Roncesvalles – Jakobsweg, Rolandslied und jede Menge Legenden
Dass die Spanier im Geschichtenerzählen besonders gut, im Geschichten zurechtbiegen noch besser und in der Zufügung fantasievoller Skurrilitäten absolut meisterlich sind, ist mir auf meiner Reise nicht verborgen geblieben. Aber an einem ganz besonderen Ort, am südlichen Fuße der Pyrenäen kumuliert sich dieses Talent zu einem unerschöpflichen Füllhorn an Legenden, Anekdoten, Fragwürdigkeiten, Übertreibungen und Absurditäten.
Die Rede ist von Roncesvalles, Ausgangspunkt zweier Superlative. Die mit Sicherheit, nach Santiago de Compostela, bekannteste Ortschaft am Jakobsweg trifft hier auf das wohl berühmteste europäische Heldenepos, das Rolandslied.
Auf den ersten Blick sieht man Roncesvalles keineswegs an, was in ihm steckt. Eingebettet in eine ländliche Idylle mit Bergpanorama zähle ich vielleicht ein Dutzend Gebäude, eine Durchgangsstraße und sage und schreibe vier ausgeschilderte Parkflächen. Das sagt schon alles. Roncesvalles ist kein Ort zum sesshaft werden. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Allen voran die ab der Schneeschmelze einfallenden Pilgerscharen, zu denen sich in der Karwoche die ersten Touristen gesellen. Im späten Frühjahr stoßen die Wanderer hinzu, und sobald sich die erste stabile Schönwetterfront ankündigt, trudeln die Wochenendausflügler ein. Manchmal bis zu 50.000 im Jahr.
Ich habe Glück. Zwar ist heute Karsamstag und die Gaststätten sind voll, dafür ist aber der Sammelpunkt für die geführte Tour durch Roncesvalles beinahe leer gefegt. Nur eine Handvoll Wissbegieriger hat sich vor dem Klosterkomplex eingefunden, um die geistigen Genüsse den leiblichen voranzustellen. Der zugeteilte Führer ist routiniert, sprachgewandt und verfügt über einen guten Schuss Sarkasmus. Bevor wir uns in Marsch setzen und lernen, dass man in Roncesvalles keinen Schritt tun kann, ohne über historisch verbürgte Sehenswürdigkeiten einerseits und fragwürdige Schauplätze andererseits zu stolpern, gibt es zur Einstimmung eine Geschichtsstunde im Schnelldurchlauf.
Die Schlacht von Roncesvalles und Legende Nummer 1
Unsere Zeitreise startet am 15. August 778, dem Jahrestag der Schlacht von Roncesvalles, an dem die Nachhut Karl des Großen in einen Hinterhalt geriet und barbarisch niedergemetzelt wurde. Während unser Führer mit wenigen Worten ein plastisches Schlachtengemälde der Ereignisse skizziert, wächst in mir die Überzeugung, dass Roncesvalles aufgrund der Lage im Tal niemals der Schauplatz des Heldenlieds gewesen sein kann. Der Ort des Geschehens bleibt in meine Augen die Passhöhe von Ibañeta. Spontan zücke ich meinen Notizblock und beschließe Buch zu führen über die wahren und weniger wahren Geschichten, die mir heute über den Weg laufen werden. Die Nummer eins ist somit vergeben.
Kurzerhand springen wir 350 Jahre weiter, als das erste Pilgerhospiz auf dem für seine Wetterumschwünge berüchtigten Ibañeta-Pass entstand. Wenig später wurde es nach Roncesvalles verlegt, und König García Ramírez ordnete die Gründung eines Augustinerklosters an, das sich vollumfänglich um das Wohl der Pilger kümmerte. Bis ins 18. Jahrhundert hinein erhielt jeder Pilger drei Tage lang freie Unterkunft und Verpflegung. Diese Generosität war den spendenfreudigen Herrschern Navarras zu verdanken. Ganz offensichtlich hatten sie eine besondere Schwäche für das Tal der Dornensträucher, so die baskische Übersetzung von Roncesvalles.
Weitere einhundert Jahre später sah alles ganz anders aus. Das Land war gespalten, verstrickt in einen Erbfolgekrieg nach dem anderen. Ausländische Interventionen und Besitzansprüche brachten Elend, Krieg und Leid in die Pyrenäenregion. Die Pilger blieben aus, die staatliche Enteignungswelle der Kirchengüter machte auch vor Roncesvalles nicht halt. Die einstige Vorzeigepilgerstation war zur wirtschaftlichen Handlungsunfähigkeit verurteilt. Santa María de Roncesvalles lag in den letzten Zügen. Es musste etwas geschehen.
Man besann sich des Sprichworts „neue Besen kehren gut“ und tauschte die Regularkanoniker gegen Säkularkanoniker. Die weltlichen Chorherren hauchten den seelsorgerischen Aktivitäten als auch den liturgischen Aufgaben wieder neues Leben ein, was dem Stiftskapitel gut bekommt.
Das Museum der grenzenlosen Imagination
Nach Abhandlung der geschichtlichen Fakten setzt sich unser Tross in Richtung Museumsgebäude in Bewegung, um zusammen mit unserem Führer bereitwillig in die Welt des grenzenlosen Staunens einzutauchen. Ob sich in dem bis unter das Dach des Kollegiats angehäuften Legendendepot auch noch das ein oder andere Körnchen Wahrheit findet, wird sich zeigen.
Um meine persönlichen Favoriten unter den Ausstellungsstücken ohne Umschweife in Augenschein zu nehmen, überlasse ich die brav hinter dem Guide hertrabende Herde ganz sich selbst. Heute bin ich ausnahmsweise das schwarze Schaf und schere aus der Reihe aus. Aber der Anlass rechtfertigt meinen Ungehorsam. Ansonsten bin ich im Handumdrehen durch die Unmengen der gold- und silbern glitzernden Kirchenschätze übersättigt und habe mir den Appetit verdorben, bevor die Hauptattraktion serviert wird.
Das Schachbrett Karl des Großen und Legende Nummer 2
Also steuere ich schnurstracks auf die Vitrine mit dem berühmten Schachbrett Karl des Großen zu. Selbstverständlich weiß ich, dass dies nicht das Brett sein kann, an dem sich Carlomagno mit dem Verräter Ganelón die Zeit vertrieb, als der ohrenbetäubende Hilferuf von Rolands Olifanten ertönte.
Nicht einmal theoretisch, da es nicht einmal ein Schachspiel ist, weil es nämlich anstelle der 64 nur 63 Felder besitzt. Aber das stört mich nicht. Ich will ja nicht pedantisch sein. Selbst die Hinweiskarte hinter dem Sicherheitsglas entzaubert das Brett für mich keineswegs, selbst wenn diese es als Reliquienschrein ausweist. Sogar als einen besonders wertvollen. Materiell und ideell, denn virtuose Goldschmiedearbeiten rahmen die Einlagen aus Bergkristall und Emaille ein, hinter denen sich die wahren Schätze verbergen: eine Haarsträhne Maria Magdalenas, ein Holzsplitter des Kreuzes Jesu, ein Brotkrümel vom letzten Abendmahl, ein Dorn aus der Krone Jesu, eine Träne des Josef von Arimathäa, ein Blutstropfen Jesu. Also alles, was den gläubigen Christen lieb und heilig ist.
„Abgefahren“, denke ich, auch wenn dieser Reliquienkult heidnisch und geschmacklos anmutet. Vermutlich sahen dies die Regenten im 14. Jahrhundert anders, sonst hätte der französische König Karl dieses Kunstwerk nicht einem anderen Karl, seines Zeichens König von Navarra, zum Geschenk gemacht. Dennoch ändert auch diese Tatsache nichts daran, dass das Ausstellungsstück für mich, wie für Tausende von Besuchern vor als auch nach mir, schlicht und einfach das Schachspiel Carlomagnos ist.
Noch ein Geschichtsirrtum und Legende Nummer 3
Unweit des Schachbretts versucht man mich der nächsten Illusion zu berauben. Ich erwarte hier, eines der Wahrzeichen des Wappens von Navarra zu sehen, den prachtvollen Smaragd des Almohadenfürsten Miramolin. König Sancho VII. riss den Edelstein im Kampfgetümmel der Schlacht von Las Navas de Tolosa 1212 vom Turban seines Widersachers. Doch nun will man mich glauben machen, dass der prunkvolle, grün schimmernde Juwel hinter dem Sicherheitsglas von jenseits des Atlantiks, aus Kolumbien stammt. Wie man sich doch irren kann. Und damit meine ich nicht mich.
Zum oberen Stockwerk hat die breite Öffentlichkeit keinen Zutritt. Zu wertvoll ist die 15.000 Bände umfassende Bibliothek, als dass Normalsterblichen auch nur ein kurzer Blick darauf gewährt werden würde. Entweder hat die Museumsleitung Angst, dass man die dicken Wälzer mal eben unbemerkt in der Handtasche verschwinden lässt, oder dass sich die Buchstaben und Notenschlüssel aus den philosophischen, religiösen und musikalischen Werken bei der erst besten Gelegenheit auf und davon machen.
Die rekordverdächtige Glocke und Legende Nummer 4
Als wir aus dem Museum wieder in die Freiheit entlassen werden, und das meine ich so, wie ich es sage, grollt Petrus mit uns. Dunkle, hochschwangere Wolken haben sich über Roncesvalles festgesetzt. Sturzbäche von Wassermassen entladen sich ohne Unterlass über unseren Köpfen. Leider zeigt unser Führer keine Nachsicht. Er treibt zur Eile an. Der Besuchszeitplan muss strikt eingehalten werden.
Schnell zeigt sich, wer über das richtige Schuhwerk und eine gute sportliche Verfassung verfügt. Alle anderen erreichen den Schutz bietenden Toreingang vergleichbar mit einer Fahrt im offenen Cabrio durch die Waschanlage. Doch schon setzt sich auf Kommando die bunt zusammen gewürfelte Gruppe vom Haupthaus des Klosters erneut im Laufschritt in Bewegung. Ich weiß nicht, ob ich gerade von oben oder unten mehr durchnässt werde, nur dass ich schnell ins Warme kommen möchte.
Doch mit diesem Komfort kann die kleine Santiago-Kapelle an der Hauptstraße nicht aufwarten. Ich muss mich deshalb sehr beherrschen, um nicht laut mit den Zähnen zu klappern. Meine ganze Konzentration erschöpft sich in sinnlosen mentalen Aufwärmübungen, weshalb ich leider dem Erklärungsstakkato des Führers nur halbherzig zu folgen vermag.
Immerhin ist mir nicht entgangen, dass das Pilgerkirchlein im gotischen Stil des 13. Jahrhunderts gebaut wurde, an der Stirnseite eine Nachbildung des Heiligen Jakobus nach dem Vorbild der Figur im gleichnamigen Gotteshaus in Puente la Reina bewundert werden kann, und die Glocke im Glockengiebel von der einstigen Hospiz-Kapelle auf dem Ibañeta-Pass stammt.
Darüber hinaus, und jetzt folgt eine bedeutungsschwere Pause, die mich aufhorchen lässt, darüber hinaus ist selbst dieses winzige Gebäude in Roncesvalles mit einem Guinness-Buch verdächtigen Rekord gesegnet. Die Roncesvaller brüsten sich nämlich damit, dass besagte Glocke europaweit am häufigsten geläutet worden sei und dadurch die meisten Menschen vor dem sicheren Tod bewahrt habe.
Die Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Kapelle des Heiligen Geistes
Ein Blick auf die Uhr zeigt dem Führer, es wird Zeit sein Rudel zusammen- und zur nächsten Sehenswürdigkeit weiterzutreiben. Die nur einen Katzensprung entfernt liegenden Kapelle des Heiligen Geistes wartet gleich mit zwei Superlativen auf. Es ist das nachweislich älteste Gebäude Roncesvalles und gleichzeitig die ältestes Begräbniskapelle Navarras. Älter noch als Santa María de Eunate und Torres del Río, auf die ich im Laufe meiner Jakobsweg-Expedition noch stoßen werde.
Sie entstand aller Wahrscheinlichkeit nach zu Beginn des 12. Jahrhunderts auf Geheiß Königs Alfonso, dessen Beiname „der Streitbare“ seine Gegenspieler beinahe von allein in die Knie zwang. Der nach drei Seiten hin offene und zugige Arkadengang gesellte sich erst nach einem halben Jahrtausend hinzu, als die Stiftsherren sehr viel Wert darauf legten, im Jenseits eine ausreichende Distanz zum gewöhnlichen Volk zu schaffen, welches in der romanischen Krypta unter dem Kreuzgang beerdigt wurde. Vermutlich fühlten sich die Kanoniker eine Etage höher dem Himmel näher, mit sicherer Distanz zur diabolischen Unterwelt.
Unser Führer geleitet uns gemessenen Schrittes entgegen dem Uhrzeigersinn durch den Bogengang. Nicht, dass es dort Spektakuläres zu bewundern gäbe, sondern um die Spannung bis zum Abschluss der Besichtigung hochzuhalten und eine weitere Legende zum Besten zu geben.
Das Silo von Karl dem Großen und Legende Nummer 5
Im Volksmund ist die Capilla del Espíritu Santo auch als Silo de Carlomagno bekannt. Ein Silo? Ein Speicherraum für Schüttgüter, der Karl dem Großen gehört haben soll? Unmöglich, ich muss mich verhört haben. Aber nein, immer wieder fällt das Wort silo und Roldán. Und ich beginne zu verstehen.
In der Begräbniskapelle soll Karl der Große die verstorbenen Überreste der Helden der Schlacht von Roncesvalles zur ewigen Ruhe gebettet haben. Zur Beweisführung zieht man gerne anthropologische Untersuchungen heran, die zahlreiche in der Gruft gefundene Skelette als männlicher Genese im Alter zwischen 18 und 35 Jahren identifizierte. Dass diese Knochenreste allerdings aus dem 10. Jahrhundert stammen, und es sich somit unmöglich um diejenige Roldáns und der Pairs handeln kann, wird nur zu gerne verschwiegen. Und so gehe auch ich großzügig über diese minimale Zeitdifferenz hinweg, zumal schon die nächste unglaubliche Geschichte nicht lange auf sich warten lässt.
Rote Rosen für die Gläubigen und Legende Nummer 6
Als Carlomagno endlich das Schlachtfeld erreichte, war der Kampf bereits verloren. Der hinterhältige Gegner befand sich auf der Flucht und die Erde war dunkelrot getränkt vom Blut der bis zur Unkenntlichkeit zerstückelten, gemarterten und blutüberströmten Leichen. Nackten Leichen, wohlgemerkt, die es unmöglich machten, Freund und Feind auseinanderzuhalten.
Wie sollte der König seine treuen Ritter zur letzten Ruhe betten, wenn er nicht in der Lage war, die Guten von den Bösen zu unterscheiden? Er musste unbedingt für das Seelenheil seiner Getreuen sorgen. Es wäre unverzeihbar gewesen, hätte er seine christlichen Streiter in einem Grab mit den Ungläubigen beerdigt. In vollkommener Verzweiflung flehte er Gott an, ihm ein Zeichen zu geben. Und das Wunder geschah.
Als sich Karl der Große am nächsten Morgen umsah, war er zu Tränen gerührt. Gott hatte sein Gebet erhört. Aus den Körpern der toten Paladine waren über Nacht Rosen gesprossen. Die Nachhut Karl des Großen konnte nun von den Feinden auseinandergehalten und mit allen Ehren bestattet werden.
Der Höhepunkt des Makabren
Wenn ich richtig gezählt habe, ist das halbe Dutzend an wundersamen Schilderungen bereits voll, aber die Führung noch lange nicht zu Ende. Inzwischen sind wir auf der Nordseite der Kapelle, vor der Öffnung zur Krypta angelangt. Noch gerührt von dieser herzzerreißenden Episode, drücke ich verstohlen eine klitzekleine Träne weg, als mir vor ungläubigem Staunen die Kinnlade bis zu den Fußsohlen herunterfällt. Unser Führer ist einen Schritt zur Seite getreten und hat die Sicht auf die Kryptaöffnung frei gegeben.
Schamlos ausgeleuchtet, stehe ich dem makabersten Anblick gegenüber, den man sich nur vorstellen kann. Der einfache, schmutzig braune Lehmboden der Grube ist mit menschlichen Skelettresten übersät. Kalkweiße Schädel mit leeren Augenhöhlen starren mir entgegen. Zahnlose Oberkiefer sind auf der Suche nach ihrem unteren Pendant. Lange Röhrenknochen bilden zusammen mit achtlos zerstreuten Rippenbögen und winzigsten Knöchelchen einen unvorstellbaren Eintopf an Gebeinen. Das Sahnehäubchen des schaurigen Szenarios ist ein quer über den Skelettteilen abgelegter Holzsarg. Von Pietät keine Spur. Ein Ossarium, das der Pairs unwürdig ist; das jedem Toten unwürdig ist.
Und so zerplatzt mein bemühter Glaube an die Rosen-Legende wie eine Seifenblase. Ich bin enttäuscht und wütend über diesen achtlosen Umgang mit den namenlosen Verstorbenen. Auch wenn die Begräbniskapelle ursprünglich „nur“ für die vorbeiziehenden, anonymen Pilger erbaut wurde, verdienten sie mindestens denselben Respekt wie die im Kreuzgang ruhenden Kirchenmänner.
Mit gemischten Gefühlen trotte ich der Gruppe Richtung Ausgang hinterher. Der Heilige Geist hat diese Kapelle bestimmt schon vor langer Zeit verlassen. Vielleicht wartet er auf ein Zeichen des in Stein gehauenen Wächters am linken Stützpfeiler des Oberbaus. Genauestens observiert hinter einem auffälligen, mit den Insignien von Winkelmaß und Meißel verzierten Schmuckstein, ein gut verstecktes, menschliches Antlitz alle Geschehnisse in seinem Gesichtsfeld. Man kann sicher sein, dass dem als Steinmetz getarnten Kapuzenmann nichts entgeht. Mich fröstelt noch mehr.
Ein Kreuzgang als Feuchtbiotop
An dieser Stelle endet die offizielle Führung, aber mein Notizbuch ist noch lange nicht voll. Ich bin mir sicher, dass es in Roncesvalles noch mehr zu entdecken gibt. Und siehe da, am Kassenhäuschen des Hauptgebäudes vorbei, stolpere ich direkt hinein in ein rechteckig angelegtes Feuchtbiotop, den Kreuzgang der Stiftskirche.
Jeder Quadratzentimeter des Arkadenganges, der Spitzbögen, der zum Teil mit Sarkophagen ausgefüllten Nischen und vor allem des kunstvoll angelegten Pflasterbelages ist von einer kräftig grün schimmernden Moosschicht überzogen. Die Feuchtigkeit hat hier alles fest im Griff. Seit Jahrhunderten, für Jahrhunderte. Daran wird auch die globale Erderwärmung nichts ändern und noch weniger die beiden kopflosen, steinernen Unbekannten, die die Besucher der Kapelle des Heiligen Augustinus sicherlich herzlich willkommen heißen würden, wenn sie es nur könnten. So bleibt man sich einander fremd.
Sancho der Starke
Das wärmende Lichtspiel der Buntglas- und des Rosettenfensters lockt mich ins Innere der Kapelle. Seit 1912 hält hier Sancho VII. el Fuerte, König von Navarra, seine Audienz ad infinitum. Endlich hat er die Ruhe gefunden, nach der er sich während seiner 40-jährigen Regierungszeit so sehr gesehnt hatte.
Immer wieder aufflammende Territorialkämpfe mit den streitlustigen Nachbarn Kastilien und Aragón machten ihm ein Leben lang zu schaffen. Erbarmungslos von den machthungrigen Rivalen in die Zange genommen, hatten seine Verteidigungsbemühungen kaum Aussicht auf Erfolg. Auf heimischem Boden ließen sich folglich keine Meriten verdienen. Das Blatt wendete sich für Sancho, den Starken, als die von spanischen Oberhäuptern regierten Provinzen ihre Kräfte gegen den gemeinsamen Feind der Christenheit, nämlich die Mauren bündelten, anstatt sich gegenseitig die Ländereien streitig zu machen. Und so stieg Navarras Herrscher weit entfernt von seiner Heimat, im andalusischen Las Navas de Tolosa, endlich zum lang herbeigesehnten, siegreichen Helden auf.
Die Schlacht von Las Navas de Tolosa sollte als Wendepunkt der Reconquista, der Rückeroberung Spaniens, in die Geschichtsbücher eingehen. Eine Schlacht, die tatsächlich stattfand, die aber in der Überlieferung einen Webteppich aus einer Spule Wahrheit, zwei Garnrollen Übertreibung und drei Konen Wunschdenken hervorbrachte. Zur Spule Wahrheit zählt auf jeden Fall, dass die Mauren derart vernichtend geschlagen wurden, dass nach über 400 Jahren Herrschaft ihre Tage auf der iberischen Halbinsel gezählt waren. Zur Wahrheit zählt auch, dass Sancho el Fuerte und seinen Mannen eine kriegsentscheidende Rolle im Kampf gegen den Kalifen der Almohaden, Mohammed al Nasir, genannt Miramolin, zukam.
Die Ketten Navarras und Legende Nummer 7
Damit verlassen wir aber auch schon das gesicherte historische Terrain und stürzen uns direkt ins Schlachtengetümmel. Allen voran Sancho VII., durch und durch Kämpfer und Charismatiker. Ein emblematisches Erscheinungsbild, respekteinflößend, unerschrocken und gebieterisch zwingt er den Feind in die Knie. Auf seinem schneeweißen Streitross, das Haupt erhaben und im sicheren Gottvertrauen gen Himmel gereckt, fegt er mit seinen tapferen Gefolgsleuten wie eine Feuerwalze über die flüchtenden Mauren hinweg. So stellt zumindest das monumentale Glasfenster in der Kapelle das Geschehen dar. Und weil es so überzeugend wirkt, will ich mich auch nicht mit kleinlichen Korrekturen der historischen Wirklichkeit aufhalten.
Die Schlacht ist noch nicht zu Ende und es wird Zeit, die Roncesvaller Legendensammlung zu vervollständigen. In der nächsten Szene, die man sich selbst ausmalen muss, prescht der Monarch zwischen die Menschenkette, die der Almohadenfürst als lebendes Schutzschild um sein Zelt herum postiert hat. Mit jeweils einem Schwertschlag durchtrennt der christliche Heerführer die Ketten, mit denen die Sklaven an den Beinen zusammengebunden sind, um nicht fliehen zu können. Er stürmt die Unterkunft Miramolins und reißt dem Mauren den berühmten Smaragd von seinem Turban. Von der Existenz der Eisenketten, die seit dieser Schlacht das Wappen von Navarra zieren, kann ich mich persönlich überzeugen. Sie sind nämlich, formvollendet auf einem roten Kissen im abgesperrten Altarbereich der Kapelle drapiert.
Vom Starken über den Eingeschlossenen zum Verschütteten
Gegen Ende seiner Herrschaft wurde es still um den Helden von Las Navas de Tolosa. Gezeichnet von einem schmerzhaften Leiden, zog er sich die letzten Jahre freiwillig in seine Burg nach Tudela zurück. Aus dem einstmals starken Herrscher wurde Sancho el Encerrado, der Eingeschlossene. Bevor er 1234 starb, wünschte er sich nichts sehnlicher, als in der Kirche zu Grabe getragen zu werden, die er einst gegründet hatte und mit der er sich immer auf engste verbunden fühlte, die Colegiata Santa María de Roncesvalles.
Der Lebensweg Sancho VII. war von Hindernissen geprägt. Warum sollte es ihm im Jenseits anders ergehen?
Zunächst verweigerten die Tudelaner die Herausgabe des Dahingeschiedenen. Tudela hatte endlich einen König, wenn auch einen Toten. Aber immerhin. Nur der Druck des nachfolgenden Herrschers zusammen mit dem Erzbischof von Pamplona sorgten dafür, dass der letzte Wille Sancho des Starken respektiert wurde. Die Überreste wurden in die Stiftskirche von Roncesvalles überführt und zusammen mit seiner Frau Clemencia fand er lange Zeit seine Ruhestätte im Mittelschiff.
1622 war damit Schluss. Aus unerfindlichen Gründen verlegte man den Sarkophag der Beiden in eine Seitenwand. Und mit „verlegte“ ist „verlegte“ gemeint. Bald konnte sich nämlich niemand mehr erinnern, wohin genau denn die Überreste der Monarchen umgebettet wurden. Eine unverzeihliche Nachlässigkeit, die man über viele Jahre gekonnt vertuschte. Erst 300 Jahre später fanden sich auf wundersame Weise in den Dokumenten der Stiftsbibliothek Aufzeichnungen über die genaue Lokalisation des Grabes. Schnell machte man sich an die Bergung des verschollenen Königspaares, doch einzig die Grabplatte fand sich wieder. Die Knochen schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Fieberhaftes Graben brachte zu guter Letzt doch noch den erhofften Erfolg. So blieb dem navarresischen Souverän der tiefe Fall in eine immerwährende Anonymität erspart.
Und schlussendlich ein wahrer Kreuzritter
Als neue Grabstätte wählten die Kollegiatsherren den ehemaligen Kapitelsaal des Kreuzganges. Den Einweihungstag der königlichen Kapelle legte man auf den geschichtsträchtigen 700. Jahrestag der Schlacht von Las Navas de Tolosa fest. Ein geschicktes Ablenkungsmanöver, um im Glanz der außenpolitischen Ruhmestat aus dem Jahr 1212, die Schlamperei im Umgang mit den königlichen Gebeinen unter den Tisch zu kehren. Eine politische Praktik, die mindestens eine so lange Tradition hat, wie der Grünspan im Kreuzgang.
Nun stehe ich hier vor dem hünenhaften Mausoleum mit der Original-Grabplatte aus dem 13. Jahrhundert, die die lebensgroße Figur des Monarchen ziert. Majestätische 2,23 m groß soll er gewesen sein. Das brachte eine Analyse der Länge seines Oberschenkelknochens ans Tageslicht. Doch nicht nur seine Größe, sondern auch seine Haltung hebt ihn aus den vielen Grabskulpturen spanischer Regenten hervor. Eine Hand auf seinem Herzen, die andere am Schwertknauf lebte dieser Souverän seine Souveränität bis in den Tod hinein. Kein biederes Händefalten, keine hilflos erstarrte Haltung, sondern Leidenschaft und Impulsivität. Die Beine in einer fließenden Bewegung übereinandergeschlagen. Eine Auszeichnung, die nur denjenigen vorbehalten war, die zu den wahren Kreuzrittern zählten.
Der Hirsch und die Heilige Jungfrau und Legende Nummer 8
Das bekannteste Bauwerk in Roncesvalles, die Stiftskirche Colegiata Santa María, muss ich ebenfalls auf eigene Faust erkunden. Aus der Vogelperspektive betrachtet, ähnelt der Gebäudekomplex einer gut instand gehaltenen Fabrikanlage. Schuld daran ist das unschöne, aber markante Bleidach. Es verhilft den erdrückenden Schneemassen zur notwendigen Gleitfähigkeit, damit diese besser dem natürlichen Weg der Erdanziehungskraft folgen. Umso überraschter bin ich, dass sich unter dem abweisenden Äußeren, ein derart wunderschönes Exemplar französisch-gotischer Kirchenbaukunst aus dem 13. Jahrhundert verbirgt.
Mehrere Brände und die schwere Last des sich auftürmenden Schnees machten im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Restaurierungsarbeiten notwendig. Von den zweifelhaften Ambitionen, die Kirche mit barocken Stilmitteln zu modernisieren, blieben glücklicherweise der fünfeckige Altarraum und das Hauptschiff verschont. Ich hätte es den Verantwortlichen nie verziehen, wenn sie das ästhetische gotische Schmuckstück zu einem schwülstigen Kitschobjekt verunglimpft hätten. Als willkommene Modernisierungsmaßnahme begrüße ich hingegen den Einbau einer Fußbodenheizung, ein Luxus sondergleichen.
Der Zugang zur Krypta mit original erhaltenen dekorativen Malereien an den Gewölbepfeilern, ist leider gesperrt. Folglich muss ich meine ganze Aufmerksamkeit den überirdischen Kirchenschätzen widmen, unter denen die versilberte Zedernholzstatue der Santa María von Roncesvalles besonders hervorsticht.
Und, wie könnte es anders sein, hat auch sie ihre ganz eigene Geschichte. Die lange Zeit als verschollen geglaubte Figur verdankt ihre Wiederentdeckung der Aufmerksamkeit eines Schäfers, der in den Wäldern der Pyrenäen unterwegs war. Eines Tages beobachtete er im Dickicht einen Hirsch, in dessen prächtigem Geweih zwei Sterne funkelten. Andächtig folgte er dem zutraulichen Waldbewohner, bis dieser ihn zu der gotischen Silberschmiedearbeit führte. Heute hat die Heilige Jungfrau ihren sicheren Platz über dem Hauptaltar gefunden.
Schwere Kost
Mental erschlagen, verlasse ich Roncesvalles. Unkontrolliert wie ein aggressiver Hornissenschwarm und auf der vergeblichen Suche nach einem Schlupfloch ins Freie, schwirren die unzähligen Namen, Jahreszahlen, historischen Fakten und skurrilen Anekdoten in meinem Kopf umher. Es wird Zeit, mich auf den Weg zu machen. Bald bricht die Dunkelheit herein und ich habe noch eine unwegsame Strecke vor mir. Adiós Roncesvalles, adieu Roncesvaux. Der König ist tot! Es leben die Legenden!
Adresse
Kloster Roncesvalles
Real Colegiata de Santa María de Roncesvalles
N-135
ES-31650 Roncesvalles
Tourismusbüro – Antiguo Molino
Das monotone Knattern des Mühlrades ist heute nicht mehr zu vernehmen, denn in der restaurierten Mühle aus dem 18. Jahrhundert dominiert neuerdings der Dienstleistungsgedanke. Wo einst die Landbevölkerung des weitläufigen Umkreises mit der ihr eigenen Gelassenheit ihr Mehl mahlen ließ, schieben und drängen sich in dem kleinen Raum des Tourismusbüros heute Pilger und Ausflügler gleichermaßen im Kampf um die ausliegenden Prospekte oder die standardisierten Auskünfte.
Javeriades – Wallfahrt
Im Wonnemonat Mai überlässt der Heilige Jakobus die Ortschaft Roncesvalles der am meisten verehrten Jungfrauenfigur der spanischsprachigen Pyrenäen. An fünf aufeinanderfolgenden Wochenenden schwingt nämlich die bezaubernde Marienstatue in der Kollegiatskirche das Zepter. Jeden Sonntag empfängt und segnet sie die Wallfahrer, die sich in einer streng festgelegten Abfolge aus den umliegenden Gemeinden, Tälern und sogar von Pamplona aus in Marsch setzen. Den Anfang machen am ersten Sonntag im Mai die Bewohner des Aezkoa Tals, die entweder barfuß im Büßerhemd und mit Rosenkranz umgürtet oder in schwarzer Kutte mit Holzkreuz auf dem Rücken der Virgen María de Roncesvalles ihre Aufwartung machen. Ein Anblick, der für jeden Reisenden aus nördlicheren Breitengraden eine ungewöhnliche Anziehungskraft ausüben dürfte.
In der Nähe
La Cruz de Peregrinos
Während auf der einen Straßenseite ein großes Hinweisschild dem Jakobspilger schwarz auf weiß und mitleidlos die verbleibende Distanz von 790 Kilometern nach Santiago de Compostela verkündet, erbarmt sich einige Meter weiter auf der gegenüberliegenden Seite im Dunkel des dichten, überhängenden Buchenastwerks ein etwa 700 Jahre altes, steinernes Pilgerkreuz seiner entmutigten Seele.
Das Lilienkreuz hat sich mitsamt der Last der Gebete der vorbeiziehenden Pilger sorgsam in einen wärmenden Mantel aus Flechten und weichem Moos eingehüllt. Es spielt keine Rolle, dass der grob behauene Stein kein filigranes Meisterwerk der Gotik ist, denn er hat Charme. Und es spielt auch keine Rolle, dass man heute nicht mehr erkennen kann, ob es sich bei dem Bildnis unter den Kreuzungsarmen um Maria mit Kind oder einen Leier spielenden König handelt. Gläubige finden Trost im Gedenken an die Mutter Gottes, Romantiker erfreuen sich an der heile-Welt-Figur eines mittelalterlichen Monarchen.
Auritz-Burguete
Seit Hemingways Romanveröffentlichung „Fiesta“ hat das Hostal Burguete im gleichnamigen Ort Kultstatus. Der amerikanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger war regelmäßig Stammgast in dem kleinen Dorf am Jakobsweg, um in der Abgeschiedenheit der Pyrenäen seiner Angelleidenschaft nachzugehen.
Anregungen für Erkundungslustige
Puerto de Ibañeta
Der über 1000 Meter hohe Puerto de Ibañeta ist ein geschichts- und legendenträchtiger Pyrenäenpass. Vor über 1200 Jahren Schauplatz des berühmten Rolandlieds, stellt er heute viele Jakobspilger bereits auf der ersten Etappe des Camino Francés vor eine enorme physische Herausforderung bevor im Tal Roncesvalles wartet.
Luzaide-Valcarlos
Nördlich der Puerto de Ibañeta erwacht Luzaide-Valcarlos, das durch das Rolandslied berühmte Pyrenäendorf am Jakobsweg, zweimal im Jahr aus seinem Dornröschenschlaf. In einem farbenfrohen Spektakel zelebrieren die Bolantes einen ganzen Tag lang die ältesten Tänze Navarras.
Ein Muss für Leckermäuler
Chocolate artesano Roncesvalles
Augen auf für die Liebhaber der Kakaobohne. Mit dem Konterfei der Stiftskirche von Roncesvalles verführen die 125 Gramm Tafeln des Familienunternehmens Subiza in der fünften Generation ihre Anhänger. Neben dem hohen Kakaoanteil besticht die nicht industriell gefertigte Süßigkeit mit einer Auswahl an besonderen Geschmacksrichtungen: Honig, Minze, Orange, Rumrosinen und Olivenöl. Probiert habe ich sie alle, bereut nur, mir keinen Jahresvorrat zugelegt zu haben.