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Hermannstadt und das Alte Land

Hermannstadt und das Alte Land


Mit Hermannstadt und das Alte Land setzt der Historiker Martin Rill sein ambitioniertes Vorhaben, die Bau-, Wirtschaft- und Siedlungsgeschichte der Siebenbürger Sachsen in Wort und Bild zu erfassen, fort.
Seine Bestandsaufnahme ist allerdings ein Rennen gegen den nicht nur unaufhaltsamen, sondern gleichzeitig immer schneller voranschreitenden gesellschaftlichen Wandel, der sich in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens niederschlägt. Insbesondere das 20. Jahrhundert bedeutete für den Landstrich diesseits des Karpatenbogens eine Zeit der umwälzenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen. Irreversible Auswanderungswellen der deutschsprachigen Bevölkerung waren die Folge. So kehrten seit den 1970-er Jahren 95 % der Siebenbürger Sachsen ihrer einstigen Heimat für immer den Rücken.

Dadurch droht der 800-jährigen Kulturlandschaft ein galoppierender Identitätsverlust. Das Dorfgefüge unterliegt gravierenden Umbildungen, das Erscheinungsbild der Gassen und Häuser wird bald nicht wiederzuerkennen sein. Dazu ist vielerorts der Baubestand der Kirchenburgen als die Verkörperung des sächsischen Glaubens und Überlebenswillen in akuter Gefahr. Die letzten Ruhestätten werden ebenso bald vergessen sein, wie die Traditionen und ideellen Werte. Höchste Zeit also, zumindest das materielle, siebenbürgisch-sächsische Erbe zu erfassen und in einen geschichtlichen und wirtschaftlichen Kontext einzubinden. 

Im Buch unterwegs – Meine Highlights


Hermannstadt und sein Umland liegen nicht nur im Vorgarten der Südkarpaten, sondern auch im geografischen Zentrum Rumäniens. Der Landstrich gilt als ältestes Sachsenland. Es wurde bereits Mitte des 12. Jahrhunderts durch die Saxones erfolgreich besiedelt, bewirtschaftet und bebaut. Dass dabei die ökonomische Entwicklung einen entscheidenden Einfluss auf die gebaute Umwelt hat, erfahren wir im Vorwort von Heinrich Lamping, Professor der Wirtschaftsgeografie.

Den Grundpfeiler für das gesunde Wirtschaftswachstum in den sächsisch besiedelten Orten des Königsbodens legte der Goldene Freibrief des ungarischen Monarchen. Darin bestätigte er die Sonderrechte der sächsischen hospites (Gäste) auf Eigentum und Eigenständigkeit. Zudem spielten die Nachbarschaften eine tragende Rolle für das sächsische Erfolgskonzept. Eine gut durchstrukturierte Organisation, klare Regeln, einheitliche Normen und Ziele sorgten in guten wie in schlechten Zeiten für ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das in den Kirchenburgen ihre sichtbare Manifestation fand.

Mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 verloren die Sachsen jedoch ihre 600 Jahre alten Privilegien. Dadurch verschoben sich die Besitzverhältnisse als auch die ethnische Zusammensetzung in den ehemals sächsischen Gemeinden. Die Wirtschaft begann auf der Stelle zu treten. Und da eine stagnierende Ökonomie kein Motor für Veränderungen ist, blieben die vorhandenen Dorfstrukturen bis weit in das 20. Jahrhundert erhalten. Doch mit dem Weggang der Siebenbürger Sachsen verlor dieses gewachsene Erbe plötzlich seine schützenden und bewahrenden Hände.

Zahlen, Fakten und Legenden

Der vorliegende Bildband Hermannstadt und das Alte Land hält für einen kurzen Moment in 22 sächsisch besiedelten Ortschaften die Zeit an. Selbstverständlich nimmt dabei Hermannstadt, als administratives, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der Region, den ihm gebührenden Platz im Buch ein. Außerdem lernen wir die Landgemeinden aus der Vogelperspektive kennen, erhalten einen Eindruck von noch geschlossenen Straßenzeilen mit giebel- oder traufständigen Höfen, bewundern die Wehranlagen der Kirchenburgen oder werfen einen Blick in alte Industriegebäude.

Hermannstadt und das Alte Land

Burgberg – Vurpăr
Freck – Avrig
Girelsau – Bradu
Großau – Cristian
Großscheuern – Şura Mare
Hahnbach – Hamba
Hammersdorf – Guşteriţa
Heltau – Cisnădie
Hermannstadt – Sibiu
Kastenholz – Cașolț
Kerz – Cârţa
Kleinscheuern – Copşa Mică
Michelsberg – Cisnădioara
Neppendorf – Turnişor
Neudorf – Nou
Reußen – Ruşi
Rothberg – Roșia
Schellenberg – Şelimbăr
Stolzenburg – Slimnic
Talmesch – Tălmaciu
Thalheim – Daia
Wassid – Veseud

Zusätzlich zum reichhaltigen Bildmaterial versorgt uns Martin Rill in jeder Ortsmonografie mit historischem Datenmaterial inklusive zukunftsweisender Angaben zur Bevölkerungsentwicklung. Auch wenn die Zahlen knappe 20 Jahre später natürlich nicht mehr die aktuelle Situation widerspiegeln, lassen sie durchaus Rückschlüsse zu, wie gut oder aussichtslos die Chancen auf den Erhalt des siebenbürgisch-sächsischen Erbes stehen. Außerdem liefern die Friedhofsbilder verräterische Hinweise. Das üppig sprießende Unkraut in Burgberg, der verdorrte Rasen in Hahnbach oder die gedeckelten Gräber in Wassid verraten mehr als tausend Worte.

Abgesehen von den historischen Fakten zu den einzelnen Gemeinden, gibt es dazwischen immer wieder amüsante Legenden zu entdecken. Das Dorf Kastenholz war dafür ein besonders guter Nährboden. Vor nicht allzu langer Zeit entdeckte man nämlich im Ort vollkommen in Vergessenheit geratene Eichenfässer aus dem Mittelalter wieder. Der jahrhundertelange Dornröschenschlaf bewog den Wein zum Wechsel seines Aggregatzustandes, sodass er bei seiner Wiederentdeckung aus dem Eichenfass tranchiert werden musste.

Fotografische Offenbarungen

Beim Lesen, Schmökern oder Blättern sollte man unbedingt jede einzelne Bildunterschrift würdigen. Ein Wort, das der Sache in diesem Fall nicht gerecht wird, denn die Bildlegenden gehen weit über eine dekorative Bildbegleitung hinaus. Sie machen auf  die zynische Inschrift auf einem Bauernhaus in Kerz aufmerksam, erzählen von dem vorhochzeitlichen Steinkugel-Ritual in Michelsberg oder lehren mich, dass ein Büffelklavier so gar nichts Musikalisches an sich hat.

Für eine weitere Überraschung im Buch sorgt eine Handvoll Fotografien, die ausnahmsweise nicht die gebaute Umwelt selbst, sondern die darin lebenden Menschen in den Fokus des Objektivs rückt. Die Bilder sind der letzten Generation sächsischer Marktfrauen gewidmet. Schon ihr Leben lang kommen sie regelmäßig auf den Wochenmarkt nach Hermannstadt, um frisches Gemüse, Obst oder Schnittblumen aus dem heimischen Garten zum Verkauf anzubieten. Sei es als spärliches Zubrot für ihren Lebensabend, aus Stolz auf den Ertrag ihrer Hände Arbeit oder einfach nur aus Tradition.

Fasziniert bin ich ebenfalls von dem fotografischen Detailblick, dem weder die ungewöhnliche menschliche Darstellung auf der mittelalterlichen Grabplatte in Heltau, noch die Relieffiguren eines Geistlichen und eines monströsen Fabelwesens am Kirchturm von Neudorf entgeht. Zu meinen absoluten Favoriten zählen allerdings die beiden romanischen Konsolenköpfe am Neudorfer Chor. Ein freundlich-tumbes Tiergesicht leistet einem seriösen menschlichen Antlitz treu Gesellschaft. Kein böses Wort wird je zwischen ihnen fallen, keiner wird den anderen enttäuschen oder hintergehen, noch wird sich je jemand zwischen sie stellen. Es sieht nach einer wahren Freundschaft für die Ewigkeit aus.

In Leselaune’s Schlussansichten


22 Orte, 300 Seiten und 480 Farbaufnahmen präsentiert Martin Rill seinen Lesern in Hermannstadt und das Alte Land. Dabei kommt jede einzelne der großformatigen Landschafts- und Dorfansichten in dem 30 x 30 Zentimeter großen Leinenband mit Schutzumschlag einer Einladung ohne Rückfahrkarte gleich. Sogar eine moderne mediale Kampagne hätte die Werbetrommel für den Erhalt siebenbürgisch-sächsische Kulturlandschaft nicht besser rühren können.

Cover-Rueckseite des Bildbands Hermannstadt und das Alte Land

Der Bild- und Dokumentationsband überzeugt auf ganzer Linie. Mit zu seinen Stärken zählt die inhaltliche und gestalterische Bandbreite, wobei das ausgewogene Verhältnis von Text, Bild- und Kartenmaterial eine große Rolle spielt. Selbst nach 20 Ortsmonografien werde ich nicht überdrüssig auch noch Nummer 21 und 22 zu lesen. Denn trotz des geballten Datenmaterials, sind die Texte immer kurzweilig, nie zu wissenschaftlich, noch zu exzessiv.

Besonderes Lob gebührt dem Konzept der Innenaufnahmen der Sakralgebäude. Mit dem Blick nach Osten in den Chorraum einerseits und anschließend in die westliche Flucht in Richtung Orgelempore, fühle ich mich im Kirchenschiff sofort fest verankert. Insofern erfüllen die hochwertigen Bilder in ihrer Objektivität alle dokumentarischen Ansprüche.

Und trotzdem gehen mir die Ansichten des leeren Orgelprospekts in Neudorf, des mangels Gemeinde aufgelassenen Gotteshauses in Wassid oder die Kirchenfahnen, die Angehörige ihren verstorbenen Familienmitgliedern stifteten, direkt unter die Haut. Ich fühle mit den Eltern des verunglückten Söhnchens Stefan Rill in Kleinscheuern, gedenke der viel zu früh verstorbenen Söhne der Familien Schnell und Köber in Neppendorf oder spüre die Trauer der Witwe und der Eltern des im II. Weltkrieg gefallenen Johann Lang aus Kastenholz. Dank Hermannstadt und das Alte Land ist nun der Schmerz der Hinterbliebenen für immer dokumentiert, selbst wenn die Kirchenfahnen immer weiter verblassen. So gesehen, versteht sich dieses Buch nicht nur als visuelles Gedächtnis der 800-jährigen Kulturgeschichte der Siebenbürger Sachsen, sondern auch als Hüter ihres emotionalen Erbes.

Kurze Wunschliste für einen non-plus-ultra Lesekomfort

Abschließend frage ich mich wie immer, was hätte der Autor und Verleger besser machen können?
Bei Hermannstadt und das Alte Land musste ich lange suchen zumal sich Qualität, Konzept und Inhalt tadellos präsentieren. Deshalb jammere ich jetzt auf sehr hohem Niveau. und auch nur, weil mich der Vorgängerband Das Burzenland dahingehend verwöhnt hat.

Ich vermisse nämlich die dezente Ortskennzeichnung auf jeder Seite sowie die alphabetische Reihenfolge der vorgestellten Gemeinden. Eigentlich nur zwei Kleinigkeiten, allerdings mit großer Wirkung, denn angesichts des Buchumfangs habe ich doch bei der ein oder anderen Unterbrechung der Lektüre kurzzeitig die Orientierung verloren. Fehlende Orientierung ist dann auch das perfekte Stichwort für mein abschließendes b-Moll, weshalb ich mir wünsche, dass die Übersichtskarte wieder ihren Platz am Buchanfang erhält und nicht im hinteren Einband Versteck spielt.


Cover des Bildbands Hermannstadt und das Alte Land

Hermannstadt und das Alte Land

Kategorie: Bildband; Nachschlagewerk
Autor(en):
Martin Rill (Herausgeber und Texte)
Thomas Nägler (Texte)
Georg Gerster (Luftfotografien)
Martin Eichler (Fotografien)
Heinrich Lamping (Einführung)
Verlag: Wort + Welt + Bild Verlag Dresden
Erscheinungsjahr: 2002; 1. Auflage
Ausgabe: Hardcover
Umfang: 300 Seiten
ISBN: 3-9807949-4-9
Preis: 30,00 €

Das Cover und alle Bilder sind Eigentum des Verlags, Herausgebers, Fotografen bzw. sonstigen Rechteinhabers. Die Rezension ist unbezahlt. Das Buch wurde auf eigene Kosten angeschafft.

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