Detail des Mausoleums des Tenors Julian Gayarre auf dem Gemeindefriedhof in Roncal, Navarra
Navarra,  Spanische Erinnerungen

Valle de Roncal – Die Heimat von Julián Gayarre

Am nordöstlichen Rand der Pyrenäen treffe ich auf die Inkarnation der Stille. Hier, im Valle de Roncal, muss das Wort „Stille“ definiert worden sein. Die Abwesenheit von Geräuschen ist in der kaum besiedelten Gebirgslandschaft omnipräsent. Selbst der Río Esca, der das Tal durchzieht, scheint sein Murmeln eingestellt zu haben. Die tiefgrünen Wälder saugen jeden Hall schon in der Entstehung auf. Sobald ein Laut versucht sich auszubreiten, trägt ihn die kristallklare, frische Bergluft hinweg.

Valle de Roncal in den nordspanischen Pyrenaeen

Es ist, als ob Alles und Jeder darauf wartet, dass durch die anhaltende Stille ein bestimmter Zauber wieder heraufbeschworen werden kann. Dass durch die Lautlosigkeit, eine verloren gegangene Stimme zurückkehrt.
Doch das wird sie nicht. Denn die Stimme ist seit dem 2. Januar 1890 für immer verstummt.

Vom Schafhirten zum begnadeten Tenor

Julián Gayarre war einer der stimmgewaltigsten Tenöre seiner Zeit.
Er begeisterte die Menschen an der Mailänder Scala und sorgte für ausverkaufte Opernhäuser in London, Paris und Petersburg. In Buenos Aires und Río de Janeiro rissen die standing ovations nicht ab. Neapel, Bologna und Madrid feierten ihn als einzigartig. Sein Repertoire war außergewöhnlich. Verdi, Donizetti, Bellini, Bizet, Wagner. Er sang sie alle. Werke, an die sich bis heute kein Tenor mehr heranwagt.

Fotografie des Startenors Julian Gayarre 1844 - 1890

Geboren 1844 in Roncal, der Hauptstadt des gleichnamigen Tals, verdingte sich Julián Gayarre Garjón zunächst als einfacher Schafhirte. Später schickte ihn sein Vater nach Pamplona, um das Handwerk eines Schmiedes zu lernen. Durchziehende Straßenmusikanten schlugen ihn in seinen Bann, derentwegen er seinen Arbeitsplatz unerlaubterweise verließ und gekündigt wurde.
Zu dieser Zeit wurde ein Förderer auf Juliáns Talent aufmerksam. Nach erfolgreichem Vorsingen am Konservatorium in Madrid, erhielt er ein staatliches Stipendium. Eine steile Karriere, vom Sohn einer einfachen Landarbeiterfamilie bis zum weltberühmten Opernstar, nahm ihren Lauf.
Doch was wie ein Traum begann, wie ein Märchen seinen Fortgang fand, nahm leider ein dramatisches Ende. Im Dezember 1889, während eines Auftritts am Teatro Real in Madrid, versagte Julián Gayarre die Stimme. Für den Tenor mit dem einzigartigen Timbre brach eine Welt, seine Welt, zusammen. Fest davon überzeugt, dass er nie mehr würde singen können, verfiel er in tiefe Depression und verstarb nur 45-jährig.

Ein kleines, aber feines Museum

Ich stehe vor dem Geburtshaus von Julián Gayarre im Pyrenäendorf Roncal. Gayarre unterbrach seine kräftezehrenden Reisen durch Europa und Amerika immer wieder mit Aufenthalten in Roncal. Trotz des Weltruhmes vergaß er nie seine Wurzeln. Gerne kehrte er in seine Heimat zurück, denn hier fand er stets die Ruhe und Abgeschiedenheit seiner Kindheitstage wieder.

Auch der knapp 250 Einwohner zählende Ort hat seinen berühmten Sohn nicht vergessen und sein Geburtshaus als Museum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Im Erdgeschoss wandle ich zwischen diversen Schaukästen, in denen zahlreiche Opernkostüme des Startenors, Photographien, Briefe, Librettos und Partituren ausgestellt sind. Durch die vielfältigen Zeitdokumente erhält man einen übersichtlichen chronologischen Abriss seines viel zu kurzen Lebens.

Eine schmale Treppe führt in die zweite Etage, in der sich das wieder hergerichtete Schlafzimmer Gayarres befindet. Schlicht, bescheiden, bodenständig. Ein ganz normaler Raum in einem typischen, einfachen Haus in den Pyrenäen. Keine Millionenvilla mit zehn Zimmern, beheiztem Swimmingpool, und eingezäuntem Grundstück. Gayarre benötigte keine oberflächlichen Statussymbole, die die Stars von heute so gerne prahlerisch vor sich hertragen. Ob sie dadurch glücklicher sind? Gayarre war auf jeden Fall glücklich hier. 

Valle de Roncal im Norden Spaniens umgeben von den Pyrenaeen

Ein stummes Erbe

Leider fehlt im Museum das wichtigste Element, das den Künstler Gayarre ausmachte. Das elementarste Puzzlestück aus dem Leben des Sängers. Maler hinterlassen Gemälde, Bildhauer Skulpturen, Schriftsteller Bücher, Regisseure Filme oder Komponisten Noten. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Aber was bleibt von einem Tenor? Selbstverständlich seine Stimme. Wenn aber keine einzige Aufnahme davon mehr erhalten ist? Dann hinterlässt die Abwesenheit der Stimme eine unüberwindbare Stille. Und so ist es auch in seinem Zimmer, im ganzen Haus: still.

Bueste des Tenors Julian Gayarre vor seinem Geburtshaus in Roncal in Navarra, Spanien

Angesichts der nie gehörten Stimme, verlasse ich das museo in melancholischer Stimmung und verdränge gleichzeitig das pietätlose Ausstellungsstück im letzten Schaukasten aus meinen Gedanken.
Sollte der ausgestellte Kehlkopf des Sängers, der nach seinem Tod zu Studienzwecken entnommen wurde, zum Besuchermagnet werden? Warum nur hat sich die Museumsleitung dazu hinreißen lassen, auf dem schmalen Grat zwischen historischem Kulturgut und geschmacklosem Kuriositätenkabinett zu wandeln? Um das zu verstehen, muss man vielleicht in Spanien aufgewachsen sein.

Eine richtige Entscheidung

Vor dem Haus empfängt mich neben der kühlen Bergluft das rustikal ländliche Ambiente eines typischen Pyrenäendorfes. Massive Steinhäuser, mal weiß getüncht, mal mit zum Teil schattigen Gemüsegärten dahinter, und immer mit einem individuellen Schornsteinaufsatz versehen. Unregelmäßig gepflasterte, im Zick-Zack verlaufende Gassen, die alle der hoch über Roncal erbauten Wehrkirche San Esteban zustreben.

Die wuchtige Wehrkirche San Esteban thront hoch ueber dem Dorf Roncal

Entspannt an die Kirchenmauer gelehnt, nehmen drei diskusförmige Grabstelen ein gemütliches Sonnenbad, wohl wissend, dass kaum eine einheimische, geschweige denn eine fremde Menschenseele, daran Anstoß nehmen wird. Um mich ein wenig aufzuwärmen, geselle ich mich für ein paar Minuten zu ihnen.

Drei mittelalterliche Begraebnis-Stelen sonnen sich an der Wand der Wehrkirche San Esteban in Roncal

Dann zieht es mich, wie die meisten Fremden, die den Weg nach Roncal finden, an das entgegengesetzte Ende des Dorfes zum neuen Gemeinde-Friedhof mit der beeindruckenden Grabstätte des Tenors.
Der spanische Bildhauer Mariano Benlliure schuf für seinen Freund ein monumentales Grabdenkmal, das dem Gewidmeten in seiner Berühmtheit in nichts nachstand. Die aus Bronze und Marmor geschaffene Skulptur war eine der Höhepunkte der Pariser Weltausstellung von 1900. Und Jahrzehnte später brachte die Spanische Nationalbank 500-Peseten-Scheine in Umlauf, die sowohl das Konterfei Benlliures als auch sein Meisterwerk abbildeten.

Mausoleum des Tenors Julian Gayarre auf dem Gemeindefriedhof in Roncal, Navarra. Das Mausoleum wird von einer Plastik aus Bronze und Marmor des Bildhauers Mariano Benlliure geschmueckt.

Ich bin ebenfalls von dem mit aller künstlerischen Finesse gearbeiteten Grabdenkmal beeindruckt. Wuchtig und elegant zugleich, hebt es sich von der Kulisse der tiefgrünen Berghänge ab. Sicherlich, wäre es nach dem Wunsch der spanischen Königin Maria Cristina gegangen, hätte es auf dem Platz neben dem Königlichen Theater in Madrid, mehr Bewunderer gefunden. Dennoch ist die Abgeschiedenheit des Roncal Tales der bessere, der richtigere Ort. Wer hierher kommt, trauert zusammen mit der zu Füßen des Mausoleums knienden Allegorie der Musik um Julián Gayarre. Und wer in sich hineinhört, kann vielleicht die ersten Takte einer Oper ausmachen und sie vom Echo der Berge weitertragen lassen.

Der Queso Roncal – ein Käse wie das Land

Bildung macht hungrig und bevor es mich weiter nach Norden zieht, dem Ruf der Schwalben folgend, heißt es dem Aushängeschild der Roncaleser Nahrungsmittelindustrie die Ehre zu erweisen. Überzeugungsarbeit muss in diesem Fall nicht an mir geleistet werden, denn alles was nach Käse aussieht, duftet und schmeckt, hat in meiner Nähe keine lange Lebensdauer. Ein Mindesthaltbarkeitsdatum für Käse ist für mich persönlich völlig überflüssig, ausgenommen die Käsesorten zu denen bei der Verköstigung das Tragen einer Gasmaske empfehlenswert scheint oder sich lebende, wenn auch mikroskopisch kleine Tierchen darin tummeln. Doch zu diesen beiden Gattungen gehört der Queso Roncal glücklicherweise nicht, deshalb lasse ich mir in der Agroalimentación an der Hauptstraße gleich noch einen kleinen Vorrat für unterwegs einpacken.

Einen hohen Fettanteil und eine leicht pikante Note zeichnen den weiß-hellgelb marmorierten Schafsmilchkäse mit der harten Rinde aus. Seinen aromatischen Geschmack verdankt der über die Landesgrenzen hinaus bekannte Hartkäse den beiden Weidegebieten der Schafe. Im Frühjahr und Sommer trifft man sie auf den hochgelegenen Gebirgsweiden an bevor es dann im September für die Herbst- und Wintermonate, in die fast 130 Kilometer entfernten, tiefer gelegenen Bardenas Reales geht.

Was Mut und Tapferkeit mit dem Queso Roncal zu tun haben

Diese alljährlich stattfindende Transhumanz blickt auf eine über 1000-jährige Tradition zurück. Der heutige Nationalpark Bardenas Reales gehörte einst dem König von Navarra. Dieser erteilte den Bewohnern aus dem Roncal-Tal das Privileg, das königliche Weidegebiet zu nutzen. Ein Privileg, das im Gegensatz zur heutigen Gesellschaft nicht durch Geld erkauft, durch Macht erzwungen oder gewaltsam erpresst, sondern durch Loyalität und Tapferkeit im Angesicht des Feindes mit Blut und Schweiß verdient wurde.
Mit den Roncalesen war nicht zu spaßen. Die arabischen Eroberer, insbesondere der König von Córdoba, Abderramán I. und sein Gefolge, hätten davon ein Lied singen können, wären ihnen nicht beim Versuch, die Pyrenäen zu überqueren, von den unerschrockenen Bergbauern die Köpfe abgeschlagen worden.
In Anerkennung ihres Mutes im Kampf gegen die Mauren, dürfen seither die Gemeinden des Valle de Roncal ihre Wappen mit einem enthaupteten Araberkopf schmücken. Darüber hinaus erhielten ein lebenslanges Wege- und Weiderecht in den Bardenas Reales.

Der Zug der Schwalben

Während sich die männlichen Bewohner des Roncal-Tales einen Namen als Kämpfer und Schafzüchter machten, hielten es die Frauen in den letzten zweihundert Jahren mit den Schwalben. Im Herbst machten sie sich auf den Weg über die Pyrenäen ins französische Nachbardorf Mauléon. Dort fanden sie bis zum Frühjahr Anstellung in der Hanfschuh-Fabrik. Der Weg war lang, und so trugen die Berufspilgerinnen stets einen weißen Schemel zum Ausruhen bei sich. Zusammen mit ihrer schwarzen Kleidung, dem ebenfalls weißen Proviantsack, den sie keck an einem über die Schulter getragenen Stock befestigt hatten, und dem unablässigen Getratsche und Gezwitscher in der reinen Frauenrunde, sprach man im Tal bald nur noch vom Zug der Schwalben. Mittlerweile sieht man die Schwalben nur noch am Himmel vorbeiziehen. Der ehemals harte und entbehrungsreiche Broterwerb ist erfolgreich dem Agrotourismus, als zweitem Standbein der Familien, im Roncal-Tal gewichen.

unbewohntes Steinhaus im Valle de Roncal

Onki Xin!

Geprägt von den technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts, fällt es schwer, mir ein Leben vorzustellen, wie es noch vor einem knappen Jahrhundert im östlichsten Pyrenäental geführt wurde. Deshalb mache ich mich auf den Weg nach Isaba, um im dortigen Ethnographischen Museum in den Alltag der Schwalben und ihrer Familien einzutauchen.

Mit einem warmherzigen Onki Xin werde ich von der Museumsaufsicht empfangen. In Unkenntnis, ob es sich hierbei um eine Grußformel, einen gut gemeinten Ratschlag oder die Standardfrage nach meiner Herkunft handelt, ziehe ich ratlos die Augenbrauen in die Höhe und antworte mit einem ratlosen Schulterzucken. Schnell schickt die junge Dame am Eingang ein bienvenido hinterher.
Ich bekomme erklärt, dass die Bewohner des Roncal-Tales bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ihren eigenen baskischen Dialekt pflegten, den uskara roncalés. Sein Gebrauch wurde mittels staatlicher Repressionen im 20. Jahrhundert verboten, und als die letzte Muttersprachlerin im Jahre 1991 knapp hundertjährig verschied, wurde einer der ältesten Dialekte der westlichen Hemisphäre mit ihr beerdigt. Glücklicherweise engagierten sich bereits Jahre zuvor einige eifrige Sprachforscher die Wurzeln und Wörter des uskara roncalés zu Papier zu bringen, so dass heute zumindest ein Teil der ursprünglichen sprachlichen Identität der Roncalesen dokumentiert ist und nur auf Reanimation wartet.

Tradition ja, aber Museum geht auch modern!

Das Heimatmuseum liegt den Bewohnern des Pyrenäentals sehr am Herzen. Man spürt, dass der oder die Kuratoren jeden Raum mit Herz und Seele gestaltet haben. Offensichtlich wurden keine Gelder und Mühen gescheut, Kulturgeschichte authentisch, lebendig und interaktiv zu präsentieren. Es macht Spaß durch diese Ausstellung zu schlendern. Hier werden dem Besucher keine verstaubten Schautafeln, keine toten Fliegen in den Vitrinen, keine vergilbten und ausgeblichenen Hinweisschildchen zugemutet.

Ich darf am nachgestellten Alltagsleben einer Roncaleser Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts teilnehmen, und es mir in den originalgetreuen Nachbildungen ihres Wohnzimmers und der Küche gemütlich machen. Daneben bedaure ich die karge Wohnstatt des Schäfers und bange mit den Angehörigen wegen des gefährlichen Jobs der Flößer. Es war ein hartes und entbehrungsreiches Dasein. Die Tage und Nächte von stetigen Sorgen um Gesundheit und Existenz geprägt. Nicht umsonst schreibt man noch heute den Bewohnern des Roncal-Tales zwei grundlegende Charakterzüge zu:  Hartnäckigkeit und Anpassungsfähigkeit. Nur so war ein Überleben möglich.

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