Kapitell mit dem Kampf zwischen Roland und dem Riesen Ferragut am Palacio de los Reyes in Estella, Navarra
Navarra,  Spanische Erinnerungen

Estella -Teil II – Estella la Bella


Ich freue mich auf meine Begegnung mit Estella-Lizarra. Die Siedlung am Fluss Ega war eine der multikulturellsten und reichsten Städte des Königreichs Navarra. Nicht umsonst hieß sie zu ihrer Blütezeit im 13. Jahrhundert „Toledo des Nordens“. Eine Hommage an den schier unerschöpflichen Reichtum architektonischer Kunstschätze im Sammelbecken ethnischer Rassen und Kulturen. Dazu die Wiederentdeckung der Pilgerbewegung zum Grab des Apostels Jakobus, die in Estella eine unvergleichliche städtebauliche Entwicklung bewirkte.

Estella – ein mittelalterlicher Schmelztiegel von Kulturen und Religionen

Sechs Pilgerhospize, acht Pfarrkirchen, fünf Kapellen, sieben Klöster, drei Befestigungsanlagen, elf Stadttore, zwei Brücken und zahlreiche Adelspaläste gereichten Estella zur qualitativen und quantitativen Ehre im Mittelalter. Zisterzienser, Dominikaner, Klarissinnen, AugustinerInnen, Franziskaner, Benediktinerinnen, Mercedarios, Grandmontinos, Conceptionistas Recoletas und Ordensschwestern der Nuestra Señora de Salas kamen, blieben oder gingen wieder. Sechs unterschiedliche Sprachen ertönten in den Straßen von Estella. Man verständigte sich auf Französisch, provenzalisch, navarresisch, baskisch, lateinisch, hebräisch oder einem Kauderwelsch aus allem.

Allerdings folgte dem kometengleichen Aufschwung ein lang andauernder Niedergang. Unterhalb der Burganlage Zalatambor hatte sich mittlerweile die  drittgrößte jüdische Gemeinde Navarras entfaltet. Sie war aus dem Wirtschaftsleben Estellas nicht mehr wegzudenken. Allerdings erzeugte deren sichtbarer Reichtum ein gefährliches Potenzial an Neid, Missgunst und Intoleranz unter der christlichen Bevölkerung. Und in einer einzigen Nacht im Jahre 1328 entlud sich der komplette Hass gegen die „andersartigen“ Händler und Kaufleute. Das jüdische Viertel Elgacena wurde beinahe komplett dem Erdboden niedergemacht. Häuser wurden angezündet, Besitztümer geplündert, Tausende von Juden vom aufgebrachten christlichen Mob umgebracht. Es war und ist bis heute das schlimmste Massaker gegen die jüdische Bevölkerung in der Geschichte Navarras.

Womit die meuchelmordenden Einwohner Estellas nicht gerechnet hatten, war die scharfe Missbilligung des Progroms durch das Königshaus. Die Rädelsführer wurden zum Tode verurteilt, die Mitläufer lebenslang hinter Gitter gebracht, und die Stadt zu immensen Strafzahlungen verurteilt. Wer die Nacht des 5. auf den 6. März überlebt hatte, schnürte seine verbliebene Habe und zog weg. Estella sollte sich von dieser unüberlegten Aktion wirtschaftlich nicht mehr erholen. Aus war es mit dem Ruf des „Toledo del Norte“. Der Stern des geschäftigen Wirtschafts- und Handelszentrums ging rapide unter.

Aus einem Stadtstaat wird Estella – die Schöne

Jahrzehnte schlechter Ernten, dramatischer Überschwemmungen, kräftezehrender Belagerungen und kriegerischer Auseinandersetzungen mit dem mächtigen Nachbarn Kastilien folgten. Die drei, zwischen 1348 und 1420, zyklusartig über Estella hereinbrechenden Pestwellen taten ihr Übriges. Erst mit der unfreiwilligen Vereinigung Navarras mit dem Königreich Kastilien stabilisierte sich die politische und ökonomische Situation. Der Geschützdonner am Flusslauf des Ega war verhallt, die Ruhe wiederhergestellt. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Dann kam die Zeit der Karlistenkriege. Die Stadt am Camino schlug sich unisono auf die Seite der konservativen Thronprätendenten. Sowohl Carlos V. als auch Carlos VII. richteten ihren Hof in Estella ein. Letzterer machte von 1873 bis 1876 daraus sogar einen Stadtstaat mit von ihm eingesetzten Ministern und einem eigenen Gerichtshof. Er richtete eine unabhängige Poststation mit eigenen Postwertzeichen ein, gründete eine ihm loyale Polizeieinheit, eröffnete eine königliche Münzprägeanstalt und führte eine Zollstation ein. Der Stadtstaat mutierte zum Epizentrum der Karlistenbewegung. Angriffe und Ausfälle, Belagerungen und Befreiungsschläge, Befehlsverweigerungen, Desertionen und Exekutionen waren an der Tagesordnung. Doch die Liberalen behielten die Oberhand. Schlussendlich musste sich die Stadt ergeben, und Carlos VII. flüchtete ins Ausland.

Heute hat sich die 14000 Einwohner zählende Kleinstadt immerhin wieder zum Titel „Estella, la Bella“ – „Estella, die Schöne“ hochgearbeitet. Dann werde ich die Schöne doch mal auf den Prüfstand stellen, auch wenn sie sich ein wenig schüchtern in einem von Bergketten umzingelten Tal versteckt. No se ve Estella hasta llegar a ella, wie der Volksmund sagt. Man sieht Estella erst, wenn man bereits dort ist. Recht hat er.

Die San Miguel Kirche

Treppenaufgang zur Kirche San Miguel in Estella-Lizarra

In der Nähe des Busbahnhofs mache ich von dem großzügigen Parkplatzangebot Gebrauch. Von hier aus benötige ich nur wenige Gehminuten, um mich ins Getümmel der Altstadtgassen zu stürzen. Dabei gilt meine vorrangige Priorität zunächst der Nahrungsaufnahme, denn seit meinem Besuch des Klosters und der Bodegas Irache knurrt mein Magen unentwegt. Im nächstbesten supermercado stelle ich mir ein unkonventionelles Mittagsmahl aus Thunfisch-Teigtaschen und frischen Erdbeeren zusammen, um anschließend nach einem gemütlichen Picknickplatz Ausschau zu halten. Ich zücke kurzerhand meinen Stadtplan und entscheide mich für den alten Marktplatz bei der San Miguel Kirche. Das Vesper will verdient sein, denn es heißt erst einmal Treppensteigen. Dies wird nicht das letzte Mal sein, denn es gibt noch einige Treppen, die in Estella auf mich warten. Offensichtlich beansprucht la Bella zusätzlich den Titel auf die Stadt mit der höchsten Kirchen- als auch Treppendichte Navarras.

Oben angekommen, erwartet mich ein Vorzeige-Kirchenvorplatz mit schattigen Parkbänken. Ein gut gewählter Ort für meine Vesperpause, denn nebenbei kann ich die San Miguel Kirche ungestört in Augenschein nehmen. Das von der Flussseite massive, kompakte Bollwerk des Glaubens, löst sich hier oben in eine Villa Kunterbunt auf. Hier geht einiges architektonisch drunter und drüber. Ein fünfgeteilter Chor flankiert die klobigen Seitenschiffe, dazwischen behauptet sich ein Querschiff ohne Gegenpart, während ein massiver Glockenturm die Westflanke schützt und am anderen Ende, eine ins Abseits beförderte trapezförmige Kapelle mit sich selbst beschäftigt ist.

Spätromanische und gotische Stilelemente geben sich hierbei einander die Hand, während das Glasdach mit Stahlträgern über dem Nordportal jeder ästhetischen Zeitrechnung fremd ist. Sicherlich erfüllt es einen lobenswerten praktischen Zweck, nämlich den Schutz des figurenreichen Eingangsbereichs vor schädigenden Umwelteinflüssen, aber hätte sich dafür hier, im Land der unbegrenzten Vorstellungskraft, nicht eine geschmackvollere Lösung finden lassen?

Nordfassade der Kirche San Miguel in Estella

Der Heilige Michael als Multitasking-Erzengel

Ausreichend gesättigt, gönne ich mir als Nachspeise eine ikonografische Entdeckungstour am Nordportal.

Der Heilige Michael am Portal der Kirche San Miguel in Estella

Der Eingang ist zwischen zwei großformatigen Reliefs eingebettet. Die linke Seite steht ganz im Zeichen des Multitasking-Erzengels Michael. Als Befehlshaber der himmlischen Heerscharen bezwingt er den bösen Drachen. In seiner Hand hält er dabei ein Wappenschild mit der Navarrakette. Ein sicheres Indiz dafür, dass das Portal nach 1212 entstand. Vielleicht erinnert Ihr Euch an den navarresischen König Sancho el Fuerte, der in der Stiftskirche von Roncevalles begraben liegt? Er war es nämlich, der nach der gewonnenen Schlacht von Las Navas de Tolosa gegen den Maurenfürsten Miramamolín die Kette in Navarras Heraldik einführte.

Apostel am Portal der Kirche San Miguel in Estella

In der zweiten Bildsequenz hat Abraham neben einer weiteren Erscheinung des Erzengels Platz genommen. In seinem Schoß freuen sich drei zwergenhafte Köpfe über ihren sicheren Platz im Paradies. Dagegen hat der Heilige Michael mit seiner Seelenwaage bereits zahlreiche Sünder per Einwegfahrschein ins dunkle Untergeschoss geschickt. Eine gute Seele hält er zärtlich an seiner Hand, während der winzige Mensch, schon ganz ungeduldig an Abrahams Schienbein klopft, um auf sich aufmerksam zu machen.

Apostel am Portal der Kirche San Miguel in Estella

Über dem Namenspatron der Kirche stehen je vier Apostel den fleißigen Kirchgängern Spalier. Ihre übrigen Kollegen, wohl ein wenig erschöpft vom Herumstehen, durften zu ihren Köpfen Platz nehmen. Dieses Privileg gab es offensichtlich nur gegen einen Tauschhandel zuungunsten ihrer Größe.

Die Evangelisten als kulinarische Namenspatrone

Bevor ich zu meinen Streifzügen durch Spanien aufbrach, wusste ich relativ wenig über die vielen Heiligen, Märtyrer, Apostel oder Bibelgeschichten, mit denen die mittelalterlichen Kirchenportale übersät sind. Ebenso wenig hatte ich mir zuvor in heimischen Gefilden Gedanken darüber gemacht, warum viele Traditionsgaststätten Namen wie „Gasthof zum Ochsen“, „Restaurant zum Löwen“, „Gasthaus Engel“ oder “Zum Adler“ tragen. Ich vermutete eine Marketingstrategie. Ein subtiler Wink mit dem Zaunpfahl bezüglich des Nährgehalts oder der Qualität der Mahlzeiten. Nach dem Essen fühlt man sich stark wie ein Ochse, kraftvoll wie ein Löwe, mutig wie ein Adler oder einfach himmlisch. Und weil dieses Konzept gut funktionierte, kopierten die Wirte den Namen für ihre Wirtschaft einfach vom Nachbarn. Doch weit gefehlt, für meine laienhafte Interpretation hätte ich null Punkte geerntet.

Weil ich mich damit genug blamiert habe, geht die nächste Frage an die aufgeweckte Leserschaft. Wer von Euch würde gerne in einer „Matthäus-Schenke“, einem „Hotel Johannes“, der „Wirtschaft zum Lukas“ oder „Zum Evangelisten Markus“ einkehren? Wohl die wenigsten, oder? Nun, warum stelle ich diese Frage und in welchem Zusammenhang steht sie zur San Miguel Kirche?

Im Zentrum des halbkreisförmigen Bogenfelds über dem Eingang sitzt Jesus Christus, um den sich die vier Evangelisten als tetramorphe Wesen scharen: Markus als Löwe und Matthäus als Engel auf der einen, sowie Lukas als Stier und Johannes als Adler auf der gegenüberliegenden Seite. Jeder von ihnen trägt nicht nur Flügel, sondern auch seine geflügelten Worte, nämlich das Evangelium, bei sich.

Bedenkt man nun, dass früher viele Gasthöfe keinen allzu guten Ruf besaßen, schließt sich der Kreis zu meiner eingangs gestellten Frage. Durchreisende oder Pilger wurden oft übers Ohr gehauen, bestohlen oder bekamen ungenießbare Mahlzeiten vorgesetzt. Um diesen schlechten Leumund loszuwerden, oder sich in der Außendarstellung davon abzuheben, bekamen die Gasthöfe eine christliche Symbolik verpasst.

Mittelalterliche Sensationsgier

Und noch ein kurzer Exkurs zum Thema christliche Symbolik.
Die Inschrift des Strahlenkranzes, in dem Jesus sitzt, enthält eine deutliche Kampfansage an die zu dieser Zeit an Einfluss und Zulauf gewinnende Katharerbewegung. „Dieses Bild, das du betrachtest, ist weder Gott noch Mensch, aber derjenige, der dieses heilige Bild repräsentiert ist Gott und Mensch“. Die Katharer lehnten die von der katholischen Kirche und dem Papst propagierte menschlich-göttliche Natur des Gottessohnes vehement ab. In ihren Augen konnte Jesus, der als Mensch auf die sündige Erde geboren wurde, niemals göttliche Züge annehmen. Ein verhängnisvoller Glaube, der den Häretikern schlussendlich das Leben kostete.

Tympanon des Portals der Kirche San Miguel in Estella

Ein ungewollt frühzeitiges Ende ihres irdischen Daseins erfuhren auch die im äußersten Archivolt des Tympanons versammelten Heiligen. Ungeschönt lässt uns der Steinmetz an einer gar grausamen Martyrienschau teilhaben. Vom kopfüber ans Kreuz gebundenen Petrus, über die Enthauptung Johannes des Täufers, dazwischen Laurentius, wie er von seinen Peinigern auf einem Rost gegrillt wird, bis zur Steinigung des Urmärtyrers Stephanus und der abscheulichen Folter der heiligen Agathe, der man die Brüste abschnitt, ist alles dabei.

Zweifelsohne legte die katholische Kirche viel Wert darauf, ihren Märtyrern ein steinernes Denkmal zu setzen. Dennoch frage ich mich manchmal, ob der Schuss nicht nach hinten losgegangen ist. Nicht jedermann ist zum Märtyrer geboren. Für Zauderer und Zögerer in Sachen Glaubensfrage wirkten diese plastischen Schilderungen von Folter und Tod eher abschreckend. Wohl wissend, dass sich Mäuse immer noch am besten mit Speck fangen lassen, hätte ich den Steinmetz die Verlockungen des Himmelreichs an das Kirchenportal meißeln lassen. Aber vielleicht waren diese für das einfache Volk zu abstrakt.

Der entwaffnete Drachentöter

San Miguel hat noch einige Geschichten zu erzählen, aber ich habe genug gesehen. In meinem Kopf brummt ein Hornissenschwarm biblischer Protagonisten, der mich ermüdet hat. Zögernd wage ich einen Vergleich mit dem Portal der Pfarrkirche St. Maria la Real in Sangüesa, meinem persönlichen Favoriten unter allen romanischen, klerikalen Steinmetzarbeiten in Navarra.

Zugegebenermaßen stehe ich hier einem hagiografischen Füllhorn gegenüber, das großzügig über der Fassade ausgeschüttet wurde. Oder, mit anderen Worten, ein biblisches Bilderbuch für Analphabeten. Allerdings kommt der Brückenschlag zur weltlichen Durchschnittsgesellschaft des Mittelalters mit ihren Banalitäten, Lastern, Irrungen und Wirrungen zu kurz.

Figur des Heiligen Georg in der Kapelle der Kirche San Miguel in Estella

Zu guter Letzt stolpere dann doch noch einem weiteren Heiligen vor die Füße. Gegenüber der Apsis und an der Stelle des ehemaligen Gemeindefriedhofs, ringt der Heilige Georg in seiner Kapelle den Drachen nieder, dem eine Jungfrau als Opfergabe dargebracht wurde. Vermutlich stammt das kleine gotische Gebäude aus dem 14. Jahrhundert, als die Pest in und um Estella wütete. Man erhoffte sich von San Jorge, dass er seinem Ruf als Schutzheiliger gegen den Schwarzen Tod gerecht wird.

Wenn ich mir die Statue des Heiligen so anschaue, kommen mir meine Zweifel. Hoch zu Ross, in voller Rittermontur, ist er im Begriff den gigantischen Drachen zur Strecke zu bringen. Hilflos auf dem Rücken liegend wie eine umgekippte Schildkröte, erwartet das Ungeheuer den Todesstoß. Doch dieser wird nicht erfolgen, denn ein pazifistischer Tunichtgut hat das Tötungswerkzeug entwendet. Und so steht dem Jüngling mit dem unschuldigen Gesicht und den geröteten Wangen die Ratlosigkeit deutlich ins Gesicht geschrieben.

Der Königspalast – Palacio de los Reyes

Es geht wieder treppab, weiter über die mittelalterliche Cárcel-Brücke, um meinen Weg am rechten Flussufer fortzusetzen, wo ich nach wenigen Minuten auf die Plaza San Martín, den Mittelpunkt des einstigen Frankenviertels, treffe. Auf kleinstem Raum haben sich hier vier kunsthistorische Stilrichtungen zusammengefunden. An der Südwestecke des Platzes legt der Palacio de los Reyes ein wunderschönes Zeugnis romanischer Baukunst ab, schräg gegenüber erhebt sich die spätromanisch-gotische Kirche San Pedro, einige Meter weiter ostwärts das ursprüngliche Rathaus mit barocken Stilelementen und im Mittelpunkt lenkt der Los Chorros Brunnen aus der Zeit der Renaissance die Blicke auf sich.

Palacio de los Reyes - Palast der Koenige - in Estella, Navarra
Palacio de los Reyes - Palast der Koenige - in Estella, Navarra

Den Palacio de los Reyes, den Palast der Könige von Navarra, mit seinem eleganten Arkadengang aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert hat Estella König Sancho VI. el Sabio zu verdanken hat. Das Gebäude rühmt sich, das einzige, original erhaltene Exemplar romanischer Zivilbaukunst Navarras zu sein. Während sich im Mittelalter Könige und Granden in seinen Räumlichkeiten aufhielten, beherbergt es heute das Tourismusbüro sowie die Kollektion des in Estella verstorbenen Malers Gustavo de Maeztu.

Als alle an mir vorbeiziehenden Pilger vor der linken Säule des Bogenganges anhalten, um auf das untere Kapitell zu zeigen, ist meine Neugier geweckt. Ein dramatischer Kampf spielt sich vor meinen Augen ab. Ein Kampf auf Leben und Tod zwischen einem französischen David gegen einen maurischen Goliath.
Als Vorlage der spannenden Szene diente eine Episode aus der Chronik des sogenannten Pseudo-Turpin. Turpin, Bischof von Reims und Wegbegleiter des Recken Roland, galt ursprünglich als Autor der Geschichten um Karl den Großen. Doch erst Jahrhunderte später stellte sich dies als schwerwiegender Irrtum heraus. Da der oder die tatsächlichen Urheber der Fälschung nicht mehr ermittelt werden konnten, hielt sich der Name Pseudo-Turpin.

Die Legende von Roland und Ferragut

Letztendlich ist es unerheblich, wessen Feder wir die Legende zu verdanken haben. Denn Fälschung hin oder her, Tatsache ist, dass sie über ein ganzes Jahrtausend, über Hunderte von Generationen hinweg immer noch weiter gegeben wird.

Detail des Kapitells des Kampfes zwischen Roland und Ferragut am Palacio de los Reyes in Estella, Navarra

Da war einerseits Roland, bretonischer Graf, Neffe und treuer Gefolgsmann des Frankenkönigs Karl des Großen. Sein Gegner, der Sarazene Ferragut. Direkter Nachfahre des biblischen Goliath und Herrscher von Najera, einer Stadt in der heutigen Provinz La Rioja. Von gigantischer Gestalt, ausgestattet mit der Kraft von vierzig Männern, galt er als unbesiegbar. Im Kampf gegen den Riesen hatten schon viele namhafte Gefolgsleute Karl des Großen Federn lassen müssen, doch keinem von ihnen war es gelungen, den Riesen in die Knie zu zwingen. Zu guter Letzt schickte der König des Fränkischen Reiches seine letzte Trumpfkarte, den furchtlosen Paladin Roland, in den Kampf.

Zwei Tage lang gingen die Protagonisten dieser Geschichte abwechselnd mit Schwertern, Streitkolben oder bloßen Fäusten aufeinander los, doch keiner konnte einen entscheidenden Vorteil erringen. Als die Nacht herabsank, ließen sich beide Kontrahenten erschöpft nebeneinander nieder. Bald kamen sie ins Gespräch über „Gott“ und die Welt. Der Riese, auf dem Schlachtfeld eine unbarmherzige Kampfmaschine ansonsten aber von einfachem Gemüt, entwickelte im Laufe des nächtlichen Diskurses eine bewundernde Zuneigung zu dem mutigen Roland. Und in seiner Redseligkeit verriet er ihm seinen einzigen wunden Punkt.

Als sich Roland und Ferragut am nächsten Morgen wieder auf dem Kampfplatz gegenüberstanden, war die Schlacht im Prinzip schon entschieden. Der französische Ritter kannte nun die Schwachstelle des Sarazenenherrschers. In gestrecktem Galopp hielt er deshalb auf den Gegner zu und platzierte die gesenkte Lanze in dessen Bauchnabel. Tödlich getroffen, stürzte Ferragut wie ein gefällter Baum vom Pferd.

Ein in Stein gemeißeltes Heldenepos

Detail des Kapitells des Kampfes zwischen Roland und Ferragut am Palacio de los Reyes in Estella, Navarra

Das berühmte Kapitell erzählt in drei Episoden das Aufeinandertreffen der beiden so ungleichen Hauptdarsteller im 8. Jahrhundert. In der linken Bildhälfte prescht der Riese im beinlangen Kettenhemd mit Rundschild auf seinem Pferd heran, während sich auf der gegenüberliegende Seite die Gegner zu Fuß gegenüber stehen. Der Maure, gut erkennbar an seiner krauslockigen Haarpracht, schwingt mit lautem Angriffsgebrüll seinen Streitkolben. Roland bringt sich gekonnt hinter seinem Schild in Deckung, während er mit einem platzierten Schwerthieb das Kettenhemd und die Brust des Feindes durchbohrt. Allerdings, wie wir bereits wissen, ohne den gewünschten Erfolg.

Zwischen den beiden dynamischen Szenen kommt es im Zentrum des Kapitells zum Showdown. Im alles entscheidenden Duell stürmen beide Kontrahenten auf ihren Streitrössern mit nach vorne gerichteten Lanzen aufeinander zu. Die Waffe Ferraguts trifft dabei mit voller Wucht auf das Schild Rolands und bricht in der Mitte entzwei. Der gewiefte Roland hingegen versenkt seine Lanze zielsicher im Bauchnabel des Sarazenen, der daraufhin tot zu Boden stürzt.

Der Kampf ist entschieden, ein weiterer Sieg der Christen gegen die gottlosen Barbaren aus dem Abendland gewonnen. Ein mittelalterliches Heldenepos mit Happy End. Aber heiligt der Zweck tatsächlich die Mittel? Haben wir es aus Sicht Rolands mit geschickter taktischer Kriegsführung zu tun oder mit gewissenlosem, unethischem Verhalten? Zweifelsohne spricht es für einen Helden, den körperlich übermächtigen Gegner mit Cleverness und Köpfchen zu bezwingen. Die Einfältigkeit oder Vertrauensseligkeit seines Feindes schamlos auszunutzen, ist hingegen wenig ritterlich. Vielleicht hätte der Schulterschluss zwischen den verfeindeten Lagern an diesem einen, schlussendlich kriegsentscheidenden Abend in friedlichem Einvernehmen gelingen können. Möglicherweise bin ich auch zu naiv.

Auf jeden Fall verdient das Kapitell meine uneingeschränkte künstlerische Bewunderung. Seine Geschichte hinterlässt allerdings einen schalen Beigeschmack.  

Das Phantom und der Höllenkessel von Estella

Der Säulenabschluss auf der rechten Seite des Königspalasts entführt mich in meine Kindheit. Ich mag damals acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Comic-Hefte standen gerade hoch im Kurs, und das monatliche Taschengeld schmolz für jede Neuausgabe von Walt Disney’s Lustige Taschenbücher oder das mit Gimmicks lockende Yps dahin. Doch das absolute Highlight unter den „Gut-gegen-Böse“-Geschichten war das Phantom. Ich erinnere mich noch genau an die großformatigen Hefte mit dem rauen Papier und den ungewöhnlichen schwarz-weiß-roten Radierungen. Es war der einzige Comic, bei dem zwischen mir und meinem jüngeren Bruder das stillschweigende Übereinkommen bestand, dass er ihn zuerst lesen durfte.

Die Titelfigur war ein einsamer, wortkarger Held, der im Dschungel für Recht und Ordnung sorgte. Er beschützte die Schwachen, rächte unschuldige Opfer und wurde nebenbei als Gottheit eines Pygmäenvolkes verehrt. Zu den Markenzeichen des Muskelpakets gehörten, neben der schwarzen Augenmaske und dem hautengen violettfarbenen Ganzkörperanzug, sein treuer Wolfshund Devil.
Obwohl inzwischen mehrere Jahrzehnte ins Land gezogen sind, erinnere mich noch genau an eines der unzähligen Abenteuer. Eine Gruppe im Dschungel notgelandeter Weißer ging einem kannibalischen Urwaldvolk in die Fänge, die das Frischfleisch in einem riesigen Kessel über der Feuerstelle gar kochen wollte. In letzter Minute kam Phantomas zu Hilfe und befreite die Unschuldigen.

Exakt diese Szene erlebe ich nun als déjà vue. Eine kleine, kniende Teufelsgestalt schürt kräftig das Feuer unter einem darüber hängenden Topf. Ihr bestialisches Grinsen verrät höchste Befriedigung. Unterstützung erhält sie von zwei Bestien mit Raubvogelköpfen und behaarten Körpern. Eine von ihnen rührt das menschliche Ragout genüsslich um, während die andere für die Zutaten sorgt und einen in Ungnade Gefallenen kopfüber in den Höllenschlund tunkt.

Kapitell am Palacio de los Reyes in Estella, Navarra

Ein Bilderbuch der Todsünden

Zum Sündenpfuhl auf diesem Kapitell gehört auch die weibliche Wollust. Verführerisch nährt sie eine Schlange an ihrem Busen, während um die Ecke ein weiteres Monster das infernalische Quartett vervollständigt. Mit zwei Geizkrägen im Schlepptau sorgt es für Nachschub im Eintopf der Laster und Missetaten. Stigmatisierend tragen die beiden nackten Figuren die Symbole ihrer Habgier, zwei prall gefüllt Geldsäcke, um den Hals. Doch damit der Todsünden nicht genug. In der nächsten Sequenz stehen die Hochmut und der Müßiggang am Pranger. Ersteres Laster verkörpert ein Harfe spielenden Esel, der sich als Virtuose dieses zartbesaiteten Instruments ausgibt. Aber auch der im Auditorium sitzende Löwe hat seine Fahrkarte in die Hölle schon gelöst. Mit offenem Maul und tumbem Blick lauscht er träge der Katzenmusik des Esels. Wahrlich ein Duo der Nichtsnutze.

Wäre auf dem Kapitell auch nur ein Quadratzentimeter unbehauene Fläche übrig, bestimmt hätten auch die restlichen Todsünden eine mahnende Widmung erfahren. Dennoch vermute ich, dass die vorhandene Bilderflut dem einfachen Volk im Mittelalter eine ausreichende Portion Gottesfürchtigkeit einflößte. Eine tägliche Indoktrination, die es bei ihren Besorgungsgängen durch die Hauptader des Geschäftsviertels kostenlos mit auf den Weg bekam. Auch ich habe die Botschaft des omnipräsenten, moralisch erhobenen Zeigefingers verstanden. Im Stillen verspreche ich allen möglichen Lastern abzuschwören und werde meinen guten Willen gleich mit dem Besuch der Kirche San Pedro de la Rúa unter Beweis stellen.

Allerdings kann ich nichts dafür, dass eine Absperrung auf Hälfte des steilen Treppenaufstiegs mir einen Strich durch meine redlichen Bemühungen macht. So bleibt mir nur der Blick aus der Ferne auf die wunderschöne Mudejar-Verzierung des Türbogens, die mich auffallend an das Portal der Santiago-Kirche in Puente la Reina als auch an dasjenige von Cirauqui erinnert. „Verfl… und eins aber auch!“, denke ich. Und schon sind die guten Vorsätze dahin.

Iglesia San Pedro de la Rua in Estella, Navarra

Wenn sich eine Türe schließt…

Enttäuscht suche ich im Tourismusbüro Trost. Und siehe da, wenn sich eine Türe schließt, geht sprichwörtlich eine andere auf. Und wie es hinter dieser anderen Tür weitergeht, erfahrt Ihr hier.


Gut zu wissen

Ganz in der Nähe

Für Schleckermäuler

Weitere Stationen auf dem Jakobsweg

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert