft vorbehalten. „Allein von Christus kommt der Sieg“ versprach eine der lateinischen Inschriften, die die Marienfigur umgaben. Leider vergaß man die siegreiche Partei genauer zu definieren, sodass das pensionierte Straßburger Rennfähnlein im August 1870 im Granathagel der deutschen Artillerie zusammen mit unzähligen anderen wertvollen Artefakten verbrannte.

Das größere Stadthauptbanner war von ganz anderem Kaliber. Sage und schreibe 4,5 Meter hoch und 3,9 Meter breit wurde es ausschließlich zu speziellen Anlässen aus der Schatzkammer im Pfennigturm geholt. Sperrig und enorm schwer musste zur Fortbewegung des Banners extra ein Fahnenwagen angefertigt werden. Die meist von vier Ochsen gezogene Karrosch diente im Kriegsfall gleichzeitig als Truppensammelpunkt und durfte unter keinen Umständen im Stich gelassen werden.

Das Stadthauptbanner – eine Frage der Ehre

Das Stadtbanner repräsentierte die Ehre der Stadt. Gelangte es auf dem Schlachtfeld in feindliche Hände, bedeutete dies Niederlage und Gesichtsverlust. Die Bewachung wurde deshalb nur den loyalsten und tapfersten Rittern oder Bürgern anvertraut, die einen Eid auf das Banner und den Gonfaloniere schwören mussten. Zu den bekanntesten Bannerherren zählten Rudolf von Habsburg, sein Vater als auch sein Sohn.

Als Schaustück diente das monumentale Banner lediglich in Friedenszeiten, wenn ein Monarch seinen Besuch ankündigte, der Schwörtag zelebriert oder eine städtische Delegation den König zur Kaiserkrönung nach Rom begleitete. Dann durfte am ersten Tag des Römerzugs die Marienstandarte munter neben dem hoheitlichen Reichsadler im Wind flattern. Die Banner der anderen Reichsstädte wie Mainz, Basel, Speyer hatten sich hinten anzustellen.

Kaiser Karl V. in Strassburg 1551; Lithografie von Émile Schweitzer
Kaiser Karl V. in Strassburg 1551; Lithografie von Émile Schweitzer 1894; Quelle: www.numistral.fr

Aus den Memoiren des Stadtbanners

Die älteste Erwähnung einer Marienstandarte datiert aus 1208. Eventuell handelte es sich um eine gestickte und zusätzlich mit Juwelen verzierte Variante. Nach einem Jahrhundert hatte sie ihr Haltbarkeitsdatum erreicht, zur anstehenden Romfahrt Heinrichs VII. im Jahr 1310 musste ein neues Banner angefertigt werden. Angesichts der monumentalen Dimensionen und des beträchtlichen Gewichts entschied sich die Straßburger Führungsspitze für eine Light-Version aus strapazierfähigem Seidentaft. Zuerst wurde die Straßburg-typische Jungfrau mit Kind auf den weißen Untergrund aufgemalt und anschließend die beiden Stoffbahnen zusammengenäht. Auch dieses Banner hielt nur knapp ein Säkulum durch. Die Farben waren verblasst, die Seide brüchig und das Tuch dermaßen schmutzig, dass keine Reinigungsbemühungen halfen.

Das Banner von Strassburg in der Schlacht von Nancy 1477 ; Léo Schnug
Das Banner von Straßburg in der Schlacht von Nancy 1477; Léo Schnug vor 1903

Dieses Mal beauftragte der Senat den Maler Hermann Maler (!) mit der Gestaltung der neuen Stadthauptstandarte. 10 florin gaben die Ratsherren dafür aus, offenbar zu wenig für ein zufriedenstellendes Ergebnis. Wir können nur spekulieren, ob das neue Banner von Außenstehenden Spott und Häme erntete, weil es zu schlicht und der majestätischen Erscheinung der Jungfrau unwürdig war, oder sich der Senat selbst für das bescheidene Ergebnis schämte. Fakt ist, zwei Jahre später flossen weitere 24 Goldflorin an den Maler, damit er das städtische Aushängeschild mit Blattgold aufwertete.

Die gemalte Jungfrau bekam viel von der Welt zu sehen. Immer wenn ein „großer Krieg mit ganzer Streitmacht“ oder eine waghalsige Unternehmung anstand, wurde sie aus der städtischen Schatzkammer geholt. Ein letztes Mal vermutlich 1477 anlässlich des Feldzugs der elsässischen Reichsstädte zusammen mit der Schweizer Eidgenossenschaft und den Truppen des Herzogs von Lothringen gegen den überambitionierten und expansionsfreudigen Karl den Kühnen. In der Schlacht von Nancy kam es zum Showdown, der Bund der Niederen Vereinigung, darunter die Straßburger Miliz, trug den Sieg davon und der letzte Burgunderherzog fand einen grausamen, würdelosen Tod.

Ein unwürdiges Karriereende und alternative Trostpflaster

Mit Einführung der Reformation gab es für das Jungfrauen-Banner endgültig keine Verwendung mehr. Zusammengerollt hielt es bis zum Abriss des Pfennigturms 1745 einen gut geschützten Dornröschenschlaf in der Schatzkammer der Stadt. Danach zog es in den Herrenstall im Viertel Finkwiller um, wo sich die Jungfrau zwischen Pferden und Kutschen des Magistrats in ungewöhnlicher Gesellschaft wiederfand. Ohne zu wissen, wie ihr geschah, fiel sie 1789 dem revolutionären Mob in die Hände, der sie kurzerhand in Stücke zerfetzte.

Heute muss man sich also mit den bereits erwähnten Jungfrauen im Straßburger Münster oder im Historischen Museum begnügen. Alternativ bietet sich ein Kombierlebnis aus kulinarischen und visuellen Genüssen, wahlweise im legendären Maison Kammerzell oder in der Winstub Pfifferbriader am Ferkelmarkt, an. Beide Elsässer Gastronomieinstitutionen würdigen die Madonna mit den Trompetenärmeln auf einem Glasfenster.


Gut zu wissen

Quellen / Literatur

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert