Blick über ein Schilfrohrfeld auf die Kirchenburg von Klosdorf / Cloaşterf in Siebenbuergen
Rumänien,  Unterwegs

Klosdorf / Cloaşterf – das Dorf des Nikolaus und seine Kirchenburg


Einst, als das Haferland noch Hafer-Land war, machten sich im Frühjahr die unverheirateten Mädchen am Sonntag nach dem Kirchgang in die benachbarten Weinberge auf. Denn dort, so versprach eine Überlieferung, konnten sie ihrem Glück ein wenig auf die Sprünge helfen. Diejenige Maid, die als erste an einem Rebstock zwei Blätter an einem sich gabelnden Zweig entdeckte, durfte diesen abtrennen, und an ihre Haube stecken. Zurück auf dem Weg ins Dorf sollte sie den ersten jungen Mann, dem sie begegnete, küssen. Dieser vom Schicksal auserkorene Jüngling wäre ihr Traumprinz und zukünftiger Ehemann.

Das Leben kann so unkompliziert sein, denke ich, als ich das erste Mal diese Geschichte höre. Spontan beschließe ich einen Abstecher nach Klosdorf (rum. Cloaşterf) einzulegen, wo nicht nur diese nette Anekdote, sondern auch der Nikolaus beheimatet ist.

Siebenbuergische Landschaft in der Naehe von Klosdorf / Cloaşterf

Die kleine, ehemals sächsische Gemeinde, liegt im Kreis Mureş. Nur zwei Kilometer von der Verbindungsstraße Braşov – Sighişoara entfernt. Bei Gründung im 13. Jahrhundert hatte sie sich den Heiligen Nikolaus zu ihrem Schutzpatron erkoren. Aus dem sächsischen Kluisderf wurde im Laufe der Jahrhunderte wahrscheinlich Klausdorf, um schließlich als heutiges Klosdorf ein gemächliches 150-Seelen-Dasein zwischen bewaldeten Hügeln, verstreut liegenden Maisfeldern und sich sanft im Wind wiegenden Schilfrohrbeständen zu führen.

Ein pflichtbewusster Schlüsselherr

Als ich an diesem Dienstagvormittag vor der verschlossenen Türe der Kirchenburg stehe und die angeschlagene Handynummer wähle, meldet sich auf Anhieb Herr Chercheş, der Hüter der Kirchenburg.

„Sunt la câmp, la cucuruz. Mai trebuie să-asteptaţi puţin. În zece minute s-acolo.“ Kein Problem, eine Wartezeit von 10 Minuten nehme ich gerne in Kauf, denn Aurel Chercheş ist gerade auf dem Feld bei der Maisernte. Dennoch erklärt er sich sofort bereit, die Arbeit stehen und liegen und seine aus der nächsten Ortschaft herangekarrten Erntehelfer ohne Aufsicht zu lassen, um einer neugierigen Touristin das Dorfjuwel zu präsentieren.

Der Herr der Schlüssel ist überaus auskunftsfreudig. Ich erfahre, dass heute nur noch ein über 80-jähriger Siebenbürger Sachse in Klosdorf lebt. Gottesdienste oder ein evangelisches Gemeindeleben gibt es schon lange nicht mehr. Nur einmal im Jahr, anlässlich der Haferland Kulturwoche, kehrt vorübergehend ein wenig sächsisches Leben zurück in die Kirchenburg. Ansonsten interessieren sich nur Touristen oder heiratsfreudige, evangelische Paare aus dem nahe gelegenen Schäßburg für das gut instand gehaltene Kulturerbe.

Natürlich stelle ich mir und Herrn Chercheş, einem waschechten Rumänen, die Frage, welchen Bezug er zur Kirchenburg habe. Er erzählt mir, dass er eigentlich aus Bistriţa, im Nordosten Siebenbürgens, stammt und früher als Lastwagenfahrer unterwegs war. Ein sächsischer Kollege schwärmte ihm permanent von seinem Heimatort im Haferland vor. Also der Gegend zwischen Rupea und Schäßburg. Und da man sich auf das Wort des Sachsen 100 Prozent verlassen konnte, ließ sich der einstige Lastkraftwagenfahrer zusammen mit seiner Frau Elena in Cloaşterf nieder. Hier geht er jetzt als Landwirt einem weniger lebensgefährlichen Beruf nach.

Die kleine Ortschaft wuchs den Beiden ans Herz. Als vor einigen Jahren ein Nachfolger für die Pflege der Kirchenburg gesucht wurde, war es für das Ehepaar Chercheş deshalb selbstverständlich, diese Aufgabe zuverlässig und gewissenhaft zu übernehmen.

Das Dorf des Nikolaus und seine Wehrkirche

Die Ansiedlung unter dem Schutz des Heiligen Nikolaus fand erstmals im Jahre 1267 als Bastion gegen die eindringenden Tataren Erwähnung. Ein weiteres Dokument belegt, dass sich die Ortschaft 1322 im Besitz des Zisterzienser-Klosters Kerz (Cârţa) befand und damals bereits eine gotische Kirche existierte. Danach weist die Klosdorfer Geschichtsschreibung eine 200-jährige Lücke auf. Erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren tief greifende Neuigkeiten zu vermelden.

Die Türken und Tataren stellten nach wie vor eine Bedrohung für das fruchtbare und aufblühende Gebiet vor dem Karpatenbogen dar. Deswegen beschloss die kleine Gemeinde den Bau einer Glaubensfestung. Als Präventivmaßnahme sozusagen. Für den Fall der Fälle konnten sie hier geistlichen und physischen Schutz suchen.

Kirchenburg mit freistehendem Glockenturm in Klosdorf / Cloaşterf in Siebenbuergen

Da das Konzept eines Gotteshauses mit defensivem Verteidigungscharakter bereits bei Baubeginn 1521 feststand, wurde die Wehrkirche samt Befestigungsring im erstaunlichen Zeitraum von nur drei Jahren hochgezogen. Für die  Vollendung des protestantischen Bollwerks sorgte 1524 Stefan Ungar, seines Zeichens Baumeister aus Schäßburg, der sich mit einer entsprechend lautenden Inschrift hinter der Orgel im Chorraum verewigt hat.

Möglicherweise gelang der Bau auch deshalb so zügig, weil Stefan Ungar ein erprobter Kirchenburg-Architekt war. Dies erklärt auch, warum ich beim Anblick des Klosdorfer Gotteshauses ein „déjà-vue“ habe. Keine zehn Kilometer entfernt, in Keisd (rum. Saschiz), steht nämlich eine größere Ausgabe dieses Kirchenburg-Exemplars. Mit ebenfalls umlaufendem Wehrgeschoss über Kirchenschiff und Chor, sowie den auffälligen Strebepfeilern.

Die unterschätzte Gefahr

Befestigter Chor der Kirchenburg von Klosdorf / Cloaşterf in Siebenbuergen

Belagert oder gar erobert wurde das kleine Dorf abseits der heutigen E60 nie. Bereits aus der Ferne ernüchterte die wehrhafte und uneinnehmbare Silhouette der Kirchenburg jeden Feind. Hätten die türkischen Invasoren, wider Erwarten, den einfachen und relativ niedrigen Befestigungsring mit seinen vier Ecktürmen überwunden, wären sie zweifellos an dem Fallgitter vor dem Westportal gescheitert. Während die solide Bauweise einen sicheren Schutz gegen die zu dieser Zeit gebräuchlichen Feuerwaffen garantierte, konnten die Invasoren gezielt, über die auf dem Wehrgang verteilten Schießscharten, in die Flucht geschlagen werden.

Auch für einen längeren Belagerungszustand war die Dorfbevölkerung gewappnet. Neben dem berühmten Speckturm stellte ein Brotbackofen als auch ein Brunnen mit ausreichendem Trinkwasser die entsprechende Grundversorgung sicher.

Innenansicht der Kirchenburg von Klosdorf / Cloaşterf in Siebenbuergen

Was feindliche Truppen über Jahre nicht schafften, vermochte allerdings die Naturgewalt an einem Tag. Das heftige Erdbeben von 1802 brachte die Klosdorfer Kirche zum Einsturz. Glücklicherweise war die evangelische Gemeinde damals noch zahlreich und aktiv. Zusammen mit Gottes Hilfe, so steht es zumindest im Bogen über dem Zugang zum Chorraum geschrieben, begannen bereits im darauffolgenden Jahr die Wiederaufbau-Arbeiten.

Wenig später ersetzte man den Verteidigungsturm im Südwesten durch den heutigen Glockenturm und schloss daran die Wohnung der Burghüters an. Ansonsten wurden keine weiteren baulichen Veränderungen vorgenommen, so dass die Kirchenburg ihr Aussehen aus dem 16. Jahrhundert weitgehend konservieren konnte.

Außen wehrhaft, innen klein und fein

Als ich das Kirchengebäude durch das Westtor betrete, bin ich überrascht über die unterschiedliche Wahrnehmung zwischen dem massiven, trutzigen Äußeren und dem beinahe heimelig wirkenden Inneren.

Innenansicht der Kirchenburg von Klosdorf / Cloaşterf in Siebenbuergen

Die Klosdorfer Kirche ist eine eher kleine, eine ländliche Kirche. Schlicht, wie alle evangelischen Gotteshäuser. Dennoch lohnt sich der Abstecher ins Nikolausdorf, auch wenn der katholische Schutzpatron des Weilers hier längst von Petrus und Paulus abgelöst wurde, die ihre Posten links und rechts auf den Flügeln des ungewöhnlichen Orgelaltars bezogen haben.

Auf den wenigen Quadratmetern gibt es wahre Schätze zu entdecken, zumal sich das Kircheninnere wie eine aufgeblätterte Chronik liest. Fast auf jedem Einrichtungsstück findet sich eine Jahreszahl als Beleg seiner Entstehungszeit. Angefangen beim bunt bemalten Chorgestühl, über das von goldenen Zweigen umrankte Orgelwerk mitsamt der blumigen Orgelempore, bis zum massiven Holzschrank vor der ehemaligen Sakristei, der als Kirchenarchiv diente. Sogar das steinerne Sakramentshäuschen mit dem Viehbrandzeichen der Gemeinde an der Nordseite des Chorraumes sowie der Läufer, der sich vom Eingang bis zum Altar hin ausrollt, sind datiert.

Diese beinahe minutiöse Dokumentation erinnert an ein verzweifeltes, wenn nicht gar besessenes Bemühen, der Nachwelt ein greifbares kultur- und kunstgeschichtliches Erbe zu hinterlassen. So, als ob sich ganz tief in der Klosdorfer Sachsenseele schon eine vage, dunkle Vorahnung zusammenbraute, einer in dieser Region „aussterbenden Spezies“ anzugehören. Doch noch waren die Zeiten des erzwungenen oder des freiwilligen Exodus weit entfernt. Zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert gehörten die Sachsen zu Siebenbürgen wie die Braunbären in die Karpatenwälder. 

Phantasievolle Bauernmalerei

Auf meiner Rundreise durch Siebenbürgen haben viele Sachsenkirchen bei mir ein Gefühl der Tristesse hinterlassen. Dies lag sehr häufig an ihrem bedauernswerten baulichen Zustand, teilweise aber auch an ihrer nüchtern-sterilen Innenausstattung. Die Kirche in Klosdorf ist dagegen ein Ausbund an Fröhlichkeit. Dafür sorgen die reichlich vorhandenen Bauernmalereien, mit denen die dreiseitig umlaufende Holzempore sowie die Decke im Eingangsbereich geschmückt sind. Vorherrschend sind florale Motive in allen nur erdenklichen Formen und Ausgestaltungen. Von warmen Rot-, über kräftige Orange-, bleiche Ocker- und satte Brauntöne sind dabei alle Nuancen des siebenbürgischen Erdfarbkastens vertreten.

Taufbecken der Kirchenburg von Klosdorf / Cloaşterf in Siebenbuergen

Auf der nördlichen Empore stechen zwischen den blumigen Holzpaneelen-Arrangements zwei außergewöhnliche Fantasie-Darstellungen hervor. Inmitten einer friedvollen, ländlichen Idylle, thronen die beiden Kirchenburgen als wunderschöne Glaubensfestungen. Kein schlechter Vorgeschmack auf die Herrlichkeit des Himmelreichs.

Auch das steinerne, polychrome Taufbecken, das einzige Relikt aus der einstigen gotischen Vorgängerkirche, verbreitet beim Betrachten unwillkürlich gute Laune. 1788 bekam es, in Form eines Lesepults, das fröhliche Engelsgesicht mit dem Spruch aus Lukas 18,16 aufgesetzt.

Leider haben nicht alle Malereien dem Zahn der Zeit stand gehalten. Bei vielen ist die Farbe verblichen, manchmal schon bis zur Unkenntlichkeit. „Hier zeitlich, dort ewig“, besagt ein Spruch auf der rechten Galerie. Wieviel Wahrheit doch in nur vier Worten stecken kann.

Ein wahres Bio-Schnäppchen…

Ein Glas selbstgemachter Bluetenhonig aus Siebenbuergen

Zum Abschluss drehe ich noch eine Runde um die Wehrkirche, bewundere ein weiteres Mal deren massive Gestalt, werfe einen Blick in die immer noch standhaften, gedrungenen Ecktürme, bevor ich mich von Herrn Chercheş verabschiede, der schon am Ausgang auf mich wartet. Nicht ganz uneigennützig macht er mich dabei auf das standardmäßige Ehegefängnis aufmerksam (mehr dazu in meinem Blogbeitrag über die Kirchenburg in Birthälm / Biertan), neben dem unübersehbar ein Plastikkorb voller Honiggläser steht. Ob ich probieren möchte, kommt auch schon die unausweichliche Frage. Eine rein rhetorische Frage, die keine negative Antwort zulässt. Und ohne dass ich weiß wie mir geschieht, halte ich auch schon den Probierlöffel in der Hand.
Der Honig schmeckt köstlich und ist selbstverständlich selbst gemacht. 23 Lei (großzügig umgerechnet und aufgerundet in etwa fünf Euro) für ein Kilogramm reinsten Blütenhonigs inklusive Schraubdeckelglas steht auf dem handgeschriebenen Preisschild. Da gibt es nun wirklich nicht viel zu überlegen.

Da der ehrenamtliche Kirchenburghüter, saisonale Maisbauer und passionierte Imker kein Wechselgeld bei sich hat, und ich nur einen 100 Lei-Schein in der Tasche, werden aus dem einen Glas kurzerhand vier Gläser. Gott sei Dank ist Honig nicht leicht verderblich.

Für Aurel Chercheş ist es an der Zeit, zurück zu seinen Hilfsarbeitern aufs Feld zu fahren und ihnen auf die Finger zu schauen. Er kennt seine Pappenheimer nur zu gut. Kaum ist der Chef weg, ziehen sich die Zigarettenpausen ins Unermessliche. Die mangelnde Arbeitsmotivation der verfügbaren Arbeitskräfte scheint ein universelles Problem zu sein. Doch bevor Herr Chercheş die Tür zur Kirchenburg wider sorgfältig verschließt, muss er augenzwinkernd noch ein gut gehütetes Geheimnis loswerden.

… und eine fragwürdige Legende zum Abschied 

Unweit des Dorfes, auf einem benachbarten Hügel, stand einst die Affenburg. In ihrer Ruine soll seit Jahrhunderten ein wertvoller Schatz versteckt sein. Doch niemandem ist es bisher gelungen, die Reichtümer zu bergen, denn ein schmiedeeisernes Tor, das nur von Zeit zu Zeit sichtbar wird, versperrt den Zugang. Sollte das Tor tatsächlich wie von Zauberhand aus dem Erdboden erscheinen, kann es nur mit Hilfe einer Springwurz geöffnet werden. Hierfür bedarf es allerdings eines Spechts, denn nur dieser vermag besagten Wurzelstock zu finden.

Ganz schön viele Unwägbarkeiten, Eventualitäten und Konjunktive, als dass mich eine Schatzsuche locken könnte. Obwohl in der Umgebung tatsächlich schon eine Goldmünze aus der Zeit Alexander des Großen gefunden wurde. Mir ist dann doch der Spatz in der Hand lieber, als die Taube auf dem Dach. Deshalb ziehe ich äußerst zufrieden mit meinem flüssigen Gold unter dem Arm weiter.

Blick über ein Schilfrohrfeld auf die Kirchenburg von Klosdorf / Cloaşterf in Siebenbuergen

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