Ruinen der Kirche San Pedro in Viana
Navarra,  Spanische Erinnerungen

Viana und Cesare Borgia


Esta titulada ciudad, pueblo muerto, fosilizado barco de piedra con su popa, su proa y dos altos palos vigías dedicados a la mayor honora de Santa María y del Apóstol Pedro. Barco que navega en mi sangre y quedó fondeado para siempre, o varado, al pie de un Cueto, colina o pegujón de tierra sin hierba.
Pablo Antoñana, 1997

Als ich diese wehmütige, ja geradezu melancholische Liebeserklärung des Schriftstellers Pablo Antoñana an seine Geburtsstadt Viana lese, ist meine Neugier geweckt. Bislang war die 4000-Einwohner-Stadt für mich nicht mehr als die letzte Station des Jakobswegs in Navarra. Knappe drei Kilometer von der Grenze zur Region La Rioja entfernt. Doch nun, durch die bildgewaltigen Worte des 2009 verstorbenen Autors, entsteht vor meinen Augen das Gemälde einer toten Ortschaft. Wie ein fossiles Schiff mit Bug und Heck und zwei hohen, klerikalen Wachttürmen als Masten, ist sie auf einem kahlen Hügel für immer vor Anker gegangen. Ein Schiff aus Stein, wohlgemerkt. Aufgelaufen auf kargen Grund. Und dennoch zieht es in den Adern des schwermütigen Novellisten schon ein Leben lang seine Bahnen.

Der Zyklop von Viana

Es ist Gründonnerstag als ich mich auf den Weg nach Viana mache, doch Feiertagsstimmung kommt nicht auf. Meine Laune ist ein Spiegelbild der Wettervorhersage, frostig unterkühlt. Ein Blick aus dem Hotelfenster auf den regennassen Platz unter und die dichten Wolkenmassen über mir, und ich bin nahe daran, mich in die Federkissen zurückfallen zu lassen. Wäre da nicht das aufgeschlagene Buch mit der Beschreibung Pablo Antoñanas auf dem Nachttisch neben meinem Bett. Damit hat die Trägheit ihre Chance, die Oberhand zu gewinnen, leichtsinnig verspielt. Die Weichen des Tages sind gestellt. Wie zum Trotz bleibt die regenschwangere Wolkenfront ein treuer Begleiter auf der Fahrt von meinem neuen Standort Calahorra, bis über die Grenze nach Navarra hinein.

In der Tat entspricht die Silhouette von Viana der Allegorie des auf einer sanften Anhöhe gestrandeten Zweimasters. Der Bug zeigt dabei eindeutig Richtung backbord mit der Ruine der San Pedro Kirche als übermächtiger Galionsfigur. Ich bin gespannt, ob die Stadt tatsächlich so tot ist, wie Pablo Antoñana sie beschreibt.

Stadtansicht von Viana mit den Ruinen der San Pedro Kiche

Bestechlicher Geschichtsunterricht

Durch das geschichtsträchtige Portal de San Felices gelange ich in den mittelalterlichen Stadtkern. An dieser Stelle legte König Sancho VII. el Fuerte am 01. Februar 1219 den Grundstein der Stadt. Hier wurde Recht gesprochen und durch dieses Tor ziehen seither die Jakobspilger weiter Richtung La Rioja.

Jedes Jahr am ersten Februar gedenkt Viana ihrer Geburtsstunde mit einer besonderen Tradition. Nach einem gemeinsamen Gottesdienst erhält jedes schulpflichtige Kind von den Stadtverordneten einen Euro geschenkt und den Rest des Tages schulfrei. Eine ungewöhnliche Methode, die Geschichte der eigenen Stadt über Generationen hinweg lebendig zu halten. Deshalb mag durchaus die frevlerische Frage erlaubt sein, ob beim Vianeser Nachwuchs der Euro oder der Tag schulfrei die nachhaltigere Gedächtnisstütze ist. Wie dem auch sei, auf jeden Fall wächst jeder Einheimische mit dem geschichtlichen Bewusstsein auf, dass seine Heimatstadt höchstpersönlich vom König von Navarra als Grenzfestung gegen das immer mächtiger werdende Königreich Kastilien ins Leben gerufen wurde.

Infolge der Stadtgründung siedelten die meisten Land- und Viehwirte aus den acht umliegenden, verteidigungsschwachen Weilern bereitwillig nach Viana um. Auf dessen Anhöhe ging es bald wie im Bienenstock zu. Zuerst strömten die Handwerker zum Bau der geplanten Burg, zweier Wehrkirchen und dem ringförmigen Befestigungsgürtel herbei. Danach, angelockt durch das Privileg des Fuero, zog es die Händler in die neue Ortschaft. Den Abschluss bildeten die Beamten und Soldaten des Königs.

Binnen kürzester Zeit hatte sich ein weißer Flecken auf der Landkarte zu einem mittelalterlichen Verteidigungsbollwerk und Handelszentrum entwickelt. Wie vorausschauend Sancho VII. mit der Gründung Vianas agiert hatte, zeigte sich bereits 1275. Die Truppen des machthungrigen kastilischen Gegners unternahmen mehrere Vorstöße, um eine Flanke in den westlichen Verteidigungsgürtel Navarras zu schlagen. An der Belagerung Vianas bissen sie sich jedoch die Zähne aus. Unverrichteter Dinge mussten sie wieder abziehen.

Das Fürstentum Viana

Die städtebaulichen Verteidigungsmaßnahmen hatten also gefruchtet, woran die zu diesem Zeitpunkt bereits fertiggestellte Kirche San Pedro einen maßgeblichen Anteil beigetragen hatte. Angelegt als fest integrierter Bestandteil der Stadtmauer stemmte das Gotteshaus dem Feind eine aus soliden Mauersteinen hochgezogene, abweisende Wehrmauer entgegen. Zum Stadtkern hin erstrahlte sie dagegen in elegantem gotischem Glanz mit wunderschönen, schlanken Spitzbogenfenstern.

Die Territorialstreitigkeiten zwischen Navarra und Kastilien fanden noch lange kein Ende. Immer wieder loderten die Kämpfe auf, und immer wieder wussten die Vianeser dem Feind standzuhalten. In Anerkennung ihrer Verdienste befreite der König die loyalen Einwohner von jeglichen Steuern und Abgaben. Dadurch erlangte das Grenzdorf, trotz der Lage an der Peripherie des navarresischen Königreichs, einen unübersehbaren wirtschaftlichen Stellenwert.

Dieses Ansehen wuchs weiter als König Carlos III. el Noble, Viana 1423 zum Kronprinzentum für seinen Enkel und angedachten Thronfolger erhob. Dass sich das Schicksal für den Prinzen Carlos von Viana nicht wie vorgesehen erfüllen sollte, ist allerdings eine andere Geschichte. Auch wenn es das Principado de Viana schon lange nicht mehr gibt, der Titel des Príncipe de Viana geht bis heute an den Erstgeborenen des spanischen Königshauses über.

Wir springen in das Jahr 1512.
Der sich lange dahinziehende Bürgerkrieg zehrte an den Kräften und Finanzen des kleinen Königreichs Navarra. Es war abzusehen, dass es dem permanent von Süden und Westen her geführten Ansturm des übermächtigen Gegners dauerhaft nichts mehr entgegensetzen konnte. Trotz eines verzweifelten letzten Aufbäumen verlor das Königreich mit der langen, ruhmreichen Historie das Ringen um seine Unabhängigkeit. Ab sofort gehörte es zum geeinten Königreich Spanien.

Iglesia San Pedro – Spiegelbild des Niedergangs

Glücklicherweise bot die Niederlage auf dem Schlachtfeld, die Chance auf einen Neuanfang. Der lang ersehnte Frieden fungierte als Initialzündung für das auf Sparflamme köchelnde ökonomische Wachstum. Die benachbarten Gemeinden im Großreich Kastilien-León wurden zu potenten Handelspartnern, und die Intensivierung des Weinanbaus sowie der Agrarwirtschaft erwiesen sich als Goldgrube. Selbst die über Spanien hinwegfegende Pestwelle überstand Viana relativ glimpflich. Heute erinnert nur noch die Stadtpatronin María Magdalena an das „schwarze“ Kapitel Vianas. An ihrem Namenstag im Jahre 1599 hatte die Ortschaft seit Ausbruch der Seuche zum ersten Mal kein Todesopfer mehr zu beklagen. Wachstum und Wohlstand nahmen wieder Fahrt auf, und der Erwerb der Stadtrechte verlieh den Segeln frischen Wind.

Durch die stetige Bevölkerungszunahme musste die Zisterzienserkirche San Pedro dringend erweitert werden. Das heute barocke Portal wurde hinzugefügt, sowie diverse Seitenkapellen, die die Baustatik des Hauptschiffes indes schwer beeinträchtigten. Mag sein, dass der Anbau zu schnell forciert wurde und die Qualität auf der Strecke blieb. Mag sein, dass dem Bauingenieur Fehler in der Statik unterliefen und er die unterschwelligen Kräfte der Hanglage unterschätzte. Fakt war, dass sich bald gravierende Mängel an der Bausubstanz offenbarten.

Statt ein Abbild des Reichtums der Stadt zu verkörpern, wurde San Pedro zum Spiegelbild des mit dem Unabhängigkeitskrieg und der Karlistenkriege einsetzenden Niedergangs. Insbesondere letztere Auseinandersetzungen hinterließen bleibende Spuren. Die Stadt nahm eine strategische Pufferstellung zwischen den Fronten des karlistischen Estella und des liberalen Logroño ein. Die verfeindeten Parteien bezogen, je nach Terraingewinn oder -verlust, Quartier in der Wehrkirche, sodass ihre Stabilität durch Beschuss weiter in Mitleidenschaft gezogen wurde. 1844 hatten sich die tragenden Partien des Hauptschiffes derart abgesenkt, dass die Kirche bis auf Teile der Apsis, eines Seitenschiffes und des Turmes wie ein Kartenhaus in sich zusammensackte.

Ruinen der Kirche San Pedro in Viana

Die Stadt rüstet zur Semana Santa

In den letzten Jahren wurde fleißig an der Konsolidierung der Ruinen gearbeitet. Das Mauerwerk erhielt eine Komplettreinigung, die Schuttberge wurden weggeräumt. Restauratoren konservierten Teile der unerwartet ans Tageslicht getretenen Wandmalereien, stellten die Gewölbedecke des Chores wieder her und setzten neue Glasfenster ein. Hoffentlich meinte es die Stadtverwaltung Ernst mit ihren Instandsetzungsplänen. Denn nur „im Haus desjenigen, der schwört, wird es kein Unglück geben„, so steht es zumindest an der nördlichen Seitenwand geschrieben.

Weiter geht es durch die engen Gassen Richtung Zentrum.
Die Semana Santa, die Karwoche, wirft ihre Schatten voraus. Die Stadt rüstet sich für die anstehenden Prozessionen und Festivitäten. Emsig werden die letzten Einkäufe getätigt. Die Friseursalons sind voll besetzt, Fleischer, Metzger, Gemüsehändler haben alle Hände voll zu tun. Die Stadt ist definitiv weit davon entfernt, tot zu sein.

Die größte Anziehungskraft besitzt eine Bäckerei, aus der sich die Menschenschlange bis auf die Calle Navarro Villoslada ergießt. Ich bin schon im Begriff mich an dem Menschenauflauf vorbeizuschieben, als durch die offenstehende Tür ein verführerischer Duft entweicht, der mich prompt zum Umkehren verleitet. Mir ist sofort klar, keine zehn Pferde oder irgendein anderes Tier bringen mich von hier weg. Im Alltag bin ich, zugegebenermaßen, kein Paradebeispiel für die Tugend der Geduld. Aber heute entdecke ich eine völlig neue Seite an mir. Wie von einem unerklärlichen Zauber gebannt, reihe ich mich bereitwillig in die Menschenkette ein und schiebe mich im Minutentakt zentimeterweise voran.

Der Renner sind die pasteles und galletas. Kekse und Kleingebäck in allen erdenklichen Formen, Geschmacksrichtungen und Dekorationen, die sich zu großen Haufen aufgeschichtet, in den Regalen des gläsernen Ladentisches türmen. Kaum ist der leicht bröselige Berg zur Hälfte abgetragen, schon rollt aus der Backstube im Hintergrund Nachschub an.

Eine Zimt-Zucker-Zeitreise 

Mein uneingeschränktes Interesse gilt allerdings der mittleren Thekenauslage. Torrijas steht auf dem silberfarbenen Schildchen davor. Ein Name, der für mich nicht nur ein Versprechen von Zimt und Zucker, sondern auch ein Eintauchen in längst vergangene Zeiten bedeutet. Ich muss nachdenken. Bestimmt sind gut und gerne dreißig Jahre vergangen, seitdem ich das letzte Mal meinen Hunger mit dieser leckeren Köstlichkeit gestillt habe. Assoziationen von bitterkalten Trainingseinheiten bei Flutlicht, gefrorenem Boden, vor Schmutz starrenden Stollenschuhen, roter Nase, steif gefrorenen Zehen, und ein anstrengender, steiler Nachhauseweg auf dem Fahrrad geistern durch meinen Kopf.

Arme Ritter / torrijas, Zimt-Zucker-Gebaeck

Kaum hatte ich die Haustüre geöffnet, rief ich meiner Mutter im Vorbeigehen, die beiden Zauberworte zu. Dann hörte ich sie mit der Pfanne hantieren und derselbe Duft, der mich just in diesem Moment wieder einfängt, breitete sich in unserer Wohnung aus. Die saftigen, in Milch getränkten, mit Zimt-Zucker bestreuten und ausgebackenen Brotscheiben standen ein halbes Jahr lang mindestens einmal die Woche auf meinem Speiseplan. Kalorienzählen war damals ein Fremdwort, die Armen Ritter hatten Hochkonjunktur.

In die Menschenansammlung ist wieder etwas Bewegung gekommen. Bewundernswert, wie sich hier niemand aus der Ruhe bringen lässt. Weder die Kunden noch die Verkäuferinnen. Kein Gedrängel, Geschiebe, Geschubse oder Gemurre. Fatalistische Ergebenheit oder genetische Stressresistenz? Immer findet sich noch Zeit für ein kleines Schwätzchen über das Befinden und die Feiertagspläne. Das gehört mit zum Geschäft. Hier (ver)kauft man nicht nur köstliches Backwerk, sondern auch Herzenswärme.

Inzwischen bin ich gedanklich schon im Zimthimmel angekommen, sodass ich in diesem Moment der Langsamkeit des Seins völlig gleichgültig gegenüberstehe. Meine einzige Sorge ist die abnehmende Zahl an Objekten meiner Begierde.

Erfolgreiche Trophäenjagd

Verzweifelt versuche ich zwischen den Köpfen vor mir, einen Blick auf die Theke zu erhaschen. Hoffentlich geht der Vorrat nicht aus, bevor ich zum Zuge komme. Unbewusst stelle ich schon die wahnwitzigsten Prognosen und Hochrechnungen an. Ich teile die Anzahl der Armen Ritter durch die Anzahl der Personen vor mir, versuche anhand der Größe des Einkaufskorbes einzuschätzen, wie groß die Familie und der Bedarf an zuckrigem Naschwerk sein könnte, multipliziere das Ergebnis mit der Menge der insgesamt ausgestellten süßen Stückchen, subtrahiere davon den Quotienten aus der taxierten Leibesfülle in Kilogramm Gewicht und den verstrichenen Minuten in der Warteschleife, um final das Resultat zu meinen Gunsten aufzurunden. Die selbstkalkulierten Chancen stehen nicht schlecht für mich.

Doch der einstige Mount Everest auf dem Präsentierteller schmilzt wie ein Schneemann in der Sonne. Von einer kurzen Zwischenstufe als Kilimandscharo, überspringt er die Höhen der Pyrenäen, geht fast übergangslos in die Picos de Europa über, macht nur einen Wimpernschlag Station auf dem Gipfel der Sierra de Gredos bis er beinahe ins Bodenlose auf die Größe des Hügels von Viana zusammenschrumpft. Endlich! Endlich werde ich von meiner Pein erlöst. Von der Anspannung und den erlittenen psychischen Höllenqualen völlig erschöpft, zeige ich mit zitterndem Finger auf die drei verbliebenen Scheiben torrijas und stammle todo.

Hübsch verpackt, bekomme ich meine wertvolle Trophäe überreicht. Ich freue mich wie eine kleine Schneeprinzessin. Gut gelaunt und fröhlich vor mich hin summend, verlasse ich die Bäckerei. Mindestens zehn Augenpaare folgen mir. Ich kann mir denken, was sie denken. Mit Zimt-Zucker-Rückenwind im Rucksack schwimme ich, auf der vor Anker liegenden Barke, weiter gegen den Pilgerstrom zum Plaza de los Fueros, dem geografischen Mittelpunkt der Altstadt. Hier treffe ich auf die beiden architektonischen Aushängeschilder Vianas. Das Rathaus mit seinem vorgelagerten Arkadengang und die Iglesia Santa María.

Rathaus in Viana, Navarra

Tauziehen um Johannes den Täufer

Zwischen Rathaus und der jetzt einzigen Pfarrkirche des Ortes, bewacht die Heiligenfigur des Juan Bautista in einer Glasnische über dem gleichnamigen Portal den nördlichen Zugang zur Stadt.

Stadttor mit der Figur Johannes des Taeufers in Viana

Neben Maria Magdalena erfährt Johannes der Täufer die höchste Heiligenverehrung in Viana. Diese Anbetung geht auf das Jahr 1440 und eine schicksalhafte Episode aus dem Leben des Prinzen von Viana zurück. Carlos verbrachte einige Tage bei der Jagd in den Bergen von Aras, als ihn ein heftiges Unwetter überraschte. Er hoffte in einer dem Heiligen Juan Bautista geweihten Kapelle Schutz zu finden, doch diese war verschlossen. Also ging er unter einer Eiche in Deckung. Offensichtlich hatte man bei der höfischen Erziehung des Prinzen Bauernweisheiten wie „Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen“ übersprungen. So kam, was kommen musste. Der Blitz schlug in die Eiche ein. Bis auf einen Ast (span. ramo), unter dem sich der Prinz verkrochen hatte, blieb von dem Baum nur ein armseliges Aschehäufchen.

Dem Prinzen war nichts passiert. In Dankbarkeit für seine wundersame Rettung errichtete Carlos an Ort und Stelle ein Franziskanerkloster zu Ehren Johannes des Täufers. Die Mönche bewohnten das Kloster San Juan del Ramo bis ins 17. Jahrhundert. Dann zogen sie, die Heiligenfigur des San Juan im Gepäck, in ihr neues Zuhause nach Viana um. Die Bewohner von Aras vermissten ihren Schutzheiligen schmerzlich. Niemals hätten sie den Franziskanern die Entführung der Heiligenfigur zugetraut. Doch der Verdacht fand sich bald bestätigt. Als Männer der Tat entführten sie die Figur und brachten sie an ihren angestammten Platz zurück. Kurze Zeit später verschwand sie wieder. Dieses Spiel ging noch einige Male hin und her, bis der Heilige in der ihm geweihten Seitenkapelle in der Kirche Santa María fest angekettet wurde. So etwas nennt man Pflichtheimat.

Vorzeigekirche Santa María

Die Wehrkirche Santa María war bereits fester Bestandteil des Bebauungsplans von König Sancho el Fuerte. Ihre Konstruktion wurde aber erst in die Wege geleitet, nachdem die Arbeiten an der San Pedro Kirche abgeschlossen waren. Das war exakt Mitte des 13. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt weilte Sancho VII. bereits 15 Jahre im Himmelreich. Doch das Warten hatte sich am Ende, zumindest für die Einwohner Vianas, gelohnt.

1312 fand die Weihung des gotischen Sakralbaus statt, der sich heute als Stilmix unterschiedlichster Kunstepochen präsentiert. Die seitlich angebrachten Strebebögen sind ein Paradebeispiel gotischer Architektur, während Kirchturm und Chorumgang erst zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert hinzukamen. Als besonderes Schmuckstück der Renaissance gilt das Hauptportal. Ein riesiges Reliefgemälde, das sich mit dem Thema Kreuzigung und Passion Christi auseinandersetzt.

Im Innern kommen die riesigen Dimensionen der Marienkirche noch überwältigender zum Tragen. 22 Meter schießen die schlanken Bündelpfeiler in die Höhe. Darunter herrscht emsiges Treiben. Die Vorbereitungen für die abendliche Prozession laufen auf Hochtouren. Im Chorumgang sind bereits die Figurengruppen, die später die Mitglieder der Bruderschaft auf ihren Schultern durch die Straßen Vianas tragen, aufgereiht. Jetzt gilt es für die fleißigen Helfer letzte Hand an die sogenannten Pasos zu legen. Die Figuren der Darstellung der Passion Christi werden sorgfältig vom Staub des letzten Jahres befreit und mit frischen Rosmarin- und Thymianzweigen dekoriert. Ihr aromatischer Duft durchströmt das komplette Kirchenschiff. Würde mich nicht die Überfülle an Heiligen, Märtyrern, biblischen Helden oder gefallenen Sündern vom Gegenteil überzeugen, könnte ich mich in einem blühenden Kräutergarten wähnen.

Hochaltar der Kirche Santa Maria in Viana

Machiavellis „Il Principe“ – Cesare Borgia

Beim Verlassen der Kirche stoße ich auf eine im Boden eingelassene Marmorplatte. Sie erinnert an eine der illustren Persönlichkeiten der Renaissance. Ein Mann, der bis in die Gegenwart Sympathien als auch Antipathien auf sich vereinigt. Ein Kardinal und Papstanwärter, der exkommuniziert wurde. Ein skrupelloser Staatsmann, der den florentinischen Philosophen Niccoló Machiavelli zu seinem bekanntesten Werk Il Principe (der Fürst) inspirierte. Ein Förderer Leonardo da Vincis. Ein General, der für die Freiheit Navarras kämpfte und von der Stadt Viana im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten wurde. Ein Fürst, der zu seinem 500. Todestag, eine zögerliche Rehabilitation erhielt. Wenn auch, aus meiner ganz persönlichen Sicht, 500 Jahre zu spät.

 César Borgia. Generalísimo de los ejércitos de Navarra y pontificios.
Muerto en Campos de Viana.
El XI de marzo de MDVII.

„Cesare Borgia, General der Truppen von Navarra und des Pontifex. Gestorben auf den Feldern von Viana. Am 11. März des Jahres 1507“, lautet die minimalistische Inschrift der marmornen Bodenplatte.

Grabplatte von Cesare Borgia in Viana

Moralvorstellungen im Wandel

Ich muss gestehen, meine geschichtlichen Kenntnisse über die machtpolitischen Gegebenheiten der Renaissance waren vor meinem Besuch Vianas eher dürftig. Doch nun war mein Interesse an diesem spanischen Adelsgeschlecht geweckt. Schnell erkannte ich, dass Leben und Wirken aller Persönlichkeiten aus dem Hause Borgia, sowohl in den Geschichtsbüchern als auch der Literatur, die kontroversesten Betrachtungen und Wertungen finden. Handfest untermauerte Tatsachen füllen dabei ebenso viele Seiten, wie die wildesten Spekulationen. Aber davon lebt der Mythos umstrittener Persönlichkeiten. Wer eine derartige Machtstellung einnimmt, ist stets die Zielscheibe von Intrigen, Anschuldigungen, Verleumdungen und politischen Spielchen der unterschiedlichen Interessengruppen. Und ebenso selten besitzen diese Personen eine durch und durch weiße Weste. In jedem Keller liegen Leichen. Das findet sich jeden Tag aufs Neue bestätigt.

So auch bei Cesare Borgia.
Jedoch sind die „Leichen“ im historisch-gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Verfehlungen im 15. Jahrhundert dürfen, meines Erachtens, nicht durch die moralische Brille des 21. Jahrhunderts betrachtet werden. Im Mittelalter war es gang und gäbe machtpolitische Gegner physisch aus dem Weg zu räumen. Dem Widersacher wurde offen nach dem Leben getrachtet. Ein „Spiel“, das klare Regeln hatte und von allen Seiten so praktiziert wurde. Heute werden Machtkämpfe subtil geführt. Hinter verschlossenen Türen durch geschickte Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Mediale Hetzjagden unter Zuhilfenahme der weltweiten Vernetzung. Diese Vorgehensweise kann aber genauso Leben zerstören, sowohl psychisch als auch physisch. Die heutige Gesellschaft ist also nicht weniger skrupellos, sie ist es nur auf eine andere Art und Weise.

Wer war Cesare Borgia (wirklich) und was hat es mit dieser Gedenktafel vor der Kirche in Viana auf sich?

Um es direkt vorweg zu nehmen: Es existiert kein wirkliches, kein einheitliches Bild über diese umstrittene Persönlichkeit.

Portrait of Cesare Borgia (1475-1507); Bartolomeo Veneto; ca. 1500; Museo di Palazzo Venezia
Porträt Cesare Borgia von Bartolomeo Veneto; ca. 1500; Museo di Palazzo Venezia

Zu den wenigen belegbaren Fakten gehört, dass Cesare 1475 als unehelicher Sohn Rodrigo Borgias, bekannter als Papst Alexander VI., in der Nähe von Rom geboren wurde. Bereits mit 16 Jahren ernannte ihn sein Vater zum Bischof von Pamplona und drei Jahre später zum Kardinal, ohne dass Cesare je ein geistliches Leben geführt hätte. Nach dem mysteriösen Tod seines Bruders übernahm er, als designierter Nachfolger seines Vaters auf dem Papststuhl, die Führung der Truppen des Vatikans. Als Papst Alexander VI. 1503 starb, ließen die politischen Gegner Cesare umgehend gefangen setzen.

Cesare gelang die Flucht, wurde kurz darauf jedoch erneut inhaftiert. Auch zwei Jahre später im spanischen Exil erging es ihm nicht besser. Der Einfluss des neuen Pontifex reichte bis nach Kastilien, dessen König Cesare erneut unter Arrest setzte. Abermals befreite er sich und kämpfte fortan an der Seite seines Onkels, König Juan de Albret de Navarra. Dieser ernannte den kriegserprobten Fürsten zum Anführer seiner Truppen, in der Hoffnung, den Invasionsversuchen des kastilischen Heeres standzuhalten.

1507 belagerte Cesare die Grenzstadt Viana, in dessen Burg sich die Reiterschaft des Grafen von Lerín, Gefolgsmann des kastilischen Monarchen, verschanzt hatte. Es stellte sich als Leichtes heraus, die Stadt einzunehmen, jedoch nicht besagte Festung. Cesare beschloss deshalb, die in der Burg festsitzenden Truppen des Conde de Lerín auszuhungern.

Ein unwürdiges Ende

In der Nacht zum 11. März 1507 braute sich ein heftiges Unwetter mit Gewitterfront über Viana zusammen. Um das Leben der seiner Männer nicht unnötig aufs Spiel zu setzen, verzichtete Cesare für diese Nacht auf die strenge Überwachung der Festung. Doch der Feind nutzte die großzügige Geste des ansonsten für seine Brutalität gefürchteten Feldherrn aus. Von einem Verräter (man munkelt, dass es sich um einen Vianeser handelte) über die gelockerte Bewachung in Kenntnis gesetzt, schlichen sich die Soldaten des Grafen von Lerín in der Dunkelheit zu einem versteckten Lager vor den Toren der Stadt.

Schon hatten sie Vorräte für mehrere Wochen aufgesattelt, als Cesare von dem Verrat erfuhr. Wutentbrannt schwang er sich auf sein Pferd, um alleine die Verfolgung des Feindes aufzunehmen. Auf einem Feld zwischen Viana und der Gemeinde Mendavia, bekannt als La Barranca Salada, geriet er in einen Hinterhalt. Zwanzig Männer des Grafen fielen über ihn her und ermordeten ihn auf heimtückische Art und Weise. Anschließend nahmen sie seine Kleider an sich und ließen ihn nackt und würdelos zurück. Als Cesares Diener am Schauplatz des Verbrechens eintraf, kam jede Hilfe zu spät. Cesare starb mit den Worten: „Für alles habe ich im Laufe meines Lebens Vorsorge getroffen, nur nicht für den Tod, und jetzt muss ich völlig unvorbereitet sterben“.

Verehrung und offener Hass

König Juan de Albret war untröstlich über den Verlust seines Schwagers. Er hatte mit Cesare Borgia nicht nur seinen besten Feldherrn, sondern auch Freund und Verbündeten in einem aussichtslosen Kampf verloren. Einem Fürsten und angesehenen Heerführer entsprechend ließ er Cesare Borgia in einem prächtigen Alabastermausoleum vor dem Hochaltar der Kirche Santa María de Viana beerdigen.

Allerdings sollte das Grabmal nicht die letzte Ruhestätte dieser schillernden Persönlichkeit sein. Kaum war der Krieg zwischen Navarra und Kastilien beendet, besuchte der Bischof von Calahorra das Städtchen Viana, das nach der Vereinigung der beiden Königreiche, zu seinem Gemeindegebiet gehörte. Als er in der Kirche das Mausoleum für den exkommunizierten Borgia entdeckte, empörte er sich derart, dass er das Grabmal in Stücke schlagen und die sterblichen Überreste unter der Hauptstraße Vianas verscharren ließ. Seine Handlung kommentierte er sinngemäß: „Ein Sünder hat in einem geweihten Gotteshaus nichts zu suchen. Er gehört unters Volk, damit die guten Christen, die einfachen Leute und die niedrigsten Tiere auf ihm herumtrampeln können“.

Bis ins 20. Jahrhundert musste Cesare Borgia diese Schmach ertragen. Dann erinnerten sich die intellektuellen Kreise Vianas an den Heerführer, der für das Königreich Navarra starb. Er wurde exhumiert und in ein eigens angefertigtes Grabmal in die Vorhalle des Rathauses umgebettet. Allerdings stieß die neue Ruhestätte diesmal auf Unverständnis der Rechtsextremisten. In einer Nacht- und Nebelaktion zerstörten sie das verhasste Denkmal und begruben die Überreste erneut unter den Pflastern der Durchgangsstraße.

Offensichtlich war dies selbst für den Geist des Cesare Borgia zu viel. So kursierten in Viana bald die wildesten Schauermärchen über ein rachsüchtiges Phantom. Besonders in der Nacht seines Todestages machten die Einwohner immer einen großen Bogen um die Hauptstraße. Als Mitte der 50er Jahre, im Zuge anstehender Kanalarbeiten, Cesares Skelettreste erneut ans Tageslicht gelangten, schien sich der Fluch zu bestätigen.

Viana und das gespaltene Verhältnis zu Cesare Borgia

Die Stadtverwaltung war nun gefordert, sich ein für alle Mal mit dem Schicksal des Renaissancefürsten auseinandersetzen. Doch nach wie vor, war Cesare Borgia kein Sympathieträger. Weder bei den konservativen Politikern, noch bei den Kirchenoberen. Das Ergebnis: eine unauffällige Grabplatte in unmittelbarer Nähe des Kirchenportals.

Portrait of Gentleman aka Cesare Borgia. Altobello Melone (1491-1543); Accademia Carrara
Porträt eines Edelmannes vermutl. Cesare Borgia; Altobello Melone (1491-1543); Accademia Carrara

Im Laufe der letzten Jahre schien ein leises Umdenken in Viana stattgefunden zu haben. 2007, zum 500. Todestag des Italieners mit den spanischen Wurzeln, organisierte die Stadt Kongresse, Ausstellungen, Feierlichkeiten, schmückte die Altstadt mit dem Konterfei des früh Verstorbenen und richtete einen Exkursionsweg zur Stätte seiner Ermordung ein. Plötzlich war das Unmögliche möglich. Die Haltung des Klerus veränderte sich, man war bereit Cesare Borgia einen Platz in der Kirche einzuräumen. Also mache ich mich zunächst im Kircheninnern auf die Suche nach der letzten Ruhestätte der zwiespältigen Persönlichkeit. Allerdings ohne Erfolg. Auf Nachfrage verweist man mich auf die Gedenkplatte vor dem Portal. Auch im Tourismusbüro erhalte ich dieselbe Auskunft. Ich bin verwirrt.

500 Jahre wird der Fürst in Viana mit Füssen getreten. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Er wird als Antichrist bezeichnet. Sein ausschweifender Lebenswandel verdammt, seine Gewissenlosigkeit an den Pranger gestellt. Man negiert ihn. Und plötzlich erkennt man das touristische Potenzial, das in dieser streitbaren Figur steckt. Doch wären die wieder erwachten Gefühle für Cesare Borgia echt, dürfte man dann nicht mehr erwarten als eine einfache Grabplatte? Oder ein nach ihm benannter Rundweg? War etwa alles nur ein Spuk? Ein heuchlerischer, Marketing getriebener Hype?

Oder war die Kirche doch nicht bereit, die Hand der Versöhnung zu reichen? Die Tat und Worte des Hasses des Bischofs von Calahorra, eines sogenannten Vertreter Gottes auf Erden, sprechen für sich. Und der Einfluss der Kirche ist nicht zu unterschätzen.

Aut Caesar, aut nihil

Sicherlich, Cesare Borgia war kein Kind von Traurigkeit. Sein Lebenswandel umstritten, sein Machthunger berüchtigt. Sein ganzes Leben ein einziges Extrem. Aber er war auch ein Kämpfer für die Freiheit Navarras.

Jede Medaille hat zwei Seiten. Die Wahrheit liegt meistens irgendwo in der Mitte zwischen Gut und Böse. Und, weil es in diesem Fall keine absolute Wahrheit gibt, nehme ich mir die Freiheit, Stellung für die Person des Cesare Borgia zu beziehen. Ein Mann, der die Verkörperung seines ambivalenten Leitspruches war: „Aut Caesar, aut nihil“. Und genauso ist es eingetreten. Entweder Kaiser oder nichts. Ein Kaiser war er nie, ein Nichts ist er noch heute. Zumindest in Viana. Ein Kämpfer, der mit 31 Jahren viel zu früh verstarb und vielleicht in einer unbestimmbaren Vorahnung jeden Tag so intensiv lebte, als wäre es sein letzter.  

Ich verlasse Viana mit zwiespältigen Gefühlen. Die Altstadt habe ich lieb gewonnen, den kulinarischen Verführungen bin ich widerstandslos erlegen, aber die widersprüchliche Haltung gegenüber Cesare Borgia vermag ich nicht nachzuvollziehen. Spanien bleibt auch heute wieder ein Rätsel für mich. 

enge Gasse in Viana, Navarra

Viana, Comunidad Foral de Navarra, April 2011


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