Kreuzgang des Felsenklosters San Juan de La Pena
Aragón,  Spanische Erinnerungen

Das Felsenkloster von San Juan de la Peña


Ein Tag der Prüfungen

Morgenstund hat Gold im Mund und ich Hummeln unter meinem Autositz. Heute geht es von Sos del Rey Católico aus zum mythischen Felsenkloster San Juan de La Peña an den Ausläufern der Pyrenäen. Eines, wenn nicht das Highlight für mich am aragonischen Jakobsweg. Entsprechend groß sind sowohl Vorfreude als auch Ungeduld, das Tagesziel schnellstmöglich zu erreichen.

Aber schnell geht zunächst einmal gar nichts, denn nach nur zehn Kilometern, wird mein Elan abrupt abgebremst. Muss ich in Navardún nach links oder rechts abbiegen? Meine offensichtlich zu wenig detaillierte und, wie sich mit einem Blick auf das Veröffentlichungsdatum herausstellt, völlig veraltete Straßenkarte lässt mich im Stich. Also was tun? Würfeln? Streichhölzer ziehen? Einwohner konsultieren? Alle Möglichkeiten fallen mangels Vorhandensein weg und einem einfachen Kinderreim „Ene mene muh und raus bist Du“ möchte ich die Entscheidung nun doch nicht überlassen. Bleibt nur die Pfadfinder-Lösung: auf gen Osten, der Sonne entgegen.

Nach realen 30, allerdings gefühlten 60 Kilometern wird die Landstraße immer kurviger, holpriger und für das Wort Verkehr gibt es keine Entsprechung mehr. Mir schwant Böses. Während ich schon ernsthaft über eine 180 Grad-Wendung nachdenke, passiere ich unerwartet ein antiquarisches Ortsschild mit einem Dutzend Steinhäuser dahinter. Doch dann hört die Straße einfach auf zu sein. Sie endet buchstäblich im Nichts. Das Dorf namens Longás ist eine Sackgasse! Die letzte Ortschaft im Val d’Onsella. Aus einem fiktiven Lautsprecher dröhnt mir eine bekannte Durchsage entgegen: „Endstation! Bitte alle aussteigen“.

Irrungen und Wirrungen

Ich fluche, ärgere mich über mich selbst und melde mich gedanklich bereits zur Pfadfindernachschulung an, als mir drei ältere Herren zu Fuß entgegenkommen. Die Gelegenheit, meine radebrechenden Spanischkenntnisse an die Männer zu bringen. Die Straßenkarte in der Hand zeige ich auf das eigentliche Ziel meiner Reise. Das überraschte Dreigestirn steckt die Köpfe über der Karte zusammen, um dann das unbarmherzige Urteil zu fällen: Komplett, aber (ich horche auf, denn in diesem Fall könnte das „aber“ ausnahmsweise einmal eine gute Bedeutung haben) nicht hoffnungslos verfahren.

Es gibt zwei Optionen, San Juan de la Peña zu erreichen. Die erste wäre, wie vermutet, umzukehren, bis nach Navardún zurückzufahren, um dort die linke Abzweigung zu nehmen. Die andere Alternative ist der Geheimtipp für Einheimische: ein inoffizieller Schleichweg zur Nationalstraße. Allerdings scheint die nur dreizehn Kilometer lange B-Variante einen Haken zu haben, denn es entsteht eine hitzige Diskussion unter den drei Alteingesessenen. Schlussendlich haben sie sich wohl geeinigt. Unisono, in fast choreografischer Perfektion, weisen sie in Richtung Abkürzung. Mit einem herzlichen muchas gracias verabschiede ich mich winkend und nehme wieder Fahrt auf. Für sage und schreibe … dreihundert Meter.

Dann zeigt sich der Haken, den mir die drei señores wohlweislich verschwiegen oder optimistisch an meine und die Fähigkeiten meines Mietwagens glaubend, unter den Teppich gekehrt haben. Die asphaltierte Straße geht nahtlos in einen steinigen Feldweg über. Problemlos geeignet für Traktoren oder Geländewagen mit Vierradantrieb, aber doch nicht für mein citytaugliches Gefährt. Was haben sich die drei Männer nur dabei gedacht, mich auf dieses Himmelfahrtskommando zu schicken?

Meine Tachonadel schafft es kaum noch über 20 Stundenkilometer. Kein Wunder, ich habe mich mittlerweile auf über tausend Meter Höhe hochgearbeitet. Vor mir, hinter mir und soweit das Auge reicht nur dichter Eichen-, Pinien- und Buchenwald, sowie der ungebetene Gast mit Namen „Einsamkeit“.

Ein Albtraum kommt selten allein

Alle nur erdenklichen Katastrophenszenarien schlagen plötzlich Kapriolen in meinem Kopf. Vom geplatzten Reifen oder Motorschaden bis hin zu: Ich werde mich verlaufen, verdursten, in eine Bärenfalle tappen und erst nach Monaten als abgenagtes Gerippe von einem Waldhüter auf seiner Patrouille entdeckt werden. Vielleicht sollte ich wenigstens, für den Fall der Fälle, meinen ungefähren Standort in die Heimat durchgeben. Theoretisch ein guter Einfall, aber praktisch ein Fehlschlag. An Handy-Empfang ist hier in den Bergen nicht zu denken.

Wald- und Gebirgslandschaft in Nordspanien

Ich hadere noch mit meinem selbst eingebrockten Schlamassel-Schicksal, als hinter der nächsten Kurve eine weitere böse Überraschung lauert. Auf dem Scheitelpunkt des Weges angekommen, teilt sich dieser. Selbstverständlich suche ich vergeblich nach einem hilfreichen Hinweisschild. Wozu auch? Die Einheimischen kennen sich hier bestens aus, und die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein trotteliger Tourist in dieses No-Man’s-Land verirrt, beschränkt sich auf n= 1 (nämlich mich).

Also was tun? Keine der beiden Gabelungen sieht einladend aus. Zurückfahren ist keine Option. Mich dieses Mal für links entscheiden? Aber heißt es nicht rechts vor links? Und warum sollte der Weg nach rechts nicht auch der „rechte“ Weg sein? Also nach rechts, geradewegs hinein in den nächsten Albtraum. Was bisher als halbwegs passabler Feldweg durchgegangen ist, mutiert nun zu einem grauenhaften Geröllabhang. Im ersten Gang, mit heulendem Motor und Motorbremse holpert mein Peugeot den mühsam erklommenen Berg wieder hinab.

Die Schlaglöcher auf der Kiesrutschbahn führen mit meinen Schweißausbrüchen ein Wettrennen ohne Sieger. Dazu breitet sich erneute Panik in mir aus, als ich die einzigen Schilder im Wald entziffere: Camino peligroso de jabali. Na wunderbar! Wildschweine gibt es hier also auch! Aber bitte lieber auf dem Teller als vor meinem Kühlergrill. Hoffentlich reagieren spanische Wildschweine nicht zu aggressiv auf ein sich langsam vorwärtsbewegendes, wehrloses knallrotes Automobil, das sich ungewollt in ihr Territorium verirrt hat.

San Juan de la Peña – Ein Ort der Vollkommenheit

Nach fünfzig Minuten kann ich in der Ferne im Tal endlich eine befahrene Straße ausmachen. Der Horrortrip ist überstanden. Die asphaltierte Welt hat mich wieder! Ab jetzt läuft alles wie am Schnürchen. Bald geht es erneut bergauf, Kurve um Kurve um Kurve die schneebedeckten Pyrenäen im Rücken.

Schneebedeckte Pyrenaeen in Nordspanien

 Laut Kilometerzähler müsste ich das ehemaligen Benediktinerkloster längst erreicht haben, allerdings erfährt das metrische System in Spanien öfters mal eine großzügige Auslegung. Also tapfer noch eine Serpentine und noch eine. Mir ist schon ganz schwindlig. Aber noch schwindliger wird mir nach der nächsten Kehre.

Felsenkloster San Juan de La Pena

Der Anblick des Real Monasterio San Juan de La Peña nimmt mir den Atem. Wenn es so etwas wie vollkommene Orte und Momente auf dieser Erde gibt, dann zählt dieser hier dazu. Das 1200 Jahre alte Kloster mit dem offenen Kreuzgang, hingeduckt unter der monumentalen, rostfarbenen Felswand. Einfach nur puristisch schön!

Ordnung muss sein!

Leider darf ich diesen An- und Augenblick nicht bis ins letzte Detail genießen. Obwohl ich als einziges Vehikel weit und breit keinen Anlass zu einem Gafferstau gebe, winkt mich ein Ordnungshüter ungeduldig weiter. Geparkt wird auf einem riesigen Parkareal in anderthalb Kilometern Entfernung auf dem Gelände des neuen Klosters und nirgendwo anders!

1. Königliches Kloster
2. Neues Kloster
3. Boutique, Ticketverkauf, Hotel
4. Ausstellung „Kloster San Juan de la Peña“
5. Kirche Santa María in Santa Cruz de los Séros
6. Ausstellung „Natur“
7. Aussichtspunkt

Für den Rückweg zum alten Kloster kann man zwischen dem kostenlos zur Verfügung stehenden Pendelbus oder den eigenen zwei Beinen wählen. Ich entscheide mich für die entschleunigende Variante, sprich den unbefestigten, steil abfallenden Weg durch ein lichtes Waldstück. Dabei durchbricht nur der durch den Blätterwald rauschende Wind und das Knacken trockenen Holzes unter meinen Schritten die Lautlosigkeit des Moments.

Die Stille folgt mir hinein über die Schwelle der Klosterpforte. Noch bin ich der einzige Besucher zu dieser frühmorgendlichen Stunde und nichts könnte mich glücklicher machen. San Juan de la Peña gehört mir ganz alleine.

Im Schnelldurchlauf durch eine 1000-jährige Geschichte

Ungestört reise ich gedanklich zurück ins 8. Jahrhundert. Es ist die Zeit der arabischen Invasion. Eine Gruppe von Einsiedlern flieht in die Pyrenäen, um im Schutze eines Bergüberhangs ihr gottgeweihtes Leben trotz der maurischen Bedrohung fortzuführen. 200 Jahre gehen ins Land bis Galindo Aznárez II., Graf von Aragón, das Gebiet südlich des gleichnamigen Flusses zurückerobert. Er lässt an dem Ort der Einsiedler ein Kloster bauen, das er Johannes dem Täufer widmet. Ein reges Klosterleben etabliert sich allerdings nicht in dieser unwegsamen Bergregion, sodass die Klosteranlagen alsbald vernachlässigt werden. Zurück bleibt nur eine kleine mozarabische Kirche, die Iglesia Baja.

Erst im 11. Jahrhundert erlebt der magische Ort seine Renaissance. Über den verbliebenen Mauerwerken errichtet Sancho III. von Navarra nicht nur einen neuen monastischen Komplex, sondern etabliert gleichzeitig die Regeln des heiligen Benedikt. Mit zahlreichen Schenkungen aus angrenzenden Königshäusern bedacht, blüht San Juan de la Peña auf. Den Höhepunkt bildet 1071 die erste Feier der Heiligen Messe nach dem römischen Ritus des Papstes auf iberischem Boden.

In der Folge schmälern anhaltende Streitigkeiten mit rivalisierenden Erzbistümern das Vermögen und Ansehen der Mönchsgemeinschaft. Erst im Jahr 1245 gelingt es die Differenzen beizulegen und eine längere Zeit des Friedens einzuleiten, aber eine zweite Blütezeit will sich nicht einstellen. Zu allem Unglück wütet 1675 drei Tage lang ein verheerendes Feuer in den Klostermauern. Der Schaden ist irreparabel. Es ist Zeit für eine Zäsur und einen kompletten Neuanfang. Die Benediktiner verlassen die ausgebrannte Ruine und errichten das Neue Kloster auf einem Plateau oberhalb des Felsenüberhangs. Leider steht auch der Neubau unter keinem glücklichen Stern. Bis auf das barocke Portal lassen die durchziehenden Truppen Napoleons zu Beginn des 19. Jahrhunderts so gut wie keinen Stein auf dem anderen.

In den Fußstapfen der Mönche von San Juan de la Peña

Der außergewöhnliche Standort des Klosters erforderte einiges an architektonischer Improvisation hinsichtlich der Anordnung der Klostergebäude. Die Räumlichkeiten wurden deshalb nicht, wie allgemein üblich, um den zentralen Kreuzgang platziert, sondern auf zwei Ebenen verteilt.

Strafecke mit Quelle fuer Moenche im Dormitorium von Felsenkloster San Juan de La Pena in Aragón

Im Erdgeschoss schließt sich an den Eingang direkt der sogenannte Konziliensaal an. Im alltäglichen Leben diente der durch die gedrungenen Säulen und Rundbögen sowie die schmalen Fensterschlitze sehr düstere Raum, als Schlafsaal. Ein schmaler Spalt in der Wand, an dessen Stirnseite ein Wasserrinnsal aus einer versteckten Quelle entlangläuft, war im Mittelalter die Strafecke der Mönche. Jeder, der sich der Insubordination, der Trägheit oder einer anderen Verfehlung schuldig machte, musste hier nach dem Motto „steter Tropfen höhlt den Ungehorsamen“ Buße tun.

Dormitorium bzw. Konziliensaal im Felsenkloster San Juan de La Pena, Aragonien

Um die Versuchung der Trägheit und einer möglichen Pflichtverletzung möglichst gering zu halten, hatte man das Dormitorium praktischerweise direkt an die aus dem 10. Jahrhundert erhalten gebliebene Unterkirche Iglesia Baja angebaut. So hatten es die Mönche nicht weit zum Nachtgebet.

Freskenstück an der Chrowand der Unteren Kirche im Felsenkloster San Juan de La Pena

Im 12. Jahrhundert erhielt die kleine mozarabische Kirche im Bereich des Chores eine Auskleidung mit romanischen Wandmalereien. Bedauerlicherweise hat die omnipräsente Feuchtigkeit unter dem Felsvorsprung die Fresken größtenteils zerstört. So lässt sich das Martyrium der Zwillingsbrüder Cosmas und Damian nur noch bruchstückhaft erahnen. Vielleicht auch besser so, denn man ging mit den beiden „heiligen Geldverächtern“, die für ihre wundertätigen medizinischen Dienste kein Entgelt annahmen, nicht gerade zimperlich um. Nach erfolglosem Steinigen, Verbrennen und Ertrinken, wusste sich der römischen Statthalter nur durch Enthaupten von den später heiliggesprochenen Ärzten zu entledigen.

Ich habe das Gefühl, dass die Temperatur in der Unterkirche gerade noch einmal um ein paar Grad gesunken ist. Schnellstens lasse ich deshalb die bildlichen Überbleibsel der bestialischen Christenverfolgung hinter mir, um hinauf ins obere Stockwerk, zum Panteón de Nobles, zu gelangen.

Eine Spende für die Ewigkeit

Als Sancho Garcés III., genannt der Ältere, im Jahr 1035 starb, teilte er sein riesiges Königreich unter seinen vier Söhnen auf. Sein unehelicher Sohn Ramíro erhielt die bisherige Grafschaft Aragón, die durch das Erbe zum Königreich aufstieg. Ramíro I. führte die enge Bindung seines Vaters zum Kloster fort, unterzeichnete hier seinen Ehevertrag und erwählte San Juan de la Peña zu seiner letzten Ruhestätte. Nachdem auch sein Sohn Sancho Ramírez und dessen Sohn Pedro I. hier begraben wurden, erhielt das Felsenkloster den Status eines königlichen Pantheons.

Wer in adligen Kreisen etwas auf sich hielt, fand mithilfe einer großzügigen Spende ebenfalls Aufnahme in den erlauchten Zirkel der hier Bestatteten. Und so liegen sie hier, die Edlen des Landes. Seite an Seite, auf 22 halbkreisförmige Grabnischen verteilt, jede mit einer individuellen Gedenktafel versehen. Und dennoch bleibt es ein Geheimnis, wem man hier gedenken darf. Der unerbittliche Zahn der Zeit hat ganze Arbeit geleistet. Die Toten dürften dies verschmerzt haben, die Grabplatten und ihre Inschriften weniger. Welcher Edelmann identifizierte sich mit dem Kreuz des Iñigo Arista? Welche Ritter waren dem Rosenkreuz zugetan? Warum bevorzugten andere das Chrismon? Wer hatte ein Faible für den Griffon und wer war der Reiter hoch zu Ross? Vielleicht gelingt es der Wissenschaft, in naher oder ferner Zukunft, den Edelmännern des Königreichs Aragón ihre Identität zurückzugeben.

Pantheón de Nobles im Felsenkloster San Juan de La Pena

Auf der westlichen Schmalseite des Pantheons schließt sich die ehemalige Bäckerei mitsamt Brotbackofen an. Ich beschließe nicht zu hinterfragen, warum die Nekropole der aragonischen Könige direkt in Verlängerung der Backstube eingerichtet wurde. Die drei schweren Grabplatten liegen hier allerdings nur noch symbolisch. Die königlichen Überreste fanden im neuen Pantheon ihre zukünftige Heimat. Ob mit oder ohne die bei der Öffnung der Gräber 1985 gefundenen 24-Karat-Goldringe und einen Würfel aus Elfenbein, darf sich jeder selbst ausmalen.

Der heilige Gral

In Verlängerung des Panteón de Nobles und damit exakt über der Iglesia Baja erreicht man die dem Heiligen Johannes geweihte Oberkirche. Ihre architektonischen Besonderheiten: der einstmals bemalte Felsüberhang als natürliches Deckengewölbe, das fehlende Querhaus und der direkt in die Felswand gehauene Chorraum mit den drei ungleichmäßigen Apsiden.

Chorraum der Oberen Kirche im Kloster San Juan de La Pena

Ihr mythisches Highlight: auf dem Altar der mittleren Apsis eine Nachbildung des „Santo Cáliz“, des heiligen Kelchs des letzten Abendmahls Jesu. Das Original kam einst während der maurischen Bedrohung in das Felsenkloster. Vielleicht erklärt dies das plötzliche Interesse des navarresischen und später aragonischen Königshauses an San Juan de la Peña? Selbstredend entwickelte sich das Kloster durch die königlichen Protagonisten und den Rückenwind des heiligen Gefäßes fortan zu einer der bedeutendsten Stationen auf dem aragonischen Jakobsweg.

Nachbildung des Heiligen Gral im Felsenkloster San Juan de La Pena

Im Jahr 1399 musste der Kelch weiterziehen. Über Zaragoza und Barcelona gelangte er nach Valencia, wo er quasi noch heute in der Kathedrale bewundert werden kann. Auch wenn seine Authentizität von zwei Päpsten der Neuzeit bestätigt wurde, sind sich Archäologen sowie Historiker weiter uneins. Und ob der Santo Cáliz gar der Heilige Gral ist, bleibt ebenfalls ein Mysterium und das hoffentlich noch lange Zeit. Nichts ist Spannender als die ganze Bandbreite an Spekulationen, Interpretationen und Hypothesen am Leben zu halten. Ohne sie gäbe es keine Gralslegende, weder Parzival, noch Lohengrin, keinen Indiana Jones und keinen Tom Hanks alias Robert Langdon.

Ein weiterer Pantheon für Könige und Geister

Direkt neben dem Chorraum gab König Karl III. von Spanien im Jahr 1770 eine weitere königliche Grabkapelle in Auftrag. Die Beweggründe hierfür bleiben unklar. Möglicherweise war eine klare hierarchische Trennung von Königen und adligen Untertanen beabsichtigt, weshalb man die drei aragonischen Monarchen aus dem Pantheón de Nobles hierher verlegte.

Heller und dunkler Marmor dominieren den großzügig geschnittenen Raum an dessen einer Längsseite sich die uniformen Gedenktafeln der hier Beerdigten aneinanderreihen, während auf der gegenüberliegenden Seite bedeutende historische Ereignisse des Königreichs Aragón in großflächigen Reliefs glorifiziert werden.

Königliche Gruft im Felsenkloster San Juan de La Pena

Zweifellos bietet das klassizistische Panteón Real einen angemessenen Rahmen für die hier beerdigten Könige von Aragón. Monumental, distanziert, auf Hochglanz poliert, repräsentativ. Eine wirkliche Totenstätte. Seelenlos steril. Hier sind die Toten toter als tot. Die Grabplatten, eine wie die andere, auf Namen und Daten reduziert. Individualität Fehlanzeige. Der ganze Raum ein königlicher Fremdkörper inmitten der alten Gemäuer.

Kein Vergleich zum Panteón de Nobles, der mit seinen Gedenksteinen Geschichten zu erzählen weiß. Er hat Geschichte selbst durchlebt, gute als auch schlechte Zeiten gesehen und davon zum Teil irreparable Narben zurückbehalten. Und trotz des bedauernswerten Zustands der Begräbnisstätte der Edelmänner fühlt man sich dort den Toten näher. Sie kamen hierher, um unter Königen zu liegen. Um gemeinsam den letzten Weg zu gehen, sich dabei dieselbe Gnade des Allmächtigen erhoffend, die auch den Monarchen zuteilwerden würde.

Übrigens, im Nachhinein entdeckte ich erst die Ironie des Königlichen Pantheon. Außer den drei aragonischen Königen ist hier keine Menschenseele begraben. Irgendwie verständlich angesichts der unterkühlten Atmosphäre. Die Namen auf den Bronzeplatten der übrigen Gruftbewohner sind reine Fiktion. Ich nehme zur Kenntnis, schüttle den Kopf und staune!

Das Highlight – der romanische Kreuzgang

Genug der Toten. Ich verlasse das Kirchenschiff durch eine mozarabische Tür, die einst zur Unterkirche gehörte und erst bei Errichtung des Kreuzgangs an diesen Standort verlegt wurde. Im Torbogen ist folgende Inschrift zu lesen:

 „PORTA PER HAC CAELI FIT PERVIA CVIQVE FIDELI SI STVDEAD FIDELI JVNGERE IVSSA DIE“ 
Das Tor zum Himmel steht all jenen Gläubigen offen, die den Glauben mit den Geboten Gottes vereinen.

Ein weiser Sinnspruch. Der Glaube allein rechtfertigt keinen Zugang zur Ewigkeit. Er muss in Einklang stehen mit den von Gott vorgegebenen Leitlinien, und er muss aktiv gelebt werden. Tag für Tag, in großen Taten als auch in kleinen Gesten. Nur dann kann man sich eines Platzes im Himmelreich sicher sein.

Für den heutigen Tag genügt mir das irdische Himmelreich, welches ich beim Anblick des Kreuzgangs von San Juan de la Peña gefunden habe. Hingeduckt, Schutz suchend unter einem gewaltigen Felsvorsprung breitet sich das Herzstück des Klosters beziehungsweise das, was von ihm übrig blieb, vor mir aus. Bis zum tragischen Brand 1675 war das auf das 12. Jahrhundert zurückgehende Claustro Románico innen liegend, mit dem überhängenden Felsen als natürlichem Dach. Heutzutage präsentiert sich die Ruine mit zur Straße hin offener Seite und gibt damit einen spektakulären Blick auf die ansteigende Bergkulisse frei. Auch wenn nur noch die Hälfte des Kreuzganges steht, hat er dennoch nichts von seiner einstigen harmonischen Perfektion eingebüßt.

Kreuzgang des Felsenklosters San Juan de La Pena
Kreuzgang des Kloster San Juan de La Pena, Spanien

Zwölf Kapitelle sind erhalten geblieben, der Rest leider zu undeutbaren Fragmenten verwittert oder komplett zerstört. Zwölf außergewöhnliche Zeugnisse romanischer Steinmetzkunst. Zufall oder göttliche Fügung? Warum gerade zwölf? Weil es zwölf Stämme Israels gab, weil Jesus zwölf Jünger um sich sammelte, das Jahr zwölf Monate und der Tag zwei mal zwölf Stunden hat?

Der kleine Esel und menschliche Unzulänglichkeiten

Jeder der mit viel Hingabe bearbeiteten Steinquader erzählt auf kleinstem Raum eine große Geschichte. Biblische Gleichnisse, Szenen aus der Genesis, Darstellungen aus Jesu Kindheit und seinem späteren öffentlichen Leben sind hier verewigt worden. Da ist das wohl bekannteste Kapitell, der „Traum des Heiligen Josef“ auf der Flucht nach Ägypten (El Sueño de San José) und in seiner Nähe, der „Wundertätige Fischfang“ (La Pesca Milagrosa). Ich erkenne, dass Jesus sowohl der ehebrecherischen Frau verzeiht (Jesús perdona a la mujer adúltera) als auch Lazarus vom Tode erweckt (Resurrección de Lázaro).

Sehr bewegend ist auch die Szene des Letzten Abendmahls (La última Cena). Der Jünger Johannes legt liebevoll seinen Kopf auf Jesu Schulter, was dem Kapitell eine tröstliche Intimität gibt.
Dass „Der Einzug Jesu in Jerusalem am Palmsonntag“ (Entrada de Jesús en Jerusalem en el Domingo de Ramos) mein persönlicher Favorit ist, liegt an dem liebevoll herausgearbeiteten kleinen Esel im rechten Bildausschnitt, in den ich mich sofort verguckt habe.

Was ärgere ich mich heute noch, dass ich nicht jedes einzelne Kapitell fotografiert und ihm damit einen zeitlosen Raum in meiner kleinen, beengten Kopfwelt geschaffen habe. Es war vermessen zu denken, ich könnte der menschlichen Unzulänglichkeit des Vergessens trotzen und diese Kleinodien in meinem inneren Auge für die Ewigkeit abspeichern. Leider bin ich gescheitert. Die richtige Abzweigung in meinem cerebralen Straßennetz ist unauffindbar. Nichts als Sackgassen.

Das San-Voto-Wunder

Ein weiteres Meisterwerk der Steinmetzkunst ist der Eingang zur Kapelle des Heiligen Viktorian. Sie entstand im 15. Jahrhundert und zählt, dank der filigranen floralen Verzierungen zu den schönsten Exemplaren der aragonischen Spätgotik.

Spategotische Kapelle des Heiligen Victorian im Kloster San Juan de La Pena in Aragón

Im Osten des Kreuzganges schließt die San Voto Kapelle mit dem kuppelförmigen Dach und der aufgesetzten Laterne den Klosterbau ab. Man erzählt sich, dass vor langer, langer Zeit ein junger Adliger namens Voto in den umliegenden Wäldern auf Jagd war. Als Ziel hatte er ein scheues Reh ausgemacht, welches er gnadenlos durch den Wald hetzte. In Anbetracht seiner ausweglosen Situation stürzte sich das panische Wild vor den Augen des Jägers in den Abgrund.

Da Voto den scharfen Galopp seines Pferdes nicht mehr zu zügeln vermochte, konnte ihm nur noch ein Wunder helfen. Ansonsten würde er, wie das Reh, mit gebrochenen Knochen in den Tiefen der Schlucht sein Lebenslicht aushauchen. In letzter Verzweiflung flehte Voto den heiligen Johannes den Täufer um Rettung an. Sein Hilferuf fand Erhörung. Von unsichtbaren Flügeln getragen, schwebten Voto und sein Pferd hinab zum Grunde der Schlucht. Der Errettete sah sich nach seinem Schutzengel um, stieß jedoch nur auf eine verlassene Höhle mit Kapelle. Darin fand er den Leichnam des Einsiedlers Juan de Atarés. Voto sah dies als Zeichen. Nach seiner Heimkehr an den Hof, veräußerte er sein Hab und Gut und zog sich in die Höhle zurück, um als Dank für seine Errettung fortan ein Einsiedlerleben zu führen. Nach seinem Tod wurde ihm zum Angedenken diese Kapelle gewidmet.

Kreuzgang des Kloster San Juan de La Pena mit San Voto Kapelle im Hintergrund

Ein Blick zurück

Ich könnte im Kreuzgang des Klosters San Juan de la Peña noch stundenlang in kontemplativer Starre verharren, doch leider sind inzwischen die lautstark agitierenden Busheerscharen eingefallen. Der Genussfaktor ertrinkt im anschwellenden Geräuschpegel.

Während ich auf den Minibus warte, der mich wieder zum höher gelegenen Monasterio Nuevo bringt, werfe ich einen letzten Blick zurück. Ich bin immer noch ergriffen von der edlen Schönheit der Klosterruine. Sie betreibt keine Effekthascherei, sondern liefert den Beweis der natürlichen Einträchtigkeit von Gottes Natur und menschlicher Schaffenskraft in einem stark verankerten Glauben. Ein Glaube, der heute noch an Ort und Stelle spürbar ist, selbst wenn die Baumeister und Bewohner der Klosterruine längst in die Ewigkeit weitergezogen sind.

Beim Neuen Kloster angekommen, nutze ich den zweiten Abschnitt meines Kombitickets um mir die interaktive Ausstellung über das Klosterleben in San Juan de la Peña anzuschauen. Unter meinen Füßen, und das ist wortwörtlich so gemeint, breitet sich der Klosteralltag aus. Ich habe Spaß daran, den nachgestellten Ordensbrüdern bei ihren unterschiedlichen Aufgaben und Verrichtungen zuzusehen, bis auch hier der Touristentrubel den Ausstellungssaal überschwemmt. An dieser Stelle hat meine Toleranzgrenze das Ende der Fahnenstange erreicht. Ob ich je in Erfahrung bringen werde, warum die Südländer dieses extrovertierte Kommunikationsbedürfnis-Gen besitzen? Leicht genervt trete ich den Rückzug an, um die Stille und Ruhe des Klosters mit mir fortzutragen.

Mit einem Gefühl der Glückseligkeit und ausstaffiert mit einer aktuellen, im Souvenir-Shop des Neuen Klosters erstandenen Straßenkarte, begebe ich mich wieder ins Tal hinab. Die Zeit der Irrungen und Wirrungen dürfte damit der Vergangenheit angehören.

Blick auf Santa Cruz de los Séros im Tal

Nachtrag

Als ich diesen Bericht heute, also beinahe zehn Jahre nach meinem Besuch in San Juan de la Peña, wieder zur Hand nehme, lässt mich mein Erinnerungsvermögen nicht im Stich. Wahrscheinlich weil es keine Kopf- sondern eine Gefühlssache ist. Die feierliche Stimmung, die mich in der Klosterruine erfasste, ist bei heutiger Reflexion so präsent wie einst. Die abenteuerliche Fahrt zu diesem außergewöhnlichen Ort hatte wirklich jeden einzelnen Schweißtropfen gelohnt.


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