Monasterio San Salvador de Leyre
Die Frage nach der Ewigkeit
Ich wechsle die Fronten.
Der unergründlich tiefgrün und an anderen Stellen opalfarbig schimmernden Yesa-Stausee ist immer noch derselbe, doch diesmal habe ich navarresischen Boden unter den Füßen. Ich folge der wenig frequentierten Alternativstrecke des sogenannten aragonischen Jakobsweges bis zur Sierra de Leyre. Der zerklüftete, sich über 20 Kilometer ausdehnende Gebirgszug thront erhaben über dem umstrittenen Stausee. Doch nicht die beeindruckende Kulisse treibt mich zu diesem Abstecher auf 1000 Meter Höhe an, sondern die unbeantwortete Frage nach der Dauer der Ewigkeit.
Abt Virila und der Gesang der Nachtigall
Virila, um das Jahr 900 herum Abt des Klosters San Salvador de Leyre, war mit fortschreitendem Alter von starken Zweifeln und Ängsten angesichts der Unermesslichkeit des Lebens nach dem Tod geplagt. Zwar schien ihm das Leben „danach“ im Schoße Gottes durchaus verheißungsvoll, aber für die Ewigkeit? Für eine Zeitspanne, die weder greifbar, noch messbar, noch vorstellbar ist?
Tagein, tagaus sinnierte der Klostervorsteher bei seinen morgendlichen Spaziergängen durch die Wälder der Sierra de Leyre über diese existenzielle Frage und tagein, tagaus kehrte er resigniert von selbigen zurück, ohne eine beruhigende Antwort darauf gefunden zu haben. Virila schämte sich für seine Zweifel, schallte sich selbst einen Narren, aber konnte dennoch seine Furcht angesichts der sich zu Ende neigenden Lebensuhr nicht ablegen.
Da hatte Gott ein Einsehen mit ihm und schickte ihm auf seinem morgendlichen Meditationsgang eine jubilierende Nachtigall entgegen. Von dem betörenden Gesang angezogen, folgte Virila der Nachtigall bis zu einer Quelle, wo er sich erschöpft niederließ, um ein wenig auszuruhen. Umgehend versank der Abt in einen tiefen Schlaf, aus dem er erst erwachte, als es bereits dämmerte.
Schnellstens machte er sich auf den Weg zurück ins Kloster, doch je näher er kam, desto mulmiger wurde ihm. Hier schien etwas nicht zu stimmen. Hatte er sich etwa verlaufen? Das kleine Kloster, dem er vorstand, hatte sich in eine prächtige Abtei verwandelt. Als er an die Pforten klopfte, öffnete ihm ein fremdes Gesicht. Nach einiger Verwirrung um seine Person und Recherchen in den Archiven des Klosters fanden die Mönche heraus, dass sage und schreibe 300 Jahre vergangen waren, seit Virila zu seinem Ausflug in die Berge aufgebrochen war. Ihm aber war es wie ein Wimpernschlag vorgekommen. Glückselig im Wissen über die Kurzweil der Ewigkeit entschlief der Abt drei Tage später für immer.
San Salvador de Leyre – das intellektuelle Zentrum des Königreichs Navarra
Sollte hier am Fuße der Sierra de Leyre also tatsächlich der Schlüssel zur Frage der Ewigkeit liegen?
Schauen wir uns zunächst ein wenig in der Vergangenheit des abgeschiedenen Klosters um. Sie reicht bis in das Jahr 848 zurück, als ein weit gereister Priester dem Bischof von Pamplona ein wahres Loblied auf die unermesslichen Schätze der Klosterbibliothek und die ihm entgegengebrachte Gastfreundschaft sang.
Lange Zeit blieb die klösterliche Enklave aufgrund ihrer abgeschirmten Lage unterhalb der Pyrenäenausläufer von den Raubzügen der arabischen Eroberer verschont. Doch als die Mauren erkannten, dass die Herrscher des Königreichs Navarra San Salvador de Leyre als heimlichen Rückzugsort nutzten, setzten sie die Anlage im 10. Jahrhundert in Brand. Ein Ereignis, welches die Bande zwischen den Mönchen und dem Königshaus noch enger knüpfte.
Sancho Garcés III. el Mayor (der Große), der seine Erziehungsjahre im Kloster verbracht hatte, kümmerte sich um den Wiederaufbau und übereignete dem Konvent als Starthilfe zahlreiche Schenkungen. Das Monasterio de Leyre wuchs und gedieh. Die Besitztümer vermehrten sich fast von allein. Bereits ein Jahrhundert später konnte das von Benediktinern verwaltete Kloster knapp 40 Gemeinden, über 70 Kirchen, sowie zahlreiche Mühlen, Weinberge, Gemüsegärten und Landgüter sein Eigen nennen. San Salvador de Leyre hatte sich zum geistlichen, politischen und kulturellen Zentrum des Königreichs Navarra entwickelt.
Das schwarz-weiße Tauziehen der Mönche um Leyre
Aber, wie so oft in der Geschichtsschreibung, folgte dem Aufstieg alsbald der tiefe Fall. Dabei gingen politische Veränderungen als auch religiöse Zerstrittenheit Hand in Hand. Der Reichtum des Klosters verführte die Geistlichen zu Disziplinlosigkeit und Aufmüpfigkeit. Sie suchten die Konfrontation mit dem Bischof von Pamplona, um die Unabhängigkeit von Leyre zu bewirken. Währenddessen kam es zum Zusammenschluss der beiden Königreiche Navarra und Aragón. Die neue Dynastie missbilligte das Verhalten der Mönche aufs Schärfste und entzog ihnen Gunst und Güter.
Ein Ordenswechsel sollte Abhilfe schaffen. Die Zisterzienser hielten mit päpstlicher und königlicher Unterstützung 1239 Einzug in Leyre. Damit begann ein über 75 Jahre andauerndes schwarz-weißes Tauziehen. Die Handvoll verbliebenen Benediktinermönche im schwarzen Habit war nämlich nicht bereit, sich von dem bequemen Leben in Leyre zu verabschieden. Vergeblich versuchten sie, mittels gefälschter Dokumente und Bestechung, den Zisterziensern in der weißen Ordenstracht die Ländereien abzuluchsen. Wenn also friedliche Mittel nicht halfen, musste eben eine härtere Gangart gefahren werden.
So griffen die „Schwarzen“ mehrmals die Klosteranlage an, wofür die sie kurzerhand exkommuniziert wurden. Da sie nun nichts mehr zu verlieren hatten, holten sie zum letzten Schlag aus, überrannten das Kloster, überwältigten die Zisterzienser und sperrten diese kurzerhand in ihren eigenen vier Wänden ein. Dieser Handstreich rief sowohl Papst als auch König erneut auf den Plan, die unisono dem liederlichen Treiben ein nicht weniger gewaltsames Ende bereiteten.
Mit dem Jahr 1307 kehrte endlich wieder Ruhe in Leyre ein. Doch Ruf und Ansehen des Klosters hatten großen Schaden genommen. Hinzu kamen Missernten, Seuchen und Bürgerkriege. Der Niedergang war nicht mehr aufzuhalten.
Niedergang und Renaissance
1834 gingen in der Abtei San Salvador de Leyre endgültig die Lichter aus. In der Staatskasse befand sich nach den Unabhängigkeitskriegen ein großes Loch, das man, unter anderem, durch die landesweite Auflösung und Enteignung der Klöster zu stopfen gedachte. Die Zisterzienser wurden vertrieben, die Ländereien und das Inventar – angefangen vom Mobiliar bis hin zur wertvollen Bibliothek – versteigert. Was übrig blieb und nicht niet- und nagelfest war, wurde geplündert. Die Kirche fand eine neue Verwendung als öffentlicher Schafstall. Kurz bevor der Klosterkomplex in sich zusammen zu fallen drohte, fand sich ein privater Käufer.
Und just zu diesem Zeitpunkt erwachte die Denkmalschutz-Kommission von Navarra aus ihrem Dornröschenschlaf. Der Kaufvertrag wurde annulliert und der Konvent 1868 zum Nationaldenkmal erklärt. Man erstellte Pläne zur Restaurierung, die aber immer wieder in diversen Schubladen verschwanden. Erst in den 1940-er Jahren wurde die Nationalregierung Navarras endlich umfassend tätig. Unter Anleitung und Überwachung des Instituts Príncipe de Viana, dem Dezernat für Kultur und Tourismus, entwickelte sich der Wiederaufbau zum Vorzeigeprojekt. Unterstützung leistete dabei, (welch Ironie der Geschichte) eine kleine Abordnung schwarz gekleideter Benediktinermönche aus Santo Domingo de Silos.
Mit der Rückkehr der Mönche wurde dem Kloster im Jahre 1954 auch wieder geistliches Leben eingehaucht. Exakt ein viertel Jahrhundert später und zeitgleich mit dem offiziellen Abschluss der Instandsetzung feierten San Salvador de Leyre und seine dreißig Ordensbrüder die Erhebung zur selbstständigen Abtei.
Gänsehaut Teil I
Beim Einbiegen auf die ausgewiesene Parkfläche habe ich ein Déjà-vu. Kein anderes Fahrzeug weit und breit. Ganz selbstverständlich drückt mir die freundliche Dame im Empfangsbereich ein Faltblatt und die Kirchenschlüssel in die Hand, versehen mit einer Anleitung wie die massive Eingangstür zu öffnen, und wo exakt der Lichtschalter im Innern zu finden ist.
- Neues Kloster
- Empfangsbereich
- Klosterkirche
- Krypta
- Altes Kloster (heute Unterkünfte)
- Patio
- Refektorium
- romanisches Portal Puerta Speciosa
Als ich die ersten Schritte in die vage Dunkelheit der Kirche setze, erlebe ich eine ungewohnte Schüchternheit. Die im diffusen Licht himmelhoch strebenden Wände und Gewölbebögen machen mir meine eigene Bedeutungslosigkeit nur zu sehr bewusst. Und dann ist da noch diese Stille. Zum Glück setzt sich endlich die Beleuchtung in Gang. Dadurch verschwindet zwar meine Gänsehaut, aber die Ergriffenheit bleibt.
In einer barocken Kirche wäre kein Platz für diese Emotionalität. Dort wird man von unzähligen Heiligen, pausbäckigen Engeln, kitschigen Putten, Schnörkeln hier, Verzierungen da, in Gold getauchten Hochaltären und überbordenden Seitenkapellen geradezu erschlagen. Ständig werden Blick und Gedanken abgelenkt, schweifen umher, finden keine Ruhe. Der Barock ist für die Menschen gemacht. Eine eitle Selbstdarstellung, die von den eigentlichen Inhalten ablenkt. Deshalb mache ich immer einen großen Bogen um Alles, wo Barock draufsteht oder Barock drin ist. Aber hier, in der Wiege der Romanik, ist der Mensch für sich.
Ein Blick auf die Uhr verrät, dass mir weniger als eine Stunde bleibt, bis sich die Ordensbrüder hier pünktlich um Zwölf Uhr zur Mittagsmesse einfinden werden. Also muss ich mich mit meinem Erkundungsrundgang sputen.
Kein Gotteshaus ohne MärtyrerInnen
Ich starte mit der Kapelle der Heiligen Nunilo und Alodia, die in Leyre eine über tausendjährige Verehrung erfahren. Die beiden Schwestern lebten im 9. Jahrhundert in der von Mauren besetzten Provinz Huesca. Sie entstammten einer christlichen Ehe, doch leider verstarb ihr Vater viel zu früh. Die Mutter heiratete erneut, wobei sich der muslimische Stiefvater in Glaubensfragen wenig tolerant zeigte. Er missbilligte die Hingabe der beiden Schwestern zum Christentum und übergab sie deshalb zur Umerziehung in die gestrengen Hände tiefgläubiger muslimischer Frauen. Allerdings vergeblich, denn Alodia und Nunilo standen weiterhin zu ihrem Glauben. Der Kadi verurteilte sie daraufhin im Jahre 851 zum Tode durch Enthauptung.
Das Altargemälde der Kapelle lässt keine Fragen zum Martyrium der Jungfrauen offen. Furchtlos, mit einem Schicksal ergebenen Lächeln im Gesicht, folgen die Christinnen ihrem schnauzbärtigen Scharfrichter. Im rechten Bildabschnitt waltet dieser bereits mit pflichtbewusster Professionalität seines Amtes. Die ältere der beiden Schwestern liegt bereits mit durchtrennter Kehle am Boden, während der Henker zum tödlichen Schlag gegen die Jüngere anhebt.
Nach ihrer Enthauptung verscharrte man die Schwestern an einem geheimen Ort. Erst drei Jahrzehnte später wurden ihre Leichen durch ein göttliches Zeichen wiederentdeckt. Dieses Wunder drang bis zur Königin vor, die eine tiefe Verehrung für die Märtyrerinnen hegte. Sogleich ordnete sie die Überführung der völlig unversehrten Leichname in das Kloster nach Leyre an und ließ sie dort bestatten. Wie allerdings die intakten sterblichen Hüllen der Heiligen zweihundert Jahre später in Schuhkarton großen Elfenbeinschrein passten, bleibt der eigenen Phantasie anheimgestellt. Fest steht, dass ein Teil der Reliquien nach wir vor in Leyre zuhause ist, während die wertvolle maurische Schatulle zu den Hauptattraktionen des Museo de Navarra in Pamplona zählt.
Ein königliches Versteckspiel
Wie eingangs erwähnt, waren die ersten Könige Navarras von ihrer Kindheit bis zum Tod auf das Engste dem Kloster Leyre zugetan. Ergo, ließen sie sich auch hier zu Grabe tragen. Lange Zeit tappte man hinsichtlich ihres Begräbnisorts im Kloster von Leyre im Dunkeln. Da aufwendige Grabmäler damals nicht gang und gäbe waren, sondern nur schlichte, im Boden oder der Wand eingelassene Steinplatten als Abdeckung einfacher Sarkophage dienten, vermutete man ihre letzte Ruhestätte in der Krypta oder im Säulengang des Klosters.
Aber war dem tatsächlich so?
Die Ereignisse im Jahr 1613, in dem die Südmauer der Klosterkirche aufgebrochen wurde um Platz für eine neue Sakristei zu schaffen, ließen einen anderen Schluss zu. Denn gleichzeitig mit Beginn der Bauarbeiten ließen die Zisterzienser mehrere goldverzierte Holzschatullen anfertigen. Außerdem luden sie den Bischof von Pamplona zu einer feierlichen Zeremonie ein. Doch nicht, um die neue Sakristei einzuweihen, sondern um dem Geheimnis, das sich hinter der Mauer verbarg, die angemessene Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.
Am Tag der Lüftung des „offiziellen“ Mysteriums kamen, welch Überraschung, zwei Steinmausoleen ans Tageslicht. Eines davon beherbergte einen Leichnam von mächtiger Statur, während im anderen mit Silber- und Goldbrokat verzierte Gewänder, wertvoll gearbeitete Harnische, ein Goldring, ein Zepter und Knochenreste von fünfzehn verschiedenen Personen durcheinanderlagen. Niemand der Anwesenden zeigte sich angesichts dieses ungewöhnlichen Funds überrascht. Aber warum?
Zwei Hypothesen
Ein Blick auf den politisch-historischen Kontext könnte eine plausible Erklärung für das heimliche Verschwindenlassen der hoheitlichen Überreste liefern.
1512 wurde das Königreich Navarra von Kastilien annektiert. Aus Opportunität gegenüber dem neuen Machtgefüge ließ man die navarresischen Majestäten-Gebeine schnellstens hinter dicken Mauern verschwinden. Einhundert Jahre später befand sich das neu entstandene Königreich innenpolitisch in ruhigem Fahrwasser, das Kloster hingegen in einem desaströsen Zustand. War dies nicht die ideale Gelegenheit durch diesen „unerwarteten“ Fund die Stellung von San Salvador de Leyre aufzuwerten? Materielles Denken war schon damals kein Fremdwort, nicht einmal innerhalb der Klostermauern. Und so hatten sich die Zisterzienser ausgerechnet, dass die finanziellen Mittel zur Unterstützung der notwendigen Sanierungsarbeiten bestimmt in größerem Umfang fließen würden, wenn das Kloster offiziell als königliches Pantheon anerkannt würde.
Wem diese Hypothese zu materiell motiviert ist, kann sich eventuell mit folgender Erklärung arrangieren. Nach der Verbannung der Benediktiner im 13. Jahrhundert, hielt mit den Zisterziensern ein neuer Ordenskodex Einzug in den Klostermauern. Dieser schrieb vor, dass niemand innerhalb der geweihten Kirche beerdigt, noch das Grab mit dem Namen des Verstorbenen versehen werden durfte. Dies würde immerhin die Verlegung der royalen Überreste aus geweihtem Boden hinter eine massive Mauer rechtfertigen, aber nicht den wenig wertschätzenden Umgang mit selbigen.
Was auch immer die wahren Beweggründe gewesen sein mögen, offensichtlich war man jetzt um Wiedergutmachung bemüht. Die Skelettreste wurden auf die neuen Schreine verteilt und im Abgleich mit dem Libro de la Regla, einer Art Klosterchronik, erarbeiteten die Mönche eine Aufstellung der Dahingeschiedenen. Anschließend erhielten die Sarkophage in der Nähe des Fundortes in der neuen Sakristei einen angemessenen Platz zugewiesen.
Die Odysee der königlichen Gebeine
Leider war mit dem Akt von 1613 die endgültige Totenruhe der adligen Potentaten auf dem ehemaligen Thron Navarras noch längst nicht gesichert. Die Odyssee ging weiter.
Die Jahre zogen ins Land, das Kloster wurde säkularisiert und die Anlage ihrem Schicksal überlassen. Als dem Bürgermeister und dem Pfarrer der Gemeinde Yesa zu Ohren kam, dass skrupellose Vandalen die königlichen Schreine geschändet hatten, machten sie sich auf den Weg zur Klosterruine. Sie sammelten die über den Steinboden verstreuten Knochen sowie zwölf beschriftete Tafeln mit den Namen der Verstorbenen ein. Sorgfältig wurden alle Fundstücke in eine Holztruhe gebettet und vorerst neben dem Chor der Pfarrkirche San Esteban in Yesa deponiert.
Nach mehrfachen kurzen Intermezzi, in denen die Überreste zwischen Yesa und Leyre hin- und hergereicht wurden, traten die Gebeine 1915, in einer Staatsakt ähnlichen Feierlichkeit, die letzte Reise zu ihrem Ausgangsort an. Von einem prunkvollen Marmorsarg umgeben, der anlässlich des besonderen Ereignisses angefertigt wurde, hielten die navarresischen Monarchen erneut Einzug in der Klosterkirche San Salvador de Leyre.
Wie schnell war doch die degradierende Behandlung, die den Königen in der Vergangenheit widerfahren war, verdrängt oder vergessen. Plötzlich wurde Leyre zum Escorial der Herrscher Navarras erhoben. Ein honoriger Gastredner gab den dunklen Schicksalsjahren einen heroischen Anstrich, in dem er das Zusammenwürfeln der sterblichen Überreste unter dem Motto „gemeinsam sind sie stark“ als strategischen Schachzug feierte. Die unbeabsichtigte Einheit im Tode wurde als Siegeszug über die Vergänglichkeit der einzelnen Dynastien zelebriert. Die privilegierte Lage des nunmehr einzigen Sarges inmitten des aktiven Klosterkomplexes, in dem jeden Tag mehrmals für die Seelen der Verstorbenen gebetet wurde, fand große Lobpreisung und sollte den beschämenden Vergleich mit den prunkvollen Mausoleen anderer spanischer Herrscherdynastien kaschieren.
Und die Reise geht weiter
Welch pathetische, populistische Phrasendrescherei! Aber exakt diese widersprüchliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit spiegelt deutlich wider, dass die Geschichte von Leyre seit jeher von schwarz und weiß geprägt war. Graustufen gab es nicht. Und so erstaunt es mich auch nicht, dass der marmorne Sarkophag, der bis 1951 in der Mitte des Altarraums aufgebahrt gewesen war, auf Wunsch der Benediktiner, die sich durch das steinerne Hindernis im Ablauf der Messe gestört fühlten, nochmals umgebettet wurde.
Für dreißig Jahre wurde die heutige Kapelle der Heiligen Nunilo und Alodia zur Heimat der Gebeine. Dann folgten die neuerliche Ausquartierung und der Umzug an die heutige Stelle, eine Nische in der Nordwand. Der Marmorsarkophag wurde entfernt, die edel gearbeitete Holztruhe mit den bronzefarbenen Beschlägen kam wieder zum Vorschein. Unterhalb der Truhe findet sich heute eine Bronzeplatte mit den Namen der vermeintlich hier Bestatteten:
- Sancho Garcés (804-824)
- Jimeno Íñiguez (824-836)
- Iñigo Arista (836-852)
- García II. Íñiguez (860-882)
- Fortuño Garcés el Monje (882-905)
- Sancho Garcés I. (905-926)
- García Sánchez III. (926-970)
- Sancho García II. Abarca (970-994)
- Ramiro XIII. ( -991)
- García Sánchez IV. el Trémulo (994-999)
- die Prinzen Andrés und Martín Febo und sieben Königinnen
Ein Ende in Sicht
Vermeintlich deshalb, weil Historiker nach wie vor berechtigte Zweifel an der inhaltlichen Übereinstimmung der Bronzeplakette mit der Truhe hegen. Weder die Dokumentation des Libro de la Regla, dessen Echtheit ebenfalls umstritten ist, noch die im 19. Jahrhundert gefundenen Tafeln können deren Richtigkeit beweisen. Zu viele Fragwürdigkeiten, zu viele Ungereimtheiten begleiteten die exzessive Totenwanderung.
Eine Identifizierung mit annähernd hundertprozentiger Sicherheit gelang bis dato einzig und allein bei König García Iñiguez. Wer hätte gedacht, dass die tödlichen Verletzungen, die er sich einst während der Schlacht gegen die Araber im nahe gelegenen Aibar zugezogen hatte, im Diesseits von Vorteil für ihn wären?
Bei seinem Sohn, Fortuño Garcés „el Monje“ (der Mönch) geht man ebenfalls davon aus, dass er einst im Kloster begraben wurde. Nach seiner eher unfreiwilligen Abdankung als König von Pamplona verbrachte er die letzten zwanzig Lebensjahre als Mönch in Leyre, wo er auch verschied. Mit der Dokumentation des Begräbnisses der beiden Prinzen Andrés und Martín, im Kindesalter verstorbene Söhne des letzten Königs von Navarra, haben sich die vorhandenen Indizien allerdings erschöpft. Alles darüber hinaus ist und bleibt Spekulation. Doch unabhängig davon, welche königlichen Überreste nun in der Truhe vor mir liegen, sie hätten allemal ein würdigeres Schicksal verdient gehabt. So bleibt abschließend nur zu wünschen, dass ihre Irrfahrt nun ein Ende hat.
Romanik und Gotik unter einem Dach
Meine Gedanken kreisen noch um die Begräbnisschatulle und das darin befindliche navarresisch-pamplonesische Verwandtschaftsknäuel, als auch schon eine kleine Mönchsprozession auf die Mitte des Kirchenschiffs zusteuert. Flink verdrücke ich mich in die vorletzte Kirchenbank, lausche den gregorianischen Chorälen und studiere in aller Ruhe den Innenraum.
Errichtet auf dem Fundament einer westgotischen Kirche, wurde Mitte des 11. Jahrhunderts zunächst die Choranlage mit den drei Apsiden und dem wuchtigen Tonnengewölbe fertiggestellt. Danach folgte das einschiffige Langhaus, in dem nichts den himmelwärts strebenden Blick aufhält. Die Steine sind sich selbst genug. Kein Schmuck, keine Verzierungen, keine geschichtenerzählenden Kapitelle. Zisterzienserstil in seiner reinsten Form, auch wenn diese erst 200 Jahre später hier den Abtsstab schwingen sollten.
Ganz zaghaft deutet sich zum Zeitpunkt der Segnung des Hauptschiffes im Jahr 1098 schon eine neue Entwicklung an. Die für die romanische Baukunst typischen Rundbögen tanzen in den schmalen Seitenapsiden aus der Reihe. Das 2:1 Verhältnis der Breite zur Höhe ist hier bereits außer Kraft gesetzt. Die Gotik klopft dezent an die Türe und hält schließlich unübersehbar Einzug mit den später hinzugefügten Kreuzrippengewölben.
Der gregorianische Gesang ist noch nicht verstummt, da zieht es mich wieder ans Tageslicht. Mein Auftrag in Leyre ist noch nicht erfüllt. Erleichtert erinnere ich mich, dass die Eingangstür gut geölt ist, und ich mich, heimlich, still und leise, an die frische Luft stehlen kann.
Um das alte Klostergebäude herum, in dem heute ein Hotel und Restaurant untergebracht sind, steuere ich geradewegs wieder auf den Besuchereingang zu. Dort tausche ich den Kirchen- gegen den Kryptaschlüssel, der seinem Aussehen nach der Originalschlüssel aus dem frühen 11. Jahrhundert sein könnte. Neugierig öffne ich die alte Holztüre zum ältesten Teil des Klosterkomplexes einen Spaltbreit, steige die wenigen Stufen hinab und bekomme Herzklopfen.
Die kryptischen W-Fragen
Die Atmosphäre in einer Krypta ist, durch ihren primären Bestimmungszweck, generell etwas speziell. Schummrige Beleuchtung, feucht-muffige Luft, Sarkophage oder Grabplatten sorgen für den üblichen düster-schaurigen Touch. Hier jedoch ist der Tod nicht mehr anwesend. Grabmäler und Reliquienschreine sind längst entfernt. Dennoch ist die Stimmung in dem gedrungenen, nahezu quadratischen Raum einzigartig. Um mich herum nichts als zentnerschwere, eintausend Jahre alte Quadersteine. Getragen von Säulen, die diesem Namen nicht gerecht werden. Eher Schäfte ohne Basis, amputierte Stümpfe. Mal dicker, mal schmäler, mal mit, mal ohne Kapitell, mal unförmig, mal fein herausgearbeitet. Zusammengestaucht vom Gewicht der sich darüber spannenden ungleichen Bögen und einem massiven Tonnengewölbe. Auch wenn die baulichen Einzelelemente der Krypta unfertig und in aller Eile an Ort und Stelle provisorisch zusammengesetzt wirken, so sind sie doch in ihrer Unvollkommenheit wunderschön.
Die altgriechische Bedeutung des Wortes Krypta bedeutet „verborgen“ oder „geheim“. Alles, was verborgen oder geheim ist, wirft die berühmten W-Fragen auf. Wieso? Weshalb? Warum? Wieso wurde die Krypta in Leyre nicht unterirdisch gebaut? Diente sie nicht nur als Grablege, sondern sollte sie auch geologische Unebenheiten ausgleichen? Warum besitzt sie von außen gesehen eine dreigeteilte Apsis, aber entpuppt sich im Innern als vierschiffiger Raum? Warum die niedrigen Säulenschäfte? War dies von Anfang an so geplant oder eine Konzession an statische Fehlberechnungen?
Da ich keine zufriedenstellenden Antworten auf diese Fragen finde, stelle ich kurzerhand meine persönlichen Theorien auf. Der Baumeister der Unterkirche ging in Sachen Statik auf Nummer sicher. Nach dem Motto „Stabilität vor filigraner Schönheit“ entschied er sich für die gedrungene Ausgestaltung der tragenden Säulen, was sich im Nachhinein als Segen erwies, da die Oberkirche deutlich monumentaler ausfiel als vorgesehen. Mein alternativer Ansatz: Ein schlitzohriger Steinmetz wollte mit dem ungewöhnlichen Erscheinungsbild der Krypta sich ein außergewöhnliches Denkmal schaffen und der Nachwelt ein Rätsel für die Ewigkeit aufgeben.
Die Antwort auf die Frage nach der Ewigkeit muss warten
Apropos Ewigkeit. Mein Besuch in Leyre neigt sich dem Ende entgegen. Es gilt also noch die Eingangsfrage zu klären, ob hier am Fuße der Sierra de Leyre tatsächlich der Schlüssel zur Unermesslichkeit der Zeit liegt.
Draußen im Sonnenlicht mache ich mich also daran, auf den Spuren des Abtes Virila zu wandeln und nach der berühmten Quelle zu suchen. Ein kleiner Wegweiser zeigt an, wo es lang gehen soll. Der Pfad beginnt direkt unter den hoch vor mir aufsteigenden schroffen Felswänden. Auch hier keine Pilgerscharen, sondern einzig und allein ich mit mir. Nach einem kurzen Anstieg auf offenem Feld verliert sich der Weg im Graugrün des Waldes. Er wird immer steiniger und schmäler. Leider kein weiteres Hinweisschild weit und breit. Ich bin etwa eine Viertelstunde gegangen, gestolpert und umhergeirrt, als der Weg nur noch über Stock und Stein und durch dichtes Gebüsch führt. Habe ich mich etwa verlaufen?
Hier scheint seit Jahren keine Menschenseele vorbeigekommen zu sein. Als dann auch noch die unberührte Natur um mich herum seltsame Geräusche hervorbringt, verlässt mich der Mut. Unverrichteter Dinge trete ich den Rückzug an. Schade, vielleicht hätte an dieser Stelle etwas mehr Gottvertrauen geholfen, den richtigen Weg zu finden. Daran muss ich noch arbeiten. Aber es ist nicht aller Tage Abend, und die Quelle rennt beziehungsweise rinnt nicht davon.
Gut zu wissen
Adresse
Kloster San Salvador de Leyre
ES-31410 Yesa, Navarra
https://www.monasteriodeleyre.com/de/content/visita-de
Licor de Leyre®
Wer Lust auf einen hochprozentigen Digestif hat, sollte sich den von den Mönchen selbst hergestellten Kräuterlikör mit nach Hause nehmen. Aus 35 verschiedenen Heilpflanzen und Kräutern zusammengestellt, hilft er nicht nur die schwere historische Kost von Leyre besser zu verdauen. Das süßliche, 33%ige Getränk wird immer noch in Handarbeit in der klostereigenen Destillerie ohne künstliche Zusatz-, Farb- oder Konservierungsstoffe erzeugt.
In der Nähe – für mutigere oder findigere Abenteurer als mich
Spaziergang zur Fuente de San Virila
Folgt man dem ausgeschilderten Wegweiser Cañada Real de los Roncaleses, erreicht man nach etwa zweieinhalb Kilometern die berühmten Quelle des Abts Virilia. Umgeben von dem prächtigen Panorama der Sierra de Leyre eröffnet sich von dort aus ein atemberaubender Blick auf den Yesa-Stausee im Tal. Die Quelle selbst kann, je nach Jahreszeit, ausgetrocknet sein.
Anregungen für Erkundungslustige
Castillo Javier
Vom Kloster San Salvador de Leyre aus empfiehlt sich unbedingt der viertelstündige Abstecher nach Süden zur Burg von Javier. Das Fotomodell unter den Befestigungsanlagen Navarras ist gleichzeitig Geburtsort des heiliggesprochenen Missionars Francisco Xavier, dem Mitbegründer des Jesuitenordens.
Sangüesa
Weitere zehn Kilometer südlich des Castillo von Javier überrascht Sangüesa als Traditionsstadt am Jakobsweg mit einer unvergleichlichen Fülle ziviler als auch klerikaler Gebäude. Das absolute Highlight, das man auf keinen Fall verpassen darf, ist die Kirche Santa María la Real mit ihrem figurenreichen romanischen Südportal.
Sos del Rey Católico
Wer in der in der Nähe des Stausees von Yesa oder generell in der Grenzregion von Navarra und Aragón nach einer außergewöhnlichen Übernachtungsmöglichkeit sucht, ist in den historischen Gemäuern des Vier-Sterne Parador-Hotels in Sos del Rey Católico gut aufgehoben.
Außerdem bietet die kleine Ortschaft mit ihren engen Gassen, der romanischen Kirche San Esteban und den Ruinen eines Bergfrieds viel mittelalterliches Flair. Berühmtheit erlangte das verschlafene Städtchen als Geburtsort des Katholischen König Ferdinand II. sowie als Filmkulisse eines schwarzhumorigen Kinofilms.