Puente la Reina
Navarra,  Spanische Erinnerungen

Puente la Reina – die berühmte Brücke am Jakobsweg


Pilgerdenkmal am Eingang in die navarresische StadtPuente la Reina / Gares

Am Liebsten hätte ich den ganzen Tag bis zum Einbruch der Dunkelheit unter den Arkaden der Kirche Santa María de Eunate verbummelt, um meine im Zickzack springenden Gedanken über die unzähligen Rätsel und Legenden mit den vorüberziehenden Wolken treiben zu lassen. Die kleine Kirche macht es einem wirklich nicht leicht, wieder zur Tagesordnung überzugehen. Nur widerstrebend folge ich dann doch dem lauter werdenden Ruf des nur wenige Kilometer entfernt liegenden Verkehrsknotenpunkts der Jakobspilger schlechthin.

In der Hauptstadt des fruchtbaren Valdizarbe, verschmelzen der Camino aragonés aus Somport und der französische Jakobsweg, der im navarresischen Roncesvalles seinen Anfang nimmt, zu einem einzigen, dem Camino real francés. „Y desde aquí todos los caminos a Santiago se hacen uno solo“ verkündet das Pilgermonument unübersehbar am Ortseingang von Puente la Reina/Gares. Und so strömen jedes Jahr weit über vierzig tausend Pilger in die Kleinstadt mit den zwei Namen.

Kleine navarresische Sprachenkunde

Apropos zwei Namen. In der Regel stellen Doppelnamen die freiwillige sprachliche Vereinigung von Personen, Städten oder Dingen unterschiedlichster Wurzeln zu einer neuen, gemeinsamen Zukunft dar. Im Falle der Ortsnamen in Navarra gibt es jedoch eine klare, gesetzliche Regelung. Zum Schutze der baskisch-sprachigen Minorität, die etwa acht Prozent der Bevölkerung Navarras ausmacht, wurde die Autonome Gemeinschaft in den 80er Jahren in drei linguistische Zonen eingeteilt: die baskisch-sprachige, die gemischt-sprachige und die nicht vaskofone Zone. Entsprechend dazu wurden die 272 Gemeinden in ihrer Namensgebung klassifiziert.

Es gibt die einfachen Städtenamen wie Viana oder Torres del Río, die zusammengesetzten (z. B. Luzaide/Valcarlos) als auch die doppelten Ortsnamen. Da Letztere denselben Stellenwert haben, dürfen sie je nach Lust und Laune parallel nebeneinander verwendet werden. Das kommt mir im Falle von Puente la Reina/Gares sehr entgegen. Ohne schlechtes Gewissen ignoriere ich das co-existente Gares, vermutlich abgeleitet vom baskischen „gari“ für Weizen. Bitte nicht falsch verstehen, das hat nichts mit mangelnder Wertschätzung einer linguistischen Minderheit zu tun.

Ich bin nur der Meinung, dass die Stadt am Jakobsweg in ihrem historischen Selbstverständnis untrennbar mit der Brücke der Königin verbunden ist. Insofern unterscheidet sich Puente la Reina von zahlreichen anderen historischen Orten entlang des Jakobsweges. Viele davon definieren sich über ihre religiösen Bauwerke und ihre Heiligen. Berechtigterweise, denn vor allem die Pilgerschaft im Mittelalter bedeutete Buße, Gebet und Vergebung. Im Falle von Puente la Reina bedeutet der Name jedoch ein perfektes Selbstmarketing für eines der bekanntesten und meist fotografierten Wahrzeichen des Caminos.

Die Brücke der Königin  oder „Don’t Pay The Ferryman“

Blättern wir ein wenig in den Annalen, um besser zu verstehen, wie eine einfache Brücke einen derartigen Bekanntheitsgrad erreichen konnte. Im 11. Jahrhundert finden sich die ersten dokumentierten Aufzeichnungen zur Existenz einer romanischen Brücke über den Río Arga. Der Bau wird, wie der Name schon sagt, einer Königin zugeschrieben. Ob die Initiative von Munia Mayor, der Ehefrau von König Sancho III. von Navarra oder von Estefanía, Gattin des Sohns und Thronerben vorgenannten Königs ausging, ist bis heute nicht eindeutig belegt. Unstrittig ist hingegen, dass die Königin mit ihrer Stiftung den Jakobsweg für die Pilger sicherer machte. Teure, risikoreiche Fährdienste („don’t pay the ferryman until he gets you to the other side“) als auch kilometerlange Umwege blieben den Wallfahrern zukünftig erspart. Dies sprach sich wie ein Lauffeuer herum, sodass sich die Pilgerströme zum Grab des Heiligen Jakobus fortan auf diesem Weg konsolidierten.

Es drängte sich also förmlich auf, die vorbeiziehende Kaufkraft in wirtschaftlichen Nutzen umzumünzen. Diese Chance erkannte Alfonso I., König von Aragón und Navarra. Mit der Zuerkennung des Marktrechts zu Beginn des 12. Jahrhunderts und der Erteilung von Steuerprivilegien förderte er die Ansiedlung fränkischer und jüdischer Händler, Handwerker und Kaufleute. So entwickelte sich am Ufer des Río Arga in kürzester Zeit ein gut florierender Handels- und Warenumschlagplatz.

Als besagter Alfonso I. in seiner 29. Schlacht gegen die Muselmanen (nicht umsonst war sein Beiname El Batallador, der „Kämpfer“) im Jahr 1134 einer tödlichen Verletzung erlag, hatte er sein Testament bereits gemacht. In Ermangelung eines Thronfolgers, teilte er sein Königreich und damit auch seine territorialen Besitztümer, unter dem Templer- und Johanniterorden auf. Dieser Entscheidung widersetzte sich sowohl der navarresische als auch der aragonische Adel. Beide Parteien krönten stattdessen ihren eigenen König, was unweigerlich die erneute Separation beider Teilkönigreiche bedeutete.

Drei sind Eine zu viel

In Navarra trat García Ramírez IV. el Restaurador noch im selben Jahr das Erbe seines Vorgängers an. Unerwarteterweise erfüllte der neue Regent den letzten Willen Alfonso I., und sprach die Siedlung Puente la Reina dem Templerorden zu. Jedoch waren Macht und Reichtum der Tempelritter dem Papst und anderen Königshäusern in Europa recht bald ein Dorn im Auge. Der Orden wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts per päpstlicher Bulle aufgelöst, enteignet und verfolgt. Die Besitztümer gingen an den Johanniterorden über.

Auf die Entwicklung der Pilgerhochburg hatte der Eigentümerwechsel keinen besonderen Einfluss. Der Río Arga und die Zeit plätscherten unisono in alle Ruhe weiter vor sich hin. Erst die Karlistenkriege, die sich mit Unterbrechungen von 1833 bis 1876 hinzogen, brachten Puente la Reina als Schauplatz zahlreicher, erbitterter kämpferischer Auseinandersetzungen wieder in die Schlagzeilen.

Danach kehrte wieder Ruhe ein. Mit Ausnahme der mehreren zehntausend Pilgern, die jährlich durch die gepflasterte Gassen ziehen. Für manchen Puentesino ein Fluch, für viele ein Segen. Denn ohne Pilger keine Brücke und ohne Brücke keine Stadt.

Und keine Stadt ohne Kirche.
In Puente la Reina gibt es derer gleich drei. Also habe ich die Qual der Wahl, denn drei Kirchen sind mir definitiv eine zu viel. Die erste Entscheidung wird mir wider Erwarten schnell abgenommen, denn kaum habe ich das Ortseingangsschild hinter mir gelassen, stolpere ich quasi direkt in die Iglesia del Crucifijo hinein.

Iglesia del Crucifijo in Puente la Reina

Das Außergewöhnliche des ältesten Gotteshauses am Platz sind die beiden Kirchenschiffe, eines im romanischen und das andere im gotischen Stil. Der romanische Part aus dem 12. Jahrhundert trägt die Handschrift der Tempelritter. Später fügten die Johanniter dem romanischen Bau einen gotischen Teil hinzu. So wurde aus der Templerkirche Santa María de las Huertas die heutige Crucifijo-Kirche.

Die Kirche des Gekreuzigten

In unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche errichteten die Johanniter ein Pilgerhospital als auch ein Kloster, das über einen überdachten Durchgang mit dem Gotteshaus verbunden ist. 1469 löste die Crucifijo-Bruderschaft die Johanniter als Hausherren ab. Sie erfüllten pflichtbewusst ihre Aufgabe bis zur staatlich angeordneten Enteignung im 19. Jahrhundert. Auf die Säkularisierung folgten die Karlistenkriege, in denen der Komplex als Schießpulver-Vorratskammer, Kriegslazarett, Kaserne und Gefängnis zweckentfremdet wurde. Nach Friedensschluss blieben Kirche und Nebengebäude verlassen zurück. Erst der Einzug der Ordensbrüder Padres Reparadores wirkte der Zerstörung und dem Verfall entgegen. Die Gemeinschaft der Priester vom heiligen Herzen Jesu übernahm 1919 unter Führung des Deutschen Wilhelm „Guillermo“ Zicke zügig die Restaurierung aller Gebäude. Noch heute lesen die Ordensbrüder jeden Tag die Messe in der Kirche des Gekreuzigten und heißen in der gegenüberliegenden Herberge die Jakobspilger gegen ein minimales Entgelt willkommen.

Meine Augen gewöhnen sich nur langsam an die Finsternis im Kircheninnern. Das wenige Licht, das durch das geöffnete Portal einfällt, reicht gerade einmal aus, mich zwischen den beiden schlichten Kirchenschiffen zu orientieren. Zum Glück weisen die großzügig über die Wände verteilten, roten Tatzenkreuze auf weißem Grund, wie Leitpunkte in der Dunkelheit, den Weg Richtung Chor. Dort hängt nämlich eine der außergewöhnlichsten Jesus-am-Kreuz-Darstellungen entlang des Camino.

hoelzernes Kruzifix im Chorraum der Iglesia del Crucifijo in Puente la Reina

Es waren deutsche Pilger, die um das Jahr 1325, das stattliche, hölzerne Kruzifix den ganzen Weg aus ihrer Heimat bis nach Puente la Reina brachten. Aus Dankbarkeit für die fürsorgliche Aufnahme und Verpflegung im Pilgerhospital, ließen sie ihre Handwerkskunst an Ort und Stelle zurück. Je länger ich vor dem Y-förmigen Kreuz stehe, an dem noch die blinden Asthöhlen des unbearbeiteten Baumstammes bzw. Astgabeln zu erkennen sind, desto mehr bin ich von der natürlichen Schlichtheit begeistert. Manchmal kann weniger wirklich mehr sein.

Gebaut für die Ewigkeit

Von der Crucifijo-Kirche geht es auf der Rúa Mayor direkt ins Stadtzentrum. Obwohl die Pilger-Saison noch nicht angefangen hat, ist in der Fußgängerzone des Puls des Lebens zu spüren. Es herrscht ein geschäftiges, frühmorgendliches Treiben zwischen den wappengeschmückten Patrizierhäusern mit den kunstvoll geschnitzten Dachsparren.

Jetzt, da es nur noch wenige Meter bis zur Hauptattraktion von Puente la Reina sind, meine ich sie vor mir zu sehen. Die endlosen Pilgerströme, die seit Jahrhunderten den Wehrturm durchqueren, der den Zugang zur berühmten Brücke bildet. Manche erschöpft und voller Selbstzweifel, andere euphorisch und zielstrebig. Vielleicht werde ich eines Tages ebenfalls unter ihnen sein?

Heute allerdings muss ein kurzer Probelauf über die Brückenlänge genügen. Wenn man den ersten Fuß in den Toreingang setzt und dem gelben Pfeil folgt, weiß man nicht, was einem am anderen Ende erwartet. Derart steil läuft die 110 Meter lange Brücke in der Mitte zu. Eine Symbolik, die den Lauf unseres Lebens nicht besser widerspiegeln könnte. 

gelber Hinweispfeil fuer den Jakobsweg auf der Bruecke von Puente la Reina

Nachdem ich meinen Testlauf beschwingten Schrittes erfolgreich bestanden habe, erliege ich, wie schon Tausende und Abertausende Touristen vor mir, der Versuchung, die sich im Wasser spiegelnde Brücke zu fotografieren. Nur schade, dass sich der Fluss Arga heute als bräunlich-trübes Gewässer präsentiert.

Von den ursprünglich sieben Brückenbögen, sind mittlerweile nur noch sechs zu sehen. Doch die Rundbogenpfeiler mit den spitz zulaufenden Wellenbrechern sorgen immer noch für absolute Standfestigkeit. Angesichts der bald tausendjährigen Historie der Traditionsbrücke, in der bisher jeder das gegenüberliegende Ufer trockenen Fußes erreicht hat, klingt eine Zeitungsmeldung aus dem Jahre geradezu 1982 wie Hohn. Ein fremdländisches Unternehmen wurde beauftragt, eine Metallkonstruktion über den Río Arga zu bauen. Die Industriefertigung erlebte nicht einmal ihr hundertjähriges Jubiläum, als sie mit lautem Getöse unter der Last eines LKW und PKWs in sich zusammenbrach. Zum Glück wurde niemand ernsthaft verletzt.

Wellenbrecher der Bruecke Puente la Reina

Die Legende von der Jungfrau und dem txori

Nur einmal im stadtgeschichtlichen Zeitablauf musste die Puente la Reina Federn lassen. Allerdings mit mutwilligem menschlichen Zutun. Bis ins 19. Jahrhundert hinein rahmten zwei Wehrtürme die alte Brücke ein, um den Personen- und Warenfluss zu kontrollieren. Ein drittes Tor in der Mitte des Übergangs war der Schutzpatronin, der Virgen de la Puy, vorbehalten.

Tagein- und tagaus wachte die kleine Statue der Jungfrau Maria bei Wind und Wetter über das Wohl der Pilger und Reisenden. Bald war sie von einer unansehnlichen Schmutz- und Staubschicht überzogen. Doch ganz offensichtlich hatte sie einen himmlischen Verehrer, der sie regelmäßig in neuem Glanz erstrahlen ließ.

Eine Legende berichtet nämlich, dass regelmäßig, wenn es um die Renaissance-Statue schlecht bestellt war, ein Vögelchen sich auf ihr niederließ es mit seinem Schnabel und Gefieder sorgsam reinigte. Die Einwohner fanden dieses Schauspiel dermaßen herzergreifend, dass sie das Erscheinen des txori (das baskische Wort für Vöglein) jedes Mal mit einem fröhlichen Glockengeläut gebührend feierten. Doch von einem Tag auf den anderen ließ sich der txori nie wieder blicken. Was war geschehen?

Während der Karlistenkriege rissen die durchziehenden Truppen alle drei Brückentürme ein, um die Passage für die leichte und schwere Artillerie auf der vier Meter breiten Brücke zu erleichtern. Die Statue der Virgen del Puy erhielt in der Pfarrkirche San Pedro eine neue Bleibe, aber der treue Gefährte der Jungfrau, der txori verschwand für immer.

Um die Erinnerung an den kleinen Piepmatz und die Legende um die Virgen de la Puy lebendig zu halten, setzten ihnen die Einheimischen mit der Verewigung auf dem Stadtwappen ein bleibendes Denkmal. 

Wappen der Stadt Puente la Reina in Navarra
© Jesús L. Otazu Ripa,
Heráldica Municipal Merindad de Pamplona

Nachhaltigkeit einmal anders

Da meine Fotos bestimmt keinen Schönheitspreis verdienen, will ich mir im Tourismusbüro neben dem Brückenzugang unbedingt noch eine klassisch-kitschige Makellos-Brücken-Postkarte kaufen. Die Grundmauern der palastähnlichen Casa del Vínculo stammen vermutlich aus der Epoche des Brückenbaus, doch sein heutiges Aussehen erhielt das Gebäude erst Ende des 17. Jahrhunderts. Über viele Generationen hinweg diente es den Bauern der Stadt und der näheren Gemarkung als gemeinschaftliche Kornkammer, bevor es zum Gefängnis umgestaltet wurde.

Die heute noch vorhandene Inschrift „Aquí se deposita la limosna para los presos de esta cárcel“ im Durchgang des Brückenturms forderte dazu auf, an dieser Stelle, ein Almosen für die Gefangenen zu hinterlegen. Ob die in Stein gemeißelte Bitte aus Nächstenliebe entstand, oder weil die Gemeinde keine Mittel zur Versorgung der Delinquenten besaß, weiß man heute nicht mehr zu sagen. Fakt ist jedoch, dass der Karzer bald wieder aufgegeben wurde und der herrschaftliche Bau bis zu seiner Renovierung im Jahre 2002 eine neue Bestimmung erhielt.

Zugang auf die romanische Bruecke Puente la Reina

Weniger bedrohliche und zweifelsfrei weniger lebendige „Insassen“ lösten die Straftäter ab. Es entstand ein Zwischenlager für Recyclingsärge samt Inhalt. In einfachen Holzsärgen bahrte die Gemeinde hier die mittellos Verstorbenen bis zur Beerdigung auf. Sobald diese auf dem Friedhof zur letzten Ruhe gebettet worden waren, brachten die Totengräber die leeren Särge zurück, um sie für den nächsten Einsatz bereitzustellen.

Unter einigen Schwierigkeiten ist es mir endlich gelungen, den gläsernen Eingang zum oficina de turismo zu öffnen. Neben der must-have-Kitschpostkarte stattet mich die freundliche, junge Mitarbeiterin mit reichlich Prospekt- und Infomaterial für den weiteren Weg aus. Mit Nachdruck legt sie mir den Besuch der drei Kirchen des Ortes ans Herz. Dann verabschiedet sie mich mit einem gut gemeinten buen camino . Erstaunt blicke ich draußen vor der Tür an mir hinab. Sehe ich wirklich schon wie eine Pilgerin aus?

Die Patchwork-Kirche des Heiligen Jakobus

Zurück geht es also erneut durch die Rúa Mayor. Damit habe ich auch schon die Entscheidung getroffen, welche der beiden verbliebenen Kirchen am Ort, ich noch meine Aufwartung mache. Die zwischen den Wohnhäusern eingeklemmte Patchwork-Kirche Iglesia de Santiago vereint die unterschiedlichsten Stilrichtungen miteinander. Das Portal und zwei Außenmauern sind aus romanischer Zeit, der hoch aufgeschossene Kirchturm ist im Renaissancestil erbaut, der Glockenaufsatz trägt Rokoko-Züge und der Innenraum ist spätgotisch gestaltet.

Auch wenn gerade die Fassade restauriert wird, kann ich zwischen den Schutzplanen einen flüchtigen Blick auf das um 1122 entstandene, mozarabische Portal werfen. Trotz ihres fortgeschrittenen Verwitterungsgrades lässt die Figurenvielfalt immer noch die Genialität des Steinmetz erahnen. Einen außergewöhnlich ungewöhnlichen Anblick bieten die schmalen, glatt geschliffenen Ziersäulen rechts und links neben dem Eingang. Jeder Schmuckpfeiler endet in einem menschlichen Kopf mit ganz unterschiedlichen Physiognomien und Charakterzügen. Selbstverständlich darf auch ein berühmtes Jakobsweg-Motiv nicht fehlen. Selbst wenn nur noch zwei Torsi links über dem Portal das Schwert gegeneinander führen, einer davon ist mit Sicherheit Roldán.

Im Kircheninneren werde ich unausweichlich von dem dominanten Hochaltar im Zentrum des Kirchenschiffes geblendet. Ein Himmelreich an Glanz und Gloria bis unter die Gewölbedecke. Goldener, gleißender, überladener Pomp lässt das Auge nicht zur Ruhe kommen. Ich weiß gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Mit Sicherheit ein künstlerisches Meisterwerk, aber definitiv nicht mein Geschmack.

Ein Loblied auf die spanische chocolate

Nach dieser Tour-de-Force des barocken Pomp steht mir der Sinn nach einem richtigen Herz- und Magenwärmer. Nur wenige Schritte von der Kirche entfernt werde ich auch schon fündig. Aus einer Bäckerei dringt ein verheißungsvoller Duft nach draußen, dem ich an einem kalten Vormittag einfach nicht widerstehen kann.

Deshalb gibt es an dieser Stelle eine Liebeserklärung für die leckerste aller leckeren spanischen, flüssig-süßen Verführungen: die chocolate. Sie ist mehr als nur eine Tasse angefüllt mit einem heißen, kakaohaltigen Getränk. Von sämiger, fast Puddingartiger Konsistenz steht jeder Löffel dieser spanischen Institution für reine Gaumenfreude. Kein Vergleich mit den wässrigen Instantgetränken, die man in Deutschland serviert bekommt. Hier, in Spanien, ist die heiße Schokolade mit ihrer gefühlten vierstelligen Kalorienzahl ein Statement für Genuss und Gemütlichkeit.

Während mich die chocolate caliente in den siebten Himmel katapultiert hat, haben sich auf selbigem dunkle, regenschwere Wolkenmassen zu einer nassen Aussprache zusammengefunden.

Es wird Zeit, dass ich aus Puente la Reina aufbreche. Wie zur symbolischen Bestätigung, meine ich die 40 Glockenschläge zu hören, die früher bei Einbruch der Nacht geläutet wurden, um den Pilgern das Schließen der Stadttore anzuzeigen. Ein letzter Blick zurück gilt der Crucifijo-Kirche, dem Ausgangspunkt meines Rundgangs. Dabei entdecke ich auf dem Dach des Glockenturms zwei Störche auf ihrem riesigen Nest. Wenn dies mal kein Zeichen für mich ist, weiterzuziehen?

Storch auf dem Kirchturm der Iglesia del Crucifijo in Puente la Reina

Puente la Reina (Comunidad Foral de Navarra), Februar 2011


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